L 7 SB 30/18

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 24 SB 437/15
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 SB 30/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung wird verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Rücknahme der Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) sowie von Merkzeichen.

Der Beklagte hatte beim Kläger zuletzt mit Bescheid vom 5. November 2012 einen GdB von 100 sowie die Merkzeichen "RF" und "Gl" festgestellt. Aus Anlass eines Neufeststellungsantrags des Klägers holte er aktuelle medizinische Befundunterlagen ein und ließ ein HNO-ärztliches Gutachten erstellen. Auf dieser Grundlage kam der Beklagte zu dem Ergebnis, dass der GdB zu hoch bemessen und die Merkzeichen zu Unrecht vergeben worden seien. Deshalb nahm er die bisherigen Feststellungen durch Bescheid vom 22. Dezember 2014 mit Wirkung zum 4. Juni 2014 (dem Tag der gutachterlichen Untersuchung) teilweise zurück. Der GdB von 100 und die Merkzeichen seien zu Unrecht festgestellt worden; der GdB werde nunmehr mit 60 bewertet. Den Widerspruch des Klägers gegen den Rücknahmebescheid wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. November 2015 als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kläger am 1. Dezember 2015 Klage zum Sozialgericht (SG) H. erhoben. In der mündlichen Verhandlung vom 20. Dezember 2017 hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass "die Absenkung ihre Wirksamkeit ab 01.09.2014 entfalten soll". Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat das Teilanerkenntnis angenommen und eine gerichtliche Kostenentscheidung beantragt. Die Protokollierung ihrer Erklärungen haben die Beteiligten ausweislich der Sitzungsniederschrift genehmigt. Im Protokoll wird danach folgender weiterer Ablauf der mündlichen Verhandlung dokumentiert:

"Die Parteien erklären sodann übereinstimmend:

‚Wir erklären den Rechtsstreit S 24 SB 437/15 in der Hauptsache für erledigt.‘

Der Klägervertreter bittet vor Genehmigung der Protokollierung um Unterbrechung. Die Unterbrechung wird gewährt.

Nach Unterbrechung erklärt der Klägervertreter:

‚Wir wollen nicht für erledigt erklären, sondern nehmen zwar das Teilanerkenntnis an, bitten aber ansonsten um Entscheidung in der Sache.‘

Der Klägervertreter beantragt in der Sache S 24 SB 437/15,

den Bescheid des Beklagten vom 22.12.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.11.2015 aufzuheben."

Das SG hat daraufhin mit Urteil vom 20. Dezember 2017 den Bescheid des Beklagten vom 22. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. November 2015 dahingehend abgeändert, dass der Bescheid vom 5. November 2012 mit Wirkung ab 1. September 2014 insoweit zurückgenommen werde, als der Grad der Behinderung mit 100 zu hoch bewertet und die Merkzeichen "Gl" und "RF" zu Unrecht festgestellt worden seien; der Grad der Behinderung betrage 60 ab dem 1. September 2014. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte sei zur Rücknahme des ursprünglichen Bescheids berechtigt gewesen. Lediglich der Zeitpunkt der Wirksamkeit der Rücknahme sei zu korrigieren. Da der Kläger trotz der Annahme des Anerkenntnisses einen umfassenden Aufhebungsantrag gestellt habe, sei der Bescheid abzuändern und die weitergehende Klage abzuweisen.

Gegen das ihm am 11. April 2018 zugestellte Urteil hat der Kläger 25. April 2018 Berufung eingelegt. Diese hat er trotz Aufforderung nicht begründet. Einen Berufungsantrag hat er nicht formuliert.

Der Berichterstatter hat den Kläger darauf hingewiesen, dass seine erstinstanzliche Erledigungserklärung als Klagerücknahme zu werten sei, für deren Wirksamkeit es nicht auf die Genehmigung der Protokollierung ankomme. Deshalb komme eine Verwerfung der Berufung durch Beschluss in Betracht.

