L 9 AS 371/19 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AS 419/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 371/19 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 1. Februar 2019 aufgehoben und der Antragsgegner verpflichtet, vorläufig die mit Bescheid vom 19.12.2018 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 14. Januar 2019, 15. Januar 2019 und 17. Januar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2019 bewilligten Darlehen für die Monate Februar bis Juni 2019, längstens jedoch bis zur Bestandskraft dieser Bescheide, auszubezahlen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren L 9 AS 371/19 ER-B Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung und unter Beiordnung von Rechtsanwältin J., O., bewilligt.

Gründe:

Die Beschwerde ist statthaft gemäß § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG), form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 173 SGG) und auch sonst zulässig. Der Beschwerdewert des § 172 Abs. 3 Nr. 1 i. V. m. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG von 750,00 EUR ist in Ansehung des Leistungszeitraums überschritten.

Der Senat legt den Antrag der Antragstellerin unter Berücksichtigung der vorliegenden Schrift-sätze dahingehend aus, dass die Antragstellerin das Ziel verfolgt, die zuletzt mit Bescheid vom 17.01.2019 (in Abänderung des Bescheides vom 15.01.2019 und 19.12.2018) als Darlehen bewilligten Leistungen unabhängig von der geforderten Sicherheitsleistung ausbezahlt zu bekommen. Über die Höhe der Leistungen war im Widerspruchsverfahren gestritten worden, ohne dass für das angestrengte Eilverfahren ersichtlich wird, dass hier noch Ansprüche offengeblieben sind. Ob mit der beim SG anhängigen Hauptsache weitergehende Ansprüche geltend gemacht werden, ist für das vorliegende Verfahren nicht streitentscheidend. Der Antragstellerin steht ein Anspruch auf Auszahlung des bewilligten Darlehens zu.

Dabei ist für den Senat zunächst hinreichend dargelegt, dass die Antragstellerin die Voraussetzungen für Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erfüllt. Dies wird auch vom Antragsgegner nicht in Zweifel gezogen, der der Antragstellerin bereits seit 01.04.2018 Leistungen bewilligt.

§ 24 Abs. 5 SGB II bestimmt, dass Leistungen als Darlehen zu erbringen sind, soweit Leistungsberechtigten der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung von zu berücksichtigendem Vermögen nicht möglich ist oder für sie eine besondere Härte bedeuten würde. Die Leistungen können davon abhängig gemacht werden, dass der Anspruch auf Rückzahlung dinglich oder in anderer Weise gesichert wird.

Die Sicherung des Anspruches auf Rückzahlung setzt daher schon eine – rechtmäßige – Darlehensgewährung voraus. Voraussetzung für die Darlehensgewährung nach § 24 Abs. 5 Satz 1 SGB II ist zunächst, dass zu berücksichtigendes Vermögen i. S. v. § 12 SGB II tatsächlich vorhanden ist. Sodann ist – auf der zweiten Stufe – zu prüfen, ob der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung dieses zu berücksichtigenden Vermögens nicht möglich ist oder eine besondere Härte bedeuten würde. Vermögen ist verwertbar, wenn seine Gegenstände verbraucht, übertragen und belastet werden können. Die Ausschlussgründe des sofortigen Verbrauchs oder der sofortigen Verwertung können tatsächlicher und rechtlicher Natur sein (vgl. BT-Drs. 15/1516, 53). Tatsächlich nicht verwertbar sind Vermögensgegenstände, für die in absehbarer Zeit kein Käufer zu finden sein wird. Maßgebend für die Prognose, dass ein tatsächliches oder rechtliches Verwertungshindernis wegfällt, ist nach der Rechtsprechung des BSG regelmäßig der Bewilligungszeitraum. Nach Ablauf des jeweiligen Bewilligungszeitraumes ist bei fortlaufendem Leistungsbezug erneut und ohne Bindung an die vorangegangene Einschätzung zu überprüfen, wie für einen weiteren Bewilligungszeitraum die Verwertungsmöglichkeiten zu beurteilen sind. Eine generelle Unverwertbarkeit liegt dagegen vor, wenn völlig ungewiss ist, wann eine für die Verwertbarkeit notwendige Bedingung eintritt; dann besteht ein Anspruch darauf, die Leistungen als Zuschuss (statt als Darlehen) zu erhalten (vgl. Eicher/Luik/Blüggel, 4. Aufl. 2017, SGB II, § 24 Rn. 142 ff., m. w. N.).

