Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 35 AS 1949/15 WA
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 2341/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 23. August 2016 aufgehoben. Der Bescheid des Beklagten vom 26. Juni 2008 wird aufgehoben. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im gesamten Verfahren zu tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wehrt sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2005 und eine entsprechende Erstattungsforderung des Beklagten in Höhe von noch 1.322,46 EUR.
Der 1955 geborene, seinerzeit erwerbsfähige und mit seiner Ehefrau in einem gemeinsamen Haushalt lebende Kläger bezog bis zum 31. Dezember 2004 Arbeitslosenhilfe (AlHi, Bescheid des Arbeitsamtes Fvom 1. Juni 2004). Auf den wöchentlichen Leistungssatz in Höhe von 148,68 EUR wurde ausweislich des Bescheides ein monatliches Einkommen in Höhe von 87,78 EUR angerechnet. Der Kläger bezog jedenfalls seit 2003 eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel, die dem Kläger seit Juli 2003 in Höhe von monatlich 358,61 EUR ausgezahlt wurde (Rentenanpassung vom 23. Juni 2003).
Der Kläger beantragte beim Beklagten am 12. Oktober 2004 für sich und seine Ehefrau Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose (Alg II) und wies unter Vorlage des letzten Änderungsbescheides auf den Bezug von ergänzender Anschluss-AlHi hin; über weiteres Einkommen verfüge er ausweislich des zusammen mit dem Sachbearbeiter des Beklagten ausgefüllten und vom Kläger eigenhändig unterschriebenen Zusatzblattes 2 (Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung) nicht. Seine Ehefrau beziehe eine Erwerbsminderungsrente (Bescheid der BfA vom 24. Mai 2004). Er und seine Ehefrau verfügten über ein Sparbuch sowie jeweils über eine Kapitallebensversicherung (auf Blatt 11 bis 24 der Leistungsakten wird wegen dieser Angaben des Klägers Bezug genommen).
Der Beklagte bewilligte dem Kläger und seiner Ehefrau als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Alg II in Höhe von monatlich insgesamt 224,46 EUR vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 unter Berücksichtigung der Kosten für Unterkunft und Heizung (KdUH) in Höhe und unter Anrechnung von Einkommen ausschließlich der Ehefrau (Bescheid vom 1. Dezember 2004; Widerspruchsbescheid vom 8. August 2005, mit dem zugleich zwischenzeitliche Änderungsbescheide vom 23. Juni 2005 und 4. Juli 2005 aufgehoben wurden).
Mit seinem Fortzahlungsantrag vom 9. Juni 2005 gab der Kläger an, Änderungen u.a. in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen habe es in der Bedarfsgemeinschaft nicht gegeben. Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 23. Juni 2005 Leistungen für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2005 und zahlte entsprechende Leistungen aus.
Mit Bescheid vom 4. April 2006 stellte der Beklagte dem Kläger gegenüber eine Überzahlung vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 in Höhe von 592,54 EUR fest unter gleichzeitigem Verzicht auf die Erstattung.
Im Zuge eines Datenabgleichs erhielt der Beklagte im Dezember 2005 Kenntnis von der Rente des Klägers aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Nach Anhörung des Klägers mit einem Schreiben vom 27. März 2006 hob er mit einem ausschließlich an den Kläger gerichteten Bescheid vom 11. Mai 2006 (Widerspruchsbescheid vom 3. August 2006) für die Zeit ab 1. Januar 2005 die Entscheidung über die Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ganz auf und forderte die Erstattung von 1.790,76 EUR. Zugleich hob er die Entscheidung über den Verzicht auf eine Erstattung mit Bescheid vom 4. April 2006 auf. Hilfebedürftigkeit habe nicht vorgelegen. Der Kläger habe vorsätzlich unvollständige Angaben gemacht, indem er die Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht angegeben habe. Er habe auch gewusst, dass ihm die Leistungen nicht zuständen, die somit in der gewährten Höhe zu erstatten seien.
Der Kläger hat am 24. August 2006 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Frankfurt (Oder) erhoben.
