L 4 KR 585/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 29 KR 1177/14
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 585/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Zur Frage der Anwendbarkeit der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3 a SGB V bei der "Project Walk" Trainingsmethode
2. Ein erhebliches Versorgungsdefizit bei der Versorgung von Patienten mit Querschnittslähmung liegt in Deutschland vor allem im Hinblick auf die bestehenden Querschnittszentren nicht vor.
3. Die Behandlungsmethode "Project Walk" hat derzeit noch nicht den Status erreicht, dass sie von der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute befürwortet wird.
4. Zu grundrechtsorientierten Auslegung des § 18 Abs. 1 SGB V nach einer eingetretenen imkompletten Tetraparese.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12. Oktober 2016 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Erstattung der im Zeitraum 27.02.2014 bis 31.05.2015 angefallenen Kosten für die Teilnahme am Trainingsprogramm "Project Walk" in C., USA, nebst weiteren in diesem Zusammenhang angefallenen Kosten.

Die 1991 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Im Januar 2006 war sie bei einem Reitunfall verunglückt und hatte dabei eine Trümmerfraktur des 4. und 5. Halswirbelkörpers erlitten. Seither ist sie querschnittsgelähmt (inkomplette Tetraparese unterhalb C4).

Am 12.03.2014 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten für ein Training im Rahmen des "Project Walk" in C., USA. Seit dem 27.02.2014 sei sie wieder in den USA. Beigefügt war eine ärztliche Bescheinigung des Arztes für Naturheilverfahren P. W. vom 11.03.2014, in der mitgeteilt wird, dass die Klägerin bereits vom 23.11.2013 bis 23.12.2013 auf eigene Kosten im Trainingszentrum "Project Walk" gewesen sei, wo sie bis zu fünf Stunden täglich an Therapie-Programmen teilgenommen und signifikante Fortschritte erzielt habe.

Vorgelegt wurde eine Kostenaufstellung für die Monate März bis Oktober 2014, in der die voraussichtlichen Therapiekosten mit monatlich 5.201,09 EUR (62,25 h à 79,71 EUR) veranschlagt werden. Ferner werden u. a. Kosten für die angemietete Wohnung (1.750 EUR), Unterstützung (2.000 EUR), Auto (1.000 EUR), und Flüge (Kosten variieren) aufgeführt.

Die Beklagte erklärte sich mit Bescheid vom 14.04.2014 bereit, im Rahmen einer Einzelfallentscheidung und ohne präjudizierende Wirkung für künftige Anfragen sich im angegebenen Zeitraum vom 01.03.2014 bis 31.10.2014 an den Kosten der im Trainingsprogramm "Project Walk" stattfindenden Therapie mit monatlich 800 EUR zu beteiligen.

Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29.08.2014). In Deutschland stünden adäquate Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zudem habe die Klägerin mit der Therapie in den USA schon vor Antragsstellung begonnen, so dass die Krankenkasse keine Möglichkeit gehabt habe, im Vorfeld beratend tätig zu werden und ggf. Alternativen aufzuzeigen.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht München hat die Klägerin vorgetragen, dass es in Deutschland keine geeigneten Trainingszentren gebe. Von Reha-Einrichtungen in Deutschland und EU-weit habe sie immer die Antwort erhalten, bei einem so hohen Querschnitt könne man nichts machen. "Project Walk" sei eine weltweit einzigartige Therapieeinrichtung, die ein individuelles Trainingsprogramm mit hochintensivem Training anbiete. Sie habe damit Erfolge erzielt, die sie in Deutschland nicht hätte erzielen können.

Ihr Bevollmächtigter hat eine Kostenaufstellung für den Zeitraum März 2014 bis Februar 2015 vorgelegt über einen Gesamtbetrag von 106.845 EUR, der sich aus den Behandlungskosten für "Project Walk" (48.650 EUR), Mietkosten (21.000 EUR), Betreuungskosten (18.000 EUR), Kosten für Flüge und Mietwagen (16.855 EUR), Mietkosten für ein behindertengerechtes Bett (1.740 EUR) und Kosten für Fahrdienste (600 EUR) zusammensetzt.

In einer Stellungnahme des MDK vom 27.04.2015 wird ausgeführt, dass dem Trainingsprogramm "Project Walk" die Annahme zugrunde liege, dass durch intensives Training über eine Hochregulation von BDNF (brain derived neurotrophic factor) die Regeneration von Nervenzellen gefördert werde und auf diese Weise fehlende Funktionen wiederhergestellt werden könnten. Tatsächlich gäbe es keine klinischen Studien, die gezeigt hätten, dass eine intensive Trainingstherapie zu einer Verbesserung der motorischen Funktionen bei Menschen mit chronischer inkompletter Querschnittslähmung führen könne. Systematische Studien, insbesondere zur Methode "Project Walk", lägen nach aktueller PubMed Recherche nicht vor. Ein klinisch relevanter Nutzen der Methode sei bisher nicht bewiesen. Die Methode entspreche nicht dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. In Deutschland gäbe es eine Reihe von Einrichtungen, die als spezialisierte Querschnittszentren anerkannt seien. In diesem Zusammenhang werde auf das Europäische Konsortium zur Erforschung der Rückenmarkschädigungen (EMSC) verwiesen. Die beteiligten Einrichtungen seien wissenschaftlich tätig (klinische Studien, Grundlagenforschung). Zum anderen böten sie im Rahmen der jeweiligen Kliniken eine Querschnittsbehandlung auf aktuellem wissenschaftlichem Stand an, darunter eine Lokomat-Therapie, ein robotergestütztes Gangtraining, das dem von "Project Walk" durchgeführten Training ähnele. Regelmäßige Untersuchungen in einem spezialisierten Zentrum böten die Möglichkeit, im Falle einer Änderung des neurologischen Befundes Maßnahmen zur intensiven rehabilitativen Behandlung einzuleiten. Damit sei eine dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung im Inland verfügbar.