Unter Berücksichtigung dessen bestehen schon erhebliche Zweifel, ob die nur darlehensweise erfolgte Bewilligung im angefochtenen Bescheid rechtmäßig ist. Die notwendigen Feststellungen lassen sich den Bescheiden nicht entnehmen, vielmehr wird noch im Widerspruchsbescheid vom 21.01.2019 ausgeführt, dass nicht abschließend beurteilt werden kann, ob es sich um geschütztes Vermögen im Sinne des § 12 Abs. 3 SGB II handelt, weil der Wert des Grundstücks noch nicht ermittelt werden konnte. Ferner liegen keinerlei Auskünfte zum Wert des Grundstücks – auf den der Antragsgegner abstellt – vor. Dabei verkennt der Antragsgegner, dass es nicht auf den Wert des Grundstücks (allein) ankommt, sondern auf den Wert des Nachlasses insgesamt, insbesondere auch auf die Aktiva und Passiva, die mit ihm verbunden sind und letztendlich auf den Wert des Erbanteils der Antragstellerin, zu dem wohl ebenfalls noch keine Aussage getroffen werden kann, also auch nicht zum Umfang des den Freibetrag übersteigenden Teils. Dass hier tatsächlich ein zu berücksichtigender Vermögenswert vorliegt, ist rein spekulativ und durch nichts belegt. Ferner fehlen Ausführungen dazu, ob und ggf. weshalb der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung dieses zu berücksichtigenden Vermögens nicht möglich ist oder eine besondere Härte bedeuten würde. Schließlich fehlt zumindest im Widerspruchsbescheid nach den Ausführungen der Antragstellerin im Widerspruchsverfahren eine Prüfung, ob eine generelle Unverwertbarkeit vorliegt, nachdem die Erbauseinandersetzung zu einem Rechtsstreit geführt hat, deren Dauer und Verlauf noch nicht absehbar sein dürfte (vgl. hierzu Anmerkung in BSG, Urteil vom 27.01.2009 – B 14 AS 42/07 R –, NZS 2010, 53). Denn nach der Rechtsprechung besteht dann, wenn völlig ungewiss ist, wann eine Verwertbarkeit überhaupt eintritt (BSG, Urteile vom 06.12.2007 – B 14/7b AS 46/06 R –, NZS 2008, 661; vom 27.01.2009 – B 14 AS 42/07 R –, NZS 2010, 53; für das SGB XII vom 25.8.2011 – B 8 SO 19/10 R –, BeckRS 2011, 79124) ein Anspruch darauf, die Leistungen als Zuschuss (statt als Darlehen) zu erhalten. Maßgebend für die Prognose, dass ein tatsächliches oder rechtliches Verwertungshindernis wegfällt, ist nach der Rechtsprechung des BSG regelmäßig der Bewilligungszeitraum, also hier der Zeitraum bis Juni 2019.

Der Senat kann dies letztlich dahingestellt sein lassen und diese Fragen der Klärung im Hauptsacheverfahren überlassen, da der Antragsgegner sein Ermessen hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Sicherung nicht ordnungsgemäß ausgeübt hat. Ferner hätte er berücksichtigen müssen, ob der Antragstellerin die Bestellung der Sicherung rechtzeitig vor Auszahlung der Leistungen vor Februar möglich gewesen ist.

Ob eine Behörde das Ermessen zutreffend ausgeübt hat, unterliegt im gerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt der Überprüfung. Eine Ermessensentscheidung ist als solche nur rechtswidrig und auf Anfechtung hin nur dann aufzuheben, wenn der Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung fehlerfreien Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB I]) verletzt ist (siehe auch § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das Gericht darf nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen, sondern nur prüfen, ob ein Ermessensfehler vorliegt. Ermessensfehlerhaft ist es, wenn die Behörde ihrer Pflicht zur Ermessensbetätigung überhaupt nicht nachgekommen ist (sog. Ermessensnichtgebrauch) oder wenn ihr bei Ausübung des Ermessens Rechtsfehler unterlaufen sind (sog. Ermessensfehlgebrauch). Das Gericht hat also zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei Ermessensentscheidungen muss auch die zur Entscheidung über den Widerspruch berufene Stelle (vgl. § 85 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGG) Ermessen ausüben (BSG, Urteil vom 11.02.2015 – B 13 R 15/13 R –, juris). Das entspricht der Funktion des Vorverfahrens (Widerspruchsverfahrens), nicht nur – wie im gerichtlichen Verfahren – die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit der getroffenen Entscheidung nachzuprüfen (§ 78 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Widerspruchsstelle darf deshalb – anders als nachfolgend das Gericht – ihr eigenes (ggf. abweichendes) Ermessen an die Stelle des Ermessens der Ausgangsbehörde setzen. Damit korrespondiert, dass auch die Widerspruchsstelle in dem von ihr erlassenen Widerspruchsbescheid Ermessensgründe erkennen lassen muss. Nähere Vorgaben dafür, in welcher Weise die Widerspruchsstelle ihre Ermessenserwägungen zum Ausdruck zu bringen hat, bestehen jedoch nicht. § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG bestimmt lediglich, dass der Widerspruchsbescheid schriftlich zu erlassen und zu begründen ist; für die Begründung von Ermessensentscheidungen gilt ergänzend § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X (vgl. § 62 SGB X). Es ist daher eine Frage des Einzelfalls, ob die Widerspruchsbehörde die Erwägungen der Ausgangsbehörde ausdrücklich verwirft und durch eigene ersetzt oder diese durch eigene Überlegungen ergänzt, nur verdeutlicht oder aber ohne jeden Vorbehalt bestätigt.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt zunächst eine Ermessensunterschreitung bzw. ein Ermessensmangel vor. Der Bescheid vom 19.12.2018 enthält zwar Ermessenserwägungen, diese sind aber unzureichend, weil sie nur aus formelhaften Wendungen bestehen und relevante Ermessensgesichtspunkte nicht berücksichtigen. Ein Ermessensausfall liegt vor, weil der Antragsgegner den Sachverhalt bislang nicht geklärt hat und seine im Bescheid vom 19.12.2018 enthaltenen Ermessenserwägungen deshalb schon formelhaft bleiben. So ist bei ungeklärter Höhe des Bedarfes, also der Höhe des zu erbringenden Darlehens aufgrund einer fehlenden Prognose der Verwertbarkeit und der Höhe der zu erreichenden Sicherung, schon nicht nachvollziehbar, in welchem konkreten Zusammenhang die genannte "sparsame Mittelbewirtschaftung" mit dem Sicherungsbedürfnis (nicht: Darlehensgewährung) steht. Auch der angeführte Gleichheitsgrundsatz ist bei einem weitgehend ungeklärten Sachverhalt über eine formelhafte Wiedergabe des Schlagwortes hinaus wenig ergiebig für eine recht- und zweckmäßige Entscheidung, zumal auch die herangezogene Zumutbarkeit nicht an konkreten Umständen der Antragstellerin gemessen wurde. Umstände, die hierbei zu berücksichtigen gewesen wären, sind im Widerspruchsverfahren vorgetragen worden, ohne dass diese in den Änderungsbescheiden oder im Widerspruchsbescheid gewürdigt worden sind.