Mit Bescheid vom 26. Juni 2008 hat der Beklagte gegenüber dem Kläger den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. Mai 2006 geändert, die Entscheidungen vom 1. Dezember 2005 (gemeint wohl Erstbewilligung vom 1. Dezember 2004), vom 23. Juni 2005 (wohl Bewilligungsbescheid für 7/05-12/05 und Änderungsbescheid für 1/05-6/05, obgleich letzterer bereits mit Widerspruchsbescheid vom 8. August 2005 aufgehoben worden war), vom 4. Juli 2005 (wohl Änderungsbescheide für 1/05-6/05 und 7/05-12/05, obgleich hinsichtlich des 1. Halbjahres ebenfalls bereits aufgehoben durch Widerspruchsbescheid vom 8. August 2005) und vom 10. Oktober 2005 (wohl Änderungsbescheide für 9/05 bzw. 10/05-12/05) über die Bewilligung von Leistungen vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2005 wegen des Bezugs der Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung unter Bezugnahme auf eine Anhörung vom 28. April 2006 aufgehoben und von ihm die Erstattung von Leistungen in Höhe von nunmehr 1.322,46 EUR gefordert. Der Kläger habe seine Mitteilungspflicht grob fahrlässig dem Beklagten gegenüber in Bezug auf eingetretene Änderungen in seinen Verhältnissen verletzt. Für ihn zu Unrecht in der Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2005 gezahlte Leistungen seien in Höhe der Regelleistung sowie der KdUH zu erstatten.
Das SG hat nach zwischenzeitlichem Ruhen des Verfahrens (Beschluss vom 14. August 2008) die Klage durch Gerichtsbescheid vom 23. August 2016 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, es spreche viel dafür, dass die Klage bereits durch Rücknahme erledigt sei. Jedenfalls sei sie aber unbegründet. Die ursprünglichen Leistungsbewilligungen seien wegen der Nichtanrechnung der Verletztenrente von Anfang an rechtswidrig gewesen. Vertrauen des Klägers sei nicht schutzwürdig, weil er grob fahrlässig unrichtige und unvollständige Angaben gemacht habe. Dass der Beklagte die Leistungsaufhebung nicht nach Monaten aufgeschlüsselt habe, sei angesichts der Komplettaufhebung unschädlich. Die gezahlte Rente von 358,61 EUR habe schließlich den monatlichen Leistungsbetrag von 224,46 EUR bzw. ab Juli 2005 in Höhe von 148 EUR deutlich überstiegen.
Mit seiner Berufung vom 23. September 2016 gegen den ihm am 23. August 2016 zugestellten Gerichtsbescheid macht der Kläger geltend, eine prozessbeendende Erklärung sei nicht abgegeben worden. Er habe im Zuge der AlgII-Erstantragstellung beim Beklagten in den Räumen der vormals für seinen AlHi-Antrag zuständigen Sachbearbeiterin sämtliche Einkommensunterlagen vorgelegt, insbesondere auch den Bescheid hinsichtlich des Bezugs einer Unfallrente, der auch für die Berechnung der AlHi verwendet worden sei. Die Sachbearbeiterin sei seinerzeit jedoch, wie sich auch aus dem entsprechenden Merkblatt des Beklagten ergebe, davon ausgegangen, dass eine Anrechnung der Unfallrente im Rahmen des Alg II nicht zu erfolgen habe, so dass die Unfallrente – anders als noch bei der Berechnung der AlHi – nicht als Einkommen berücksichtigt worden sei. Es sei erst später höchstrichterlich entschieden worden, dass die Verletztenrente in vollem Umfang als Einkommen anzurechnen sei. Der ursprüngliche Aufhebungs- und Erstattungsbescheid sei im Übrigen unbestimmt und daher rechtswidrig, weil ihn, zumal zwischenzeitlich getrennt lebend, nicht erkennbar sei, gegen welche Forderungen ihm gegenüber und welche seiner Frau gegenüber erhoben worden seien.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 23. August 2016 und den Bescheid des Beklagten vom 26. Juni 2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, soweit der Kläger behaupte, er habe den Bescheid über die Unfallrente bei der Erstantragstellung vorgelegt, handle es sich um eine Schutzbehauptung. Andernfalls wäre der entsprechende Bescheid in Kopie zu den Akten genommen worden. Der Vorwurf grober Fahrlässigkeit sei begründet, weil sich dem Kläger habe aufdrängen müssen, dass er sämtliche Einkommensarten hätte angeben müssen.
