L 3 AS 2187/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 AS 4760/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 2187/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ermittlung des Begehrens (und damit Wert des Beschwerdegegenstandes) bei Streit um Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Regelbedarfes anhand der Expertise des „Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V."
2. Die Berufungsbeschränkung ist verfassungsgemäß.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. Mai 2016 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Im Übrigen verbleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Höhe des Regelsatzes im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Beklagte bewilligte für den 1961 geborenen Kläger mit Bescheid vom 31.05.2013 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.05.2013 bis zum 31.10.2013 als Darlehen. Diese setzten sich zusammen aus dem Regelbedarf in Höhe von 382,00 EUR monatlich sowie Bedarfen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 430,00 EUR monatlich. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.07.2013 zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass die Höhe des Regelbedarfs entgegen der Auffassung des Klägers verfassungskonform sei und verwies insoweit auch auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12.07.2012 - B 14 AS 153/11 R -; die Verfassungsbeschwerde sei nicht zur Entscheidung angenommen worden (Bundesverfassungsgericht [BVerfG] 1. Senat 3. Kammer vom 20.11.2012 - 1 BvR 2203/12).

Hiergegen hat der Kläger am 19.08.2013 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und bekräftigt, dass die Regelleistung insgesamt - sowohl die Höhe als auch die Prüf- und Anpassungspraxis - rechtswidrig bzw. verfassungswidrig sei. Mit Schriftsatz vom 19.05.2015 hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass er dem Kläger unter Abänderung des Bescheids vom 31.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.07.2013 für den Zeitraum vom 01.05.2013 bis 31.10.2013 die bisher als Darlehen gewährten Leistungen als Zuschuss gewährt. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis nicht angenommen.

Das SG hat mit Urteil vom 09.05.2016 den Beklagten gemäß dem Teilanerkenntnis vom 19.05.2015 verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheids vom 31.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.07.2013 die ihm für den Zeitraum vom 01.05.2013 bis zum 31.10.2013 bisher als Darlehen gewährten Leistungen als Zuschuss zu gewähren und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG und des BVerfG die Höhe des gesetzlich vorgesehenen Regelbedarfs für Alleinstehende seit 2011 nicht verfassungswidrig sei.

Gegen das dem Kläger am 12.05.2016 zugestellte Urteil richtet sich die am 13.06.2016 zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhobene Berufung.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. Mai 2016 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 31. Mai 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Juli 2013 zu verurteilen, ihm die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Zeitraum vom 1. Mai 2013 bis zum 31. Oktober 2013 unter Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 464,00 EUR monatlich zu gewähren.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Mit Schreiben vom 15.12.2016 ist der Kläger zur Bezifferung des Beschwerdegegenstandes und damit zur Prüfung der Zulässigkeit der Berufung um Mitteilung gebeten worden, welche Höhe die monatlichen Leistungen im streitgegenständlichen Zeitraum nach seiner Auffassung haben müssten.

Der Kläger hat hierzu unter anderem vorgetragen, dass die Zulassungsbeschränkung des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG in der seit 2008 geltenden Fassung verfassungswidrig und somit nicht anzuwenden sei. Außerdem hat er auf den Amtsermittlungsgrundsatz hingewiesen.

Mit Schreiben vom 22.02.2017, dem Kläger zugestellt am 24.02.2017, ist dem Kläger erneut Gelegenheit gegeben worden, eine Bezifferung bis spätestens 22.03.2017 nachzuholen. Dem Kläger ist mitgeteilt worden, dass - sollte bis zu diesem Zeitpunkt keine Bezifferung des Streitgegenstandes erfolgt sein - der Senat gezwungen ist, den Wert zu ermitteln, wobei eine überschlägige Berechnung ausreichen kann. Der Senat hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies dazu führen kann, dass die Berufungssumme von 750,00 EUR nicht erreicht wird und die Berufung in diesem Fall als unzulässig zu verwerfen wäre. Zudem ist der Kläger auf die Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss hingewiesen worden, was aufgrund des Sach- und Streitstandes beabsichtigt sei. Dem Kläger ist Gelegenheit zur Stellungnahme bis 22.03.2017 gegeben worden.