Dagegen wendet der Kläger ein, aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung ergebe sich zweifelsfrei, dass er lediglich das vom Beklagten abgegebene Teilanerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt habe. Im Übrigen habe er eine Entscheidung in der Hauptsache eingefordert; dem sei das SG auch gefolgt.

Der Senat hat die Gerichtsakte des Sozialgerichts und die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.

II.

Der Senat verwirft die Berufung durch Beschluss, weil sie unzulässig ist (§ 158 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

1. Da der Kläger trotz entsprechender Ankündigung keinen Berufungsantrag formuliert hat, bedarf sein Begehren in entsprechender Anwendung von § 123 SGG der Auslegung. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er mit der Berufung ein anderes Ziel verfolgt als mit seinem erstinstanzlich zuletzt formulierten Klageantrag. Er begehrt also unter Abänderung des angegriffenen Urteils die Aufhebung des Bescheids vom 22. Dezember 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. November 2015. Dabei geht er allerdings – entgegen der Ansicht des SG – erkennbar davon aus, dass das Teilanerkenntnis des Beklagten zu berücksichtigen ist. Denn unmittelbar vor der Formulierung seines Klageantrags hatte er auf das zuvor vom Beklagten erklärte Teilanerkenntnis Bezug genommen und ausgeführt, er bitte "ansonsten" um eine Entscheidung in der Sache.

2. Die so verstandene Berufung ist unzulässig. Die begehrte Abänderung des Urteils vom 20. Dezember 2017 kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der geltend gemachte Anspruch nicht mehr rechtshängig (§ 94 SGG) ist. Nach Wegfall der Rechtshängigkeit kann das Gericht nicht mehr über den Klageanspruch entscheiden, und der Kläger kann zu seiner Durchsetzung kein Rechtsmittel mehr einlegen.

Nachdem sich der Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung vom 20. Dezember 2017 bereits teilweise durch das angenommene Teilanerkenntnis erledigt hatte (§ 101 Abs. 2 SGG), hat der Kläger seine Klage im Übrigen wirksam zurückgenommen. Die Rücknahme ergibt sich aus der Sitzungsniederschrift, deren Richtigkeit die Beteiligten nicht in Zweifel gezogen haben. Danach haben der Kläger und der Beklagte nach der Annahme des Teilanerkenntnisses übereinstimmend "den Rechtsstreit S 24 SB 437/15 in der Hauptsache für erledigt" erklärt. Im gerichtskostenfreien Verfahren nach § 183 SGG ist eine Erledigungserklärung des Klägers als Klagerücknahme zu behandeln (vgl. Hauck, SGb. 2004, S. 407; ders., in: Hennig, SGG, § 102 Rn. 13 (Stand: April 2010); Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 102 Rn. 3; Keller, ebd., § 125 Rn. 10).

Es ist unschädlich, dass der Kläger die Protokollierung seiner Erklärung nicht genehmigt hat. Zwar verlangt § 122 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 3 Nr. 8, § 162 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), dass die mit einem Tonaufnahmegerät vorläufig aufgezeichnete Protokollierung einer Klagerücknahme vorgespielt und sodann vom Kläger genehmigt wird. Das Vorspielen und die Genehmigung bewirken jedoch nur die besondere Beweiskraft des Protokolls; sie sind keine Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Prozesserklärung (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 12. März 1981 – 11 RA 52/80 –, juris; Schultzky, in: Zöller, ZPO, 32. Auflage 2018, § 162 Rn. 6). Auch eine Klagerücknahme, deren Protokollierung nicht genehmigt worden ist, beendet die Rechtshängigkeit des geltend gemachten Anspruchs.

Etwas anderes gilt zwar für die Protokollierung eines gerichtlichen Vergleichs (vgl. BSG, a.a.O., Schultzky, a.a.O.). Die hier in Rede stehende Erklärung des Klägers ist aber nicht Teil eines Vergleichs. Insbesondere bildet sie keine rechtliche Einheit mit dem angenommenen Teilanerkenntnis. Das wird schon daran deutlich, dass die Abgabe des Teilanerkenntnisses und seine Annahme bereits zuvor gesondert protokolliert und die Protokollierung gesondert genehmigt worden waren.