Die Gerichtsakten und die Leistungsakten des Beklagten (7 Bände) haben vorgelegen und sind, soweit erforderlich, Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das SG hat die zulässige, insbesondere mangels einer entsprechenden Prozesserklärung nicht durch Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – erledigte Klage, eine statthafte Anfechtungsklage i.S.d. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG, zu Unrecht abgewiesen.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der gemäß § 96 Abs. 1 SGG bereits zum alleinigen Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewordene Bescheid des Beklagten vom 26. Juni 2008, den der Beklagte entgegen § 96 Abs. 2 SGG nicht zum Verfahren gereicht hat, mit der Folge, dass er vom SG verfahrensfehlerhaft nicht einbezogen worden ist (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 96 Rn. 12a). Dieser Bescheid hat den ursprünglich streitgegenständlichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2006 vollständig ersetzt. Abändern oder Ersetzen im Sinne des § 96 Abs. 1 SGG setzt voraus, dass der Regelungsgegenstand des neu einzubeziehenden Verwaltungsakts mit dem des früheren identisch ist, was durch Vergleich der in beiden Verwaltungsakten getroffenen Verfügungssätze festzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 22. März 2018 – B 5 RE 12/17 B – juris Rn. 22 m.w.N.; B. Schmidt a.a.O. Rn. 4a mwN). Ein Ersetzen im Sinne dieser Norm ist hier gegeben. Der Bescheid vom 26. Juni 2008 ist vollständig an die Stelle des früheren getreten. Dieser Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten.
Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 2005 kommt, anders als mit der Begründung des Bescheides vom 26. Juni 2008 angegeben, nicht § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch – Sozialverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X), sondern nur § 40 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 SGB II (i.d.F. vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954, a.F.) i.V.m. § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X in Betracht. Aufgrund des jedenfalls seit 2003 laufenden Bezugs der Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die zu Unrecht nicht als Einkommen des Klägers i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II anspruchsmindernd seit dem 1. Januar 2005 bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten berücksichtigt wurde (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 2007 – B 14/7b AS 20/07 R – juris Rn. 15), war der Bescheid vom 1. Dezember 2004 anfänglich objektiv rechtswidrig i.S.d. § 45 Abs. 1 SGB X. Zwar wäre die Tatsache, dass der gegenständliche Bescheid als Rechtsgrundlage für die Aufhebung § 48 SGB X nennt, bei Vorliegen zumindest grober Fahrlässigkeit des Klägers irrelevant, weil in diesem Fall ein Rücknahmeermessen des Beklagten gemäß §§ 40 Abs. 1 SGB II a.F. i.V.m. 330 Abs. 2 SGB III von vornherein nicht eröffnet und die Vorschrift auf dasselbe Ziel wie § 48 SGB X gerichtet wäre. So liegt es hier indes nicht.
Eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers i.S.d. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X ist zur Überzeugung des Senats nach dessen persönlicher Anhörung im Verhandlungstermin vom 19. Dezember 2018 nicht im Vollbeweis feststellbar. Der Senat ist vielmehr davon überzeugt, dass im Zuge der Erstantragstellung des Klägers eine Beratung i.S.d. § 14 SGB I stattgefunden hat, die die Frage gegebenenfalls vorhandenen Einkommens des Klägers und seiner Ehefrau zum Gegenstand hatte und vom Kläger auch zutreffend beantwortet wurde. Denn bereits aus den Leistungsakten des Beklagten folgt übereinstimmend mit dem Vortrag des Klägers, dass die im Oktober 2004 mit dem Antrag befasste Sachbearbeiterin des Beklagten dem Kläger unter Verwertung einer Vielzahl vorgelegter Unterlagen und insbesondere des AlHi-Bescheides beim Ausfüllen des "Zusatzblatts" zum Einkommen behilflich war, welches jener sodann eigenhändig unterschrieben hatte. Soweit der Beklagte geltend macht, der Kläger habe seinerzeit, anders als dieser behaupte, den Bescheid über die Unfallrente bzw. die Anpassungsmitteilung nicht vorgelegt, kann dies dahinstehen. Denn ausweislich der im Original vorliegenden Leistungsakten hat der Kläger jedenfalls den Bescheid über den Bezug von Anschluss-AlHi – neben sämtlichen anderen einkommens- und vermögensrelevanten Unterlagen – vorgelegt, aus dem sich zweifellos die Anrechnung von Einkommen im Rahmen der bis zum 31. Dezember 2004 gewährten AlHi ergibt. Ein bewusstes bzw. grob fahrlässiges Verschweigen ist bereits danach zweifelhaft. Selbst wenn aber davon auszugehen sein sollte, wie der Beklagte meint, dass sich ihm trotz ausdrücklicher Nennung des Anrechnungsbetrages im AlHi-Bescheid der Bezug weiteren Einkommens nicht aufdrängen musste und der Kläger insofern nicht seiner Mitteilungspflicht genügt habe, ist die Behauptung, der Kläger habe den Bezug der Unfallrente bewusst oder jedenfalls grob fahrlässig nicht angezeigt, bei dieser Sachlage nicht ansatzweise plausibel, da er im Übrigen – im Einklang mit dem Informationsblatt – sämtliche einkommensrelevanten Unterlagen vorgelegt hatte, sich dagegen, wie ausgeführt, die Anrechnung seines Einkommens bereits aus dem AlHi-Bescheid ergabt. Im Hinblick auf die letztlich erst 2011 höchstrichterlich geklärte Rechtsfrage der Anrechenbarkeit der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung als Einkommen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. März 2011 – 1 BvR 591/08 u.a. – juris) kommt auch eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers im Sinne eines Kennenmüssens der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 1. Dezember 2004 – für eine positive Kenntnis fehlt es von vornherein an jeglichen Anhaltspunkten – nicht in Betracht. Dem Kläger, der im Jahr 2004 – ebenso wenig wie der Beklagte – mit dem zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen SGB II vertraut war, musste auch nach seinem subjektiven Empfängerhorizont unter Berücksichtigung seiner beruflicher Vorbildung und seinen sonstigen Fähigkeiten die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 1. Dezember 2004 im Falle der Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht ins Auge springen.