Der Kläger hat sodann erneut eine Anwendung der Vorschrift des § 144 Abs. 1 SGG gerügt. Im Hinblick auf das in Rede stehende Existenzminimum habe das Berufungsgericht die Zulässigkeit zum Beispiel gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG und/oder gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG von Amts wegen zu bejahen. Nach den umfassenden Erkenntnissen der im Bereich des Arbeitslosengeldes II erfahrenen Wohlfahrtsliga (Zusammenschluss der kirchlichen Sozialverbände) unterdecke der Regelsatz bereits seit mehreren Jahren das notwendige Existenzminimum um mindestens 60 EUR/Monat. Die Gewerkschaft ver.di, welche sich ebenfalls mit einer umfassend kundigen Arbeitsgruppe um die Beobachtung der Absicherung des Existenzminimums kümmere, habe bereits vor ein bis zwei Jahren errechnet, dass zum Beispiel der "Inflationsausgleich", den die bisherigen Steigerungsraten des Arbeitslosengeldes II ausgleichen sollten, in der Zeit zwischen der Einführung desselben und 2015/2016 bereits um ca. 25 % hinter der in diesem Zeitraum akkumulierten Inflation zurückgeblieben sei.

Mit Schreiben vom 19.04.2018 ist der Kläger unter Bezugnahme auf das Schreiben des Gerichts vom 22.02.2017 darauf hingewiesen worden, dass weiterhin beabsichtigt sei, durch Beschluss zu entscheiden.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vom Beklagten vorgelegten Leistungsakten Bezug genommen.

II.

Die Berufung des Klägers ist nicht statthaft und daher gemäß § 158 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig zu verwerfen.

Der Senat macht von dem ihm in § 158 Satz 2 SGG eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, dass die Entscheidung vorliegend durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung ergeht. Der Kläger ist hierzu angehört worden. Der Berufungskläger ist vor einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG darauf hinzuweisen, dass die Berufung unzulässig sein könnte, aus welchem Grund dies der Fall und dass eine Entscheidung durch Beschluss beabsichtigt ist, um ihm Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu zu geben (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 158 Rn. 8 m.w.N.). Dies ist vorliegend bereits mit dem Schreiben des Gerichts vom 22.02.2017 erfolgt. Insbesondere ist darin darauf hingewiesen worden, dass eine weiterhin unterbleibende konkrete Bezifferung dazu führen kann, dass die Berufungssumme von 750 EUR nicht erreicht wird und die Berufung dann als unzulässig zu verwerfen wäre. Mit Schreiben vom 19.04.2018 ist dem Kläger mitgeteilt worden, dass weiterhin beabsichtigt ist, durch Beschluss zu entscheiden und im Übrigen auf das Schreiben vom 22.02.2017 Bezug genommen worden. Gründe für das Absehen von einer Entscheidung durch Beschluss ergeben sich nicht aus dem nach der Anhörungsmitteilung vom 22.07.2017 erfolgten Vortrag des Klägers und sind auch ansonsten nicht ersichtlich.

Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes bzw. "Beschwerdewert" bestimmt sich nach dem Umfang, in dem das SG dem Begehren des Rechtsmittelführers nicht gefolgt ist und was von diesem mit seinen Berufungsanträgen weiterverfolgt wird. Nachdem sich der Rechtsstreit erstinstanzlich insoweit erledigt hat, als die zunächst nur als Darlehen bewilligten Leistungen nach dem SGB II nun als Zuschuss gewährt worden sind, wendet sich der Kläger mit seiner Berufung gegen die Höhe des Regelbedarfs als einem von den übrigen im Arbeitslosengeld II enthaltenen Leistungen abtrennbaren Anspruch im Zeitraum Mai bis einschließlich Oktober 2013 (vgl. Bescheid vom 31.05.2013). Für diesen Zeitraum hat der Beklagte einen Regelbedarf von monatlich 382,00 EUR gewährt. Inwieweit dieser Regelbedarf nach Auffassung des Klägers zu erhöhen ist, hat dieser - auch auf direkte Nachfrage des Senats - nicht eindeutig angegeben. Daher bedarf der Antrag des Klägers der Auslegung.

Für die Auslegung prozessualer Anträge bzw. Begehren gilt § 123 SGG, wonach das Gericht über die erhobenen Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Für die damit einhergehende Auslegung, inwieweit Ansprüche erhoben sind, gelten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), wonach der Wortlaut der Erklärung nicht allein entscheidend ist. Im Rahmen der Auslegung ist der in der Erklärung zum Ausdruck gekommene wirkliche Wille des Äußernden zu erforschen. Bei Unklarheiten sind auch die weiteren Umstände der Erklärung heranzuziehen. Damit gilt eine Erklärung nicht nach dem inneren Willen, sofern dieser Wille nicht nach außen erkennbar geworden ist. Für die Auslegung sind nur solche Umstände maßgebend, die für das Gericht bzw. die Beteiligten des Rechtsstreits erkennbar sind. Bei der Auslegung von prozessualen Anträgen ist zunächst das Begehren zu ermitteln, welches ein verständiger Rechtsschutzsuchender bei entsprechender Beratung geltend gemacht haben würde. Soweit nicht Gründe für ein abweichendes Verhalten bestehen, wird ein vernünftiger Prozessbeteiligter sein Begehren in einer Weise verfolgen wollen, die ihm am besten zu seinem Ziel verhilft.