Es ist auch unerheblich, dass der Kläger später erklärt hat, er wolle den Rechtsstreit nicht für erledigt erklären und bitte um Entscheidung in der Sache. Die Klagerücknahme bzw. die Erledigungserklärung ist eine Prozesshandlung, die das Gericht und die Beteiligten bindet; sie kann grundsätzlich nicht widerrufen werden (vgl. BSG, Urteil vom 20. Dezember 1995 – 6 RKa 18/95 –, juris Rn. 11; Schmidt, a.a.O., § 102 Rn. 7c).

3. Die Berufung ist auch nicht mit Blick darauf zulässig, dass das angegriffene Urteil ein Scheinurteil darstellt und als solches wirkungslos und nichtig ist.

Gegen ein wirkungsloses Urteil ist grundsätzlich das Rechtsmittel eröffnet, das gegen ein rechtsfehlerfreies Urteil gleichen Inhalts gegeben wäre (vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 5. Dezember 2005 – II ZB 2/05 –, NJW-RR 2006, S. 565 (566)). Auf diese Weise kann der von dem wirkungslosen Urteil ausgehende falsche Rechtsschein beseitigt und der ansonsten drohende Eintritt der formellen Rechtskraft verhindert werden.

Das Urteil vom 20. Dezember 2017 ist nichtig, weil das SG entschieden hat, obwohl der Rechtsstreit zu diesem Zeitpunkt bereits erledigt und die Sache nicht mehr rechtshängig war. Ein nach Ende der Rechtshängigkeit noch in der Hauptsache ergangenes Urteil ist wirkungslos (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 125 Rn. 5b). Das gilt vorliegend auch, soweit das SG – über das Begehren des Klägers hinausgehend – noch über den vom Anerkenntnis umfassten Zeitraum entschieden hat. Da im sozialgerichtlichen Verfahren das angenommene Anerkenntnis die Rechtshängigkeit beendet, war weder Raum für ein Anerkenntnisurteil (§ 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 307 Satz 1 ZPO) noch – wie hier erlassen – für ein streitiges Urteil. Es bestand auch kein Streit über die Wirksamkeit des Teilanerkenntnisses, so dass es aus diesem Grund einer Entscheidung bedurft hätte, die zudem zuerst die Frage der Wirksamkeit des Anerkenntnisses zu klären gehabt hätte (vgl. Schmidt, a.a.O., § 101 Rn. 24).

Die bloße Aufhebung des nichtigen Urteils entspricht aber nicht dem Berufungsbegehren des Klägers. Dieser ist gerade nicht der Auffassung, dass das Urteil wirkungslos und nichtig sei. Im Übrigen hätte er an dessen Aufhebung auch kein berechtigtes Interesse. Soweit das SG den Beklagten trotz des angenommenen Anerkenntnisses noch verurteilt hat, ist der Kläger nicht beschwert. Und auch soweit das SG die Klage abgewiesen hat, würde sich seine Rechtsstellung durch die bloße Aufhebung des Urteils nicht verbessern. Diese würde ihm insbesondere nicht die Möglichkeit eröffnen, sein Begehren erneut gerichtlich geltend zu machen. Denn nach Rechtsprechung des BSG schließt eine Klagerücknahme eine erneute Klageerhebung aus, selbst wenn bei der neuen Klage die Klagefrist gewahrt wäre (vgl. BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 – B 8 SO 1/16 R –, juris Rn. 16; a.A.: Schmidt, a.a.O., Rn. § 102 Rn. 11 m.w.N.). Jedenfalls aber scheidet eine erneute Klage vorliegend schon deshalb aus, weil die Klagefrist des § 87 SGG bereits verstrichen ist.

Im Übrigen gibt der Tenor des angegriffenen Urteils die Rechtslage, wie sie sich aus dem angenommenen Anerkenntnis und der Klagerücknahme im Übrigen ergibt, zutreffend wieder.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.

5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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