Wie mit dem Beklagten im Übrigen bereits in der mündlichen Verhandlung ausführlich erörtert worden ist, ist der Bescheid vom 26. Juni 2008 im Übrigen rechtswidrig, weil die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht gewahrt ist. Dies, wie der Beklagte ausgeführt hat, anders zu sehen, verlautbart schon im Ansatz keine Umstände, die für die Wahrung der Ausschlussfrist sprechen könnten.
Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss die Behörde die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit i.S.d. Satzes 1 innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Nach der Begründung des Bescheides vom 26. Juni 2008 hat die danach maßgebliche Tatsachenkenntnis mit der Stellungnahme des bevollmächtigten Klägers auf eine Anhörung vom 28. April 2006 und insofern dem Abschluss der Ermittlungen vorgelegen. Indes dürfte es sich hierbei um das Anhörungsschreiben vom 27. März 2006 und die hierzu erfolgte Stellungnahme des bevollmächtigten Klägers vom 5. April 2006 gehandelt haben, mithin dürfte bereits zu jenem Zeitpunkt die entscheidungserhebliche Tatsachenkenntnis für eine Rücknahme für die Vergangenheit vorgelegen haben, was im Ergebnis allerdings dahinstehen kann. Denn die Jahresfrist, die mit der Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen läuft, mithin spätestens im Zeitpunkt des Erlasses des ersten Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 11. Mai 2006 gegeben war, ist in jedem Fall verstrichen.
Diese Frist stellt – anders als der Beklagte offenbar ohne weitere Begründung meint – eine nicht verlängerbare oder aufhebbare Ausschlussfrist dar, die weder unterbrochen noch entsprechend den Vorschriften des BGB gehemmt werden kann. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X hat vielmehr nach herrschender höchstrichterlicher Rechtsprechung abschließenden Charakter (vgl. nur BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 – 9 RV 14/96 – juris Rn. 21 m.w.N.: "Die Behörde soll durch § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X gezwungen werden, innerhalb der einjährigen Frist eine abschließende Entscheidung zu treffen, gleichgültig, ob der Betroffene Vertrauensschutz verdient oder nicht. Bei einer Unterbrechung der Rücknahmefrist durch den Erlass des – ersten – Rücknahmebescheides gewönne die Behörde einen weiten Zeitrahmen für ersetzende weitere Bescheide. Hebt die Behörde (oder das Verwaltungsgericht) den ersten (rechtswidrigen) Rücknahmebescheid auf und erlässt sie binnen sechs Monaten einen neuen, ersetzenden VA, würde bei Anwendung der Unterbrechungsregeln gemäß § 212 Abs. 2 Satz 1 BGB die Rücknahmefrist durch den ersten Rücknahmebescheid als unterbrochen gelten. Da dies für jede weitere Aufhebung des Rücknahmebescheides ebenfalls gelten würde, hätte die Behörde es in der Hand, den Ablauf der der Rechtssicherheit dienenden Jahresfrist unübersehbar weit hinauszuschieben"). Die Jahresfrist ist hiernach verstrichen; die Umdeutung der auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X gestützte Aufhebung in eine solche, ebenfalls rückwirkende Aufhebung nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ist ausgeschlossen. Das Vertrauen des Klägers, der die mit dem Bescheid vom 1. Dezember 2004 gewährten existenzsichernden Leistungen – zumal angesichts des zwischenzeitlichen Verzichts auf eine Rückforderung mit Bescheid vom 4. April 2006 – verbraucht hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X), ist vielmehr schutzwürdig mit der Folge, dass die Voraussetzungen für eine Erstattung gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X ebenso wenig gegeben sind, der Bescheid vom 26. Juni 2008 mithin insgesamt aufzuheben war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Tatbestand:
Der Kläger wehrt sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2005 und eine entsprechende Erstattungsforderung des Beklagten in Höhe von noch 1.322,46 EUR.