Der Kläger hat in seinem Schreiben an den Senat vom 21.03.2017 u.a. auf die Erkenntnisse der "Wohlfahrtsliga" verwiesen, wonach der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II bereits seit mehreren Jahren das notwendige Existenzminimum um mindestens 60,00 EUR pro Monat unterdecke. Aufgrund dieses Hinweises und im Hinblick auf den Umstand, dass in Rechtsstreitigkeiten wie dem vorliegenden regelmäßig auf die Expertise des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V. (im Folgenden nur: Paritätischer) vom Dezember 2015 "Fortschreibung der Regelsätze zum 1. Januar 2016, Tabellen zur Aufteilung der Verbrauchspositionen von Regelsätzen (Regelbedarfsstufen) 2008 bis 2016" (abrufbar auch im Internet unter www.paritaet-hessen.org/fileadmin/redaktion/Texte/Publikationen/GV/Expertise Regelsatz-2015 web.pdf) Bezug genommen wird, legt der Senat das Begehren unter Berücksichtigung der oben genannten Grundsätze dahingehend aus, dass der Kläger die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für den Zeitraum vom 01.05.2013 bis zum 31.10.2013 unter Berücksichtigung eines Regelbedarfs in Höhe von 464,00 EUR monatlich begehrt. Denn in der vorgenannten Expertise wird gemäß der auf Seite 21 befindlichen Tabelle A-1 (Erwachsenenregelsatz "Ein-Personen-Haushalte und Alleinerziehende" [Regelbedarfsstufe 1], EVS-Abteilungen hochgerechnet anhand der Regelsatz-Fortschreibung 2008 bis 2016 [ohne 2012], Ergebnisse Bund und Paritätischer) von dem Paritätischen für das Jahr 2013 ein Regelsatz unter Berücksichtigung von Einmalleistungen in dieser Höhe vorgeschlagen.

Beschwerdegegenstand ist damit ein Betrag von monatlich 82,00 EUR (464,00 EUR - 382,00 EUR), mithin in Summe (sechs Monate) 492,00 EUR. Der Wert des Beschwerdegegenstandes erreicht damit nicht den für eine Statthaftigkeit der Berufung erforderlichen Betrag in Höhe von 750,00 EUR.

Auch stehen wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit, nachdem vorliegend streitgegenständlich die Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.05.2013 bis zum 31.10.2013 sind.

Das SG hat die Berufung auch nicht ausdrücklich zugelassen. Die Berufung ist auch nicht deshalb zulässig, weil in der Rechtsmittelbelehrung des Urteils des SG die Berufung genannt wird. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. bspw. Urteil vom 18.03.2004 - B 11 AL 53/03 R -, juris) genügt die Erwähnung der Berufung in der Rechtsmittelbelehrung nicht für die Annahme, dass diese zugelassen sei.

Entgegen der Auffassung des Klägers bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Berufungsbeschränkung. Der Gesetzgeber kann Rechtsmittel unter Beachtung des Gleichheitssatzes im Interesse der Straffung des Verfahrens beschränken. Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bestehen nicht, wenn der Grundsatz der Rechtsmittelklarheit ausreichend berücksichtigt ist und die Voraussetzungen eines fairen Verfahrens gewahrt sind (vgl. Leitherer, a.a.O., § 144 Rn. 6 m.w.N., auch zum Nachfolgenden). Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) garantiert Kontrolle durch ein unabhängiges Gericht, aber keinen Instanzenzug. Für Streitfälle geringerer Bedeutung die Berufung nicht mehr vorzusehen, ist eine Differenzierung, für die einleuchtende Gründe bestehen. Die Berufungsbeschränkung stellt auch einen angemessenen Rechtsschutz nicht infrage. Zu bedenken ist insoweit, dass in den meisten Fällen ein Vorverfahren stattgefunden hat und eine Nichtzulassungsbeschwerde vorgesehen ist.

Soweit der Kläger vorträgt, dass der Senat vorliegend aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes die Voraussetzungen nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 und/oder Nr. 3 SGG prüfen (und bejahen) müsse, ist dies unzutreffend. Das LSG kann nur auf Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 SGG) über die Zulassung der Berufung entscheiden, nicht jedoch im Rahmen der unzulässigen Berufung (vgl. Leitherer, a.a.O., § 144 Rn. 44, 45).

Die Berufung des Klägers ist nach alledem nicht statthaft und war folglich als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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