Nach den fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 24 SGB II sind Abwägungsgesichtspunkte insbesondere die Höhe des Darlehens, die zur Verfügung stehenden Sicherungsmittel, der zu erwartende Erlös bei einer späteren Verwertung der Sicherungsmittel, die Auswirkungen für die Darlehensnehmer und der damit verbundene Verwaltungsaufwand. Eine Würdigung dieser Umstände findet sich in den vorliegenden Bescheiden nicht. Schließlich dürfte zu berücksichtigen sein, dass der Antragsgegner mit seinem Bescheid vom 19.12.2018 und dem Schreiben vom 19.12.2018 ausdrücklich die Auszahlung des Darlehens von der Eintragung einer Sicherungshypothek abhängig gemacht hat. Nur hierzu hat der Antragsgegner die Antragstellerin aufgefordert und belehrt. Die ersatzweise freihändige Verpfändung wird lediglich im Bescheid erwähnt, in dem erläuternden Schreiben vom 19.12.2018 aber nicht mehr aufgeführt. Vielmehr wird dort ausdrücklich die Gewährung des Darlehens von der Eintragung einer Sicherungshypothek abhängig gemacht wird. Obwohl die Antragstellerin im Widerspruchs- und im erstinstanzlichen Rechtsschutzverfahren die tatsächliche Unmöglichkeit der Eintragung einer Sicherungshypothek geltend gemacht hat, wurde erstmals im Widerspruchsbescheid vom 21.01.2019 (ausschließlich) nunmehr die freihändige Verpfändung als Sicherungsinstrument genannt. Eine solche freihändige Verpfändung dürfte der Antragstellerin aber kaum innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides möglich gewesen sein, wenn man berücksichtigt, dass die Antragstellerin hierzu – wie es der Antragsgegner dargelegt hat – zunächst Kontakt zu einem Notar unter Vorlage des Erbvertrages aufnehmen muss, dann der Entwurf einer Erbteilverpfändung dem Antragsgegner vorzulegen hat, dann ein Termin zur öffentlichen Beurkundung zu vereinbaren ist und (erst) nach dem Notartermin eine Auszahlung der Leistungen erfolgen soll. Der Senat hält dies in der verbliebenen Zeit nicht für möglich, weshalb die erforderliche Ermessensausübung im Widerspruchsbescheid dies unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung des Existenzminimums hätte berücksichtigen müssen.

Aufgrund der vorliegenden Ermessensfehler war hier unter Abwägung der glaubhaften und durch die Vorlage der Unterlagen im Antrag auf Prozesskostenhilfe belegten Notlage der Antragsgegner zu verpflichten, vorläufig die bereits als Darlegen bewilligten Leistungen auszubezahlen. Angesichts der hierbei im Raum stehenden Leistungen bis maximal 500,90 EUR/Monat sieht der Senat die Sicherungsinteressen des Antragsgegners nicht wesentlich beeinträchtigt, zumal er bis zum Ablauf des derzeitigen Bewilligungsabschnitts durch Klärung des Sachverhalts sein Sicherungsverlangen für nachfolgende Zeiträume wiederholen kann.

Der bedürftigen Antragstellerin war daher auch Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Rechtsanwältin ohne Ratenzahlungsanordnung zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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