Der 1955 geborene, seinerzeit erwerbsfähige und mit seiner Ehefrau in einem gemeinsamen Haushalt lebende Kläger bezog bis zum 31. Dezember 2004 Arbeitslosenhilfe (AlHi, Bescheid des Arbeitsamtes Fvom 1. Juni 2004). Auf den wöchentlichen Leistungssatz in Höhe von 148,68 EUR wurde ausweislich des Bescheides ein monatliches Einkommen in Höhe von 87,78 EUR angerechnet. Der Kläger bezog jedenfalls seit 2003 eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel, die dem Kläger seit Juli 2003 in Höhe von monatlich 358,61 EUR ausgezahlt wurde (Rentenanpassung vom 23. Juni 2003).
Der Kläger beantragte beim Beklagten am 12. Oktober 2004 für sich und seine Ehefrau Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose (Alg II) und wies unter Vorlage des letzten Änderungsbescheides auf den Bezug von ergänzender Anschluss-AlHi hin; über weiteres Einkommen verfüge er ausweislich des zusammen mit dem Sachbearbeiter des Beklagten ausgefüllten und vom Kläger eigenhändig unterschriebenen Zusatzblattes 2 (Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung) nicht. Seine Ehefrau beziehe eine Erwerbsminderungsrente (Bescheid der BfA vom 24. Mai 2004). Er und seine Ehefrau verfügten über ein Sparbuch sowie jeweils über eine Kapitallebensversicherung (auf Blatt 11 bis 24 der Leistungsakten wird wegen dieser Angaben des Klägers Bezug genommen).
Der Beklagte bewilligte dem Kläger und seiner Ehefrau als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Alg II in Höhe von monatlich insgesamt 224,46 EUR vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 unter Berücksichtigung der Kosten für Unterkunft und Heizung (KdUH) in Höhe und unter Anrechnung von Einkommen ausschließlich der Ehefrau (Bescheid vom 1. Dezember 2004; Widerspruchsbescheid vom 8. August 2005, mit dem zugleich zwischenzeitliche Änderungsbescheide vom 23. Juni 2005 und 4. Juli 2005 aufgehoben wurden).
Mit seinem Fortzahlungsantrag vom 9. Juni 2005 gab der Kläger an, Änderungen u.a. in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen habe es in der Bedarfsgemeinschaft nicht gegeben. Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 23. Juni 2005 Leistungen für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2005 und zahlte entsprechende Leistungen aus.
Mit Bescheid vom 4. April 2006 stellte der Beklagte dem Kläger gegenüber eine Überzahlung vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 in Höhe von 592,54 EUR fest unter gleichzeitigem Verzicht auf die Erstattung.
Im Zuge eines Datenabgleichs erhielt der Beklagte im Dezember 2005 Kenntnis von der Rente des Klägers aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Nach Anhörung des Klägers mit einem Schreiben vom 27. März 2006 hob er mit einem ausschließlich an den Kläger gerichteten Bescheid vom 11. Mai 2006 (Widerspruchsbescheid vom 3. August 2006) für die Zeit ab 1. Januar 2005 die Entscheidung über die Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ganz auf und forderte die Erstattung von 1.790,76 EUR. Zugleich hob er die Entscheidung über den Verzicht auf eine Erstattung mit Bescheid vom 4. April 2006 auf. Hilfebedürftigkeit habe nicht vorgelegen. Der Kläger habe vorsätzlich unvollständige Angaben gemacht, indem er die Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht angegeben habe. Er habe auch gewusst, dass ihm die Leistungen nicht zuständen, die somit in der gewährten Höhe zu erstatten seien.
Der Kläger hat am 24. August 2006 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Frankfurt (Oder) erhoben.
Mit Bescheid vom 26. Juni 2008 hat der Beklagte gegenüber dem Kläger den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. Mai 2006 geändert, die Entscheidungen vom 1. Dezember 2005 (gemeint wohl Erstbewilligung vom 1. Dezember 2004), vom 23. Juni 2005 (wohl Bewilligungsbescheid für 7/05-12/05 und Änderungsbescheid für 1/05-6/05, obgleich letzterer bereits mit Widerspruchsbescheid vom 8. August 2005 aufgehoben worden war), vom 4. Juli 2005 (wohl Änderungsbescheide für 1/05-6/05 und 7/05-12/05, obgleich hinsichtlich des 1. Halbjahres ebenfalls bereits aufgehoben durch Widerspruchsbescheid vom 8. August 2005) und vom 10. Oktober 2005 (wohl Änderungsbescheide für 9/05 bzw. 10/05-12/05) über die Bewilligung von Leistungen vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2005 wegen des Bezugs der Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung unter Bezugnahme auf eine Anhörung vom 28. April 2006 aufgehoben und von ihm die Erstattung von Leistungen in Höhe von nunmehr 1.322,46 EUR gefordert. Der Kläger habe seine Mitteilungspflicht grob fahrlässig dem Beklagten gegenüber in Bezug auf eingetretene Änderungen in seinen Verhältnissen verletzt. Für ihn zu Unrecht in der Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. September 2005 gezahlte Leistungen seien in Höhe der Regelleistung sowie der KdUH zu erstatten.
Das SG hat nach zwischenzeitlichem Ruhen des Verfahrens (Beschluss vom 14. August 2008) die Klage durch Gerichtsbescheid vom 23. August 2016 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, es spreche viel dafür, dass die Klage bereits durch Rücknahme erledigt sei. Jedenfalls sei sie aber unbegründet. Die ursprünglichen Leistungsbewilligungen seien wegen der Nichtanrechnung der Verletztenrente von Anfang an rechtswidrig gewesen. Vertrauen des Klägers sei nicht schutzwürdig, weil er grob fahrlässig unrichtige und unvollständige Angaben gemacht habe. Dass der Beklagte die Leistungsaufhebung nicht nach Monaten aufgeschlüsselt habe, sei angesichts der Komplettaufhebung unschädlich. Die gezahlte Rente von 358,61 EUR habe schließlich den monatlichen Leistungsbetrag von 224,46 EUR bzw. ab Juli 2005 in Höhe von 148 EUR deutlich überstiegen.
Mit seiner Berufung vom 23. September 2016 gegen den ihm am 23. August 2016 zugestellten Gerichtsbescheid macht der Kläger geltend, eine prozessbeendende Erklärung sei nicht abgegeben worden. Er habe im Zuge der AlgII-Erstantragstellung beim Beklagten in den Räumen der vormals für seinen AlHi-Antrag zuständigen Sachbearbeiterin sämtliche Einkommensunterlagen vorgelegt, insbesondere auch den Bescheid hinsichtlich des Bezugs einer Unfallrente, der auch für die Berechnung der AlHi verwendet worden sei. Die Sachbearbeiterin sei seinerzeit jedoch, wie sich auch aus dem entsprechenden Merkblatt des Beklagten ergebe, davon ausgegangen, dass eine Anrechnung der Unfallrente im Rahmen des Alg II nicht zu erfolgen habe, so dass die Unfallrente – anders als noch bei der Berechnung der AlHi – nicht als Einkommen berücksichtigt worden sei. Es sei erst später höchstrichterlich entschieden worden, dass die Verletztenrente in vollem Umfang als Einkommen anzurechnen sei. Der ursprüngliche Aufhebungs- und Erstattungsbescheid sei im Übrigen unbestimmt und daher rechtswidrig, weil ihn, zumal zwischenzeitlich getrennt lebend, nicht erkennbar sei, gegen welche Forderungen ihm gegenüber und welche seiner Frau gegenüber erhoben worden seien.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 23. August 2016 und den Bescheid des Beklagten vom 26. Juni 2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, soweit der Kläger behaupte, er habe den Bescheid über die Unfallrente bei der Erstantragstellung vorgelegt, handle es sich um eine Schutzbehauptung. Andernfalls wäre der entsprechende Bescheid in Kopie zu den Akten genommen worden. Der Vorwurf grober Fahrlässigkeit sei begründet, weil sich dem Kläger habe aufdrängen müssen, dass er sämtliche Einkommensarten hätte angeben müssen.
Die Gerichtsakten und die Leistungsakten des Beklagten (7 Bände) haben vorgelegen und sind, soweit erforderlich, Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das SG hat die zulässige, insbesondere mangels einer entsprechenden Prozesserklärung nicht durch Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – erledigte Klage, eine statthafte Anfechtungsklage i.S.d. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG, zu Unrecht abgewiesen.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der gemäß § 96 Abs. 1 SGG bereits zum alleinigen Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewordene Bescheid des Beklagten vom 26. Juni 2008, den der Beklagte entgegen § 96 Abs. 2 SGG nicht zum Verfahren gereicht hat, mit der Folge, dass er vom SG verfahrensfehlerhaft nicht einbezogen worden ist (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 96 Rn. 12a). Dieser Bescheid hat den ursprünglich streitgegenständlichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. Mai 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2006 vollständig ersetzt. Abändern oder Ersetzen im Sinne des § 96 Abs. 1 SGG setzt voraus, dass der Regelungsgegenstand des neu einzubeziehenden Verwaltungsakts mit dem des früheren identisch ist, was durch Vergleich der in beiden Verwaltungsakten getroffenen Verfügungssätze festzustellen ist (vgl. BSG, Urteil vom 22. März 2018 – B 5 RE 12/17 B – juris Rn. 22 m.w.N.; B. Schmidt a.a.O. Rn. 4a mwN). Ein Ersetzen im Sinne dieser Norm ist hier gegeben. Der Bescheid vom 26. Juni 2008 ist vollständig an die Stelle des früheren getreten. Dieser Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten.
Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Januar bis 30. September 2005 kommt, anders als mit der Begründung des Bescheides vom 26. Juni 2008 angegeben, nicht § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch – Sozialverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X), sondern nur § 40 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 SGB II (i.d.F. vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954, a.F.) i.V.m. § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X in Betracht. Aufgrund des jedenfalls seit 2003 laufenden Bezugs der Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die zu Unrecht nicht als Einkommen des Klägers i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II anspruchsmindernd seit dem 1. Januar 2005 bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten berücksichtigt wurde (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 2007 – B 14/7b AS 20/07 R – juris Rn. 15), war der Bescheid vom 1. Dezember 2004 anfänglich objektiv rechtswidrig i.S.d. § 45 Abs. 1 SGB X. Zwar wäre die Tatsache, dass der gegenständliche Bescheid als Rechtsgrundlage für die Aufhebung § 48 SGB X nennt, bei Vorliegen zumindest grober Fahrlässigkeit des Klägers irrelevant, weil in diesem Fall ein Rücknahmeermessen des Beklagten gemäß §§ 40 Abs. 1 SGB II a.F. i.V.m. 330 Abs. 2 SGB III von vornherein nicht eröffnet und die Vorschrift auf dasselbe Ziel wie § 48 SGB X gerichtet wäre. So liegt es hier indes nicht.
Eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers i.S.d. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 SGB X ist zur Überzeugung des Senats nach dessen persönlicher Anhörung im Verhandlungstermin vom 19. Dezember 2018 nicht im Vollbeweis feststellbar. Der Senat ist vielmehr davon überzeugt, dass im Zuge der Erstantragstellung des Klägers eine Beratung i.S.d. § 14 SGB I stattgefunden hat, die die Frage gegebenenfalls vorhandenen Einkommens des Klägers und seiner Ehefrau zum Gegenstand hatte und vom Kläger auch zutreffend beantwortet wurde. Denn bereits aus den Leistungsakten des Beklagten folgt übereinstimmend mit dem Vortrag des Klägers, dass die im Oktober 2004 mit dem Antrag befasste Sachbearbeiterin des Beklagten dem Kläger unter Verwertung einer Vielzahl vorgelegter Unterlagen und insbesondere des AlHi-Bescheides beim Ausfüllen des "Zusatzblatts" zum Einkommen behilflich war, welches jener sodann eigenhändig unterschrieben hatte. Soweit der Beklagte geltend macht, der Kläger habe seinerzeit, anders als dieser behaupte, den Bescheid über die Unfallrente bzw. die Anpassungsmitteilung nicht vorgelegt, kann dies dahinstehen. Denn ausweislich der im Original vorliegenden Leistungsakten hat der Kläger jedenfalls den Bescheid über den Bezug von Anschluss-AlHi – neben sämtlichen anderen einkommens- und vermögensrelevanten Unterlagen – vorgelegt, aus dem sich zweifellos die Anrechnung von Einkommen im Rahmen der bis zum 31. Dezember 2004 gewährten AlHi ergibt. Ein bewusstes bzw. grob fahrlässiges Verschweigen ist bereits danach zweifelhaft. Selbst wenn aber davon auszugehen sein sollte, wie der Beklagte meint, dass sich ihm trotz ausdrücklicher Nennung des Anrechnungsbetrages im AlHi-Bescheid der Bezug weiteren Einkommens nicht aufdrängen musste und der Kläger insofern nicht seiner Mitteilungspflicht genügt habe, ist die Behauptung, der Kläger habe den Bezug der Unfallrente bewusst oder jedenfalls grob fahrlässig nicht angezeigt, bei dieser Sachlage nicht ansatzweise plausibel, da er im Übrigen – im Einklang mit dem Informationsblatt – sämtliche einkommensrelevanten Unterlagen vorgelegt hatte, sich dagegen, wie ausgeführt, die Anrechnung seines Einkommens bereits aus dem AlHi-Bescheid ergabt. Im Hinblick auf die letztlich erst 2011 höchstrichterlich geklärte Rechtsfrage der Anrechenbarkeit der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung als Einkommen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. März 2011 – 1 BvR 591/08 u.a. – juris) kommt auch eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers im Sinne eines Kennenmüssens der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 1. Dezember 2004 – für eine positive Kenntnis fehlt es von vornherein an jeglichen Anhaltspunkten – nicht in Betracht. Dem Kläger, der im Jahr 2004 – ebenso wenig wie der Beklagte – mit dem zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen SGB II vertraut war, musste auch nach seinem subjektiven Empfängerhorizont unter Berücksichtigung seiner beruflicher Vorbildung und seinen sonstigen Fähigkeiten die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 1. Dezember 2004 im Falle der Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht ins Auge springen.
Wie mit dem Beklagten im Übrigen bereits in der mündlichen Verhandlung ausführlich erörtert worden ist, ist der Bescheid vom 26. Juni 2008 im Übrigen rechtswidrig, weil die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht gewahrt ist. Dies, wie der Beklagte ausgeführt hat, anders zu sehen, verlautbart schon im Ansatz keine Umstände, die für die Wahrung der Ausschlussfrist sprechen könnten.
Gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss die Behörde die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit i.S.d. Satzes 1 innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Nach der Begründung des Bescheides vom 26. Juni 2008 hat die danach maßgebliche Tatsachenkenntnis mit der Stellungnahme des bevollmächtigten Klägers auf eine Anhörung vom 28. April 2006 und insofern dem Abschluss der Ermittlungen vorgelegen. Indes dürfte es sich hierbei um das Anhörungsschreiben vom 27. März 2006 und die hierzu erfolgte Stellungnahme des bevollmächtigten Klägers vom 5. April 2006 gehandelt haben, mithin dürfte bereits zu jenem Zeitpunkt die entscheidungserhebliche Tatsachenkenntnis für eine Rücknahme für die Vergangenheit vorgelegen haben, was im Ergebnis allerdings dahinstehen kann. Denn die Jahresfrist, die mit der Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen läuft, mithin spätestens im Zeitpunkt des Erlasses des ersten Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 11. Mai 2006 gegeben war, ist in jedem Fall verstrichen.
Diese Frist stellt – anders als der Beklagte offenbar ohne weitere Begründung meint – eine nicht verlängerbare oder aufhebbare Ausschlussfrist dar, die weder unterbrochen noch entsprechend den Vorschriften des BGB gehemmt werden kann. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X hat vielmehr nach herrschender höchstrichterlicher Rechtsprechung abschließenden Charakter (vgl. nur BSG, Urteil vom 2. Juli 1997 – 9 RV 14/96 – juris Rn. 21 m.w.N.: "Die Behörde soll durch § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X gezwungen werden, innerhalb der einjährigen Frist eine abschließende Entscheidung zu treffen, gleichgültig, ob der Betroffene Vertrauensschutz verdient oder nicht. Bei einer Unterbrechung der Rücknahmefrist durch den Erlass des – ersten – Rücknahmebescheides gewönne die Behörde einen weiten Zeitrahmen für ersetzende weitere Bescheide. Hebt die Behörde (oder das Verwaltungsgericht) den ersten (rechtswidrigen) Rücknahmebescheid auf und erlässt sie binnen sechs Monaten einen neuen, ersetzenden VA, würde bei Anwendung der Unterbrechungsregeln gemäß § 212 Abs. 2 Satz 1 BGB die Rücknahmefrist durch den ersten Rücknahmebescheid als unterbrochen gelten. Da dies für jede weitere Aufhebung des Rücknahmebescheides ebenfalls gelten würde, hätte die Behörde es in der Hand, den Ablauf der der Rechtssicherheit dienenden Jahresfrist unübersehbar weit hinauszuschieben"). Die Jahresfrist ist hiernach verstrichen; die Umdeutung der auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X gestützte Aufhebung in eine solche, ebenfalls rückwirkende Aufhebung nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ist ausgeschlossen. Das Vertrauen des Klägers, der die mit dem Bescheid vom 1. Dezember 2004 gewährten existenzsichernden Leistungen – zumal angesichts des zwischenzeitlichen Verzichts auf eine Rückforderung mit Bescheid vom 4. April 2006 – verbraucht hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X), ist vielmehr schutzwürdig mit der Folge, dass die Voraussetzungen für eine Erstattung gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X ebenso wenig gegeben sind, der Bescheid vom 26. Juni 2008 mithin insgesamt aufzuheben war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
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