Das Sozialgericht hat den neurologischen Gutachter am Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Medizin der Luftwaffe W. mit der Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung der Klägerin beauftragt und um Beantwortung folgender Fragen gebeten:

1. Welche Behandlungsmethoden werden bei dem hier in Rede stehenden und derzeit nur in Amerika durchgeführten "Project Walk" im Rahmen der Erkrankung angewandt?
2. Inwieweit unterscheidet sich die Behandlung von der in Deutschland bzw. in der EU (inklusive dem europäischen Wirtschaftraum) durchgeführten Behandlungen für Erkrankungen, wie sie die Klägerin hat? Wie gravierend sind gegebenenfalls vorliegende Unterschiede?
3. Lässt sich die Behandlungsmethode "Project Walk" als eigenständige Behandlungsmethode einordnen oder handelt es sich nur um eine neue Zusammenstellung bereits bekannter, auch in Deutschland bzw. EU/ EWR praktizierter Behandlungsformen?
4. Entspricht die Behandlungsmethode in Bezug auf die Erkrankung der Klägerin dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse?
5. Gibt es in Deutschland, der EU/ EWR andere Behandlungsmöglichkeiten für die Erkrankung der Klägerin, die dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und vergleichbare Ergebnisse bringen?

Der Sachverständige hat die Klägerin Anfang April 2016 in den USA besucht und das Training beobachtet. Eine Untersuchung der Klägerin ist aufgrund einer Erkrankung der Klägerin nicht möglich gewesen.

Im Gutachten vom 19.03.2016 kommt der Sachverständige zu folgenden Ergebnissen:

Zu Frage 1: Es würden passive Dehnübungen durchgeführt, um Kontrakturen entgegenzuwirken und Spastiken zu minimieren, ferner Kräftigungsübungen der Rumpf- und proximalen Extremitätenmuskulatur. Dabei kämen Geräte zum Einsatz, die auch in Deutschland verwendet würden (den Vorgaben aus dem "Konzept zur trägerübergreifenden umfassenden Behandlung und Rehabilitation querschnittsgelähmter Menschen" entsprechend), allerdings mit vielfachen Modifikationen (z.B. in ihrer Nutzfläche stark vergrößerte Bobathliegen). Bei dem angestellten Personal handele es sich um Physiotherapeuten mit mehrjähriger Berufserfahrung.

Zu Frage 2: Die Trainingsmethoden seien im großen Ganzen die gleichen, der Hauptunterschied sei die Herangehensweise. Während man in Deutschland versucht habe, dass die Klägerin mit der Spastik gehen könne, sei im Rahmen des "Project Walk" zunächst das Ziel, von der Spastik loszukommen. Das Ziel, wieder gehen zu können, komme bei "Project Walk" an allerletzter Stelle. Dies sei besser, da es der Bewegung eines "gesunden" Menschen mittels willkürlicher Muskelkontraktion entspreche. Auch die Dauer der Trainingseinheiten unterscheide sich deutlich von dem in Deutschland und der EU üblichen Procedere, wo mehr als eine Stunde pro Trainingseinheit schon unüblich sei. Die bei "Project Walk" als normal veranschlagten drei Stunden täglich ermöglichten eine deutlich höhere Trainingsintensität und brächten - wie neuere Studien zeigten - einen signifikanten Fortschritt der motorischen Funktion.

Zu Frage 3: Das Projekt sei eine neue Zusammenstellung bereits bekannter und wissenschaftlich anerkannter Behandlungsmethoden, jedoch mache im speziellen Fall der Klägerin gerade die neue Zusammenstellung den Unterschied aus. "Project Walk" habe nicht zum Ziel, den Patienten in möglichst kurzer Zeit alltagstauglich zu machen, sondern in einem großzügig angelegten Zeitraum ihn möglichst viele der verlorenen Fähigkeiten wieder erlernen zu lassen und die gesündere natürliche Muskelkontraktion zu nutzen.

Zu Frage 4: Den Status, dass "die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute die Behandlungsmethode befürwortet, habe "Project Walk" noch nicht erreicht.

Frage 5: Selbstverständlich gäbe es in Deutschland bzw. der EU andere Behandlungsmöglichkeiten für die Erkrankung der Klägerin, die dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprächen. Es gäbe aber in Deutschland bzw. der EU keine Einrichtung/Methode, welche Hoffnung auf ein ähnliches Ergebnis wie PW machen könne, da die Zielsetzung unterschiedlich sei.

Mit Stellungnahme vom 03.05.2016 hat die Beklagte ausgeführt, dass es sich bei "Project Walk" um eine neue Behandlungsmethode handele. Ein Anerkennungsverfahren hierfür sei im Inland nie betrieben worden, es liege auch keine positive Empfehlung von Seiten des GBA vor.

In einer ergänzenden Stellungnahme hat der Sachverständige geäußert, dass es denkbar sei, die spezifische Zusammenstellung der Trainingseinheiten unter Einfluss der besonderen Project-Walk-Herangehensweise nach Deutschland zu transferieren, also dort in ähnlicher Weise durchzuführen. Er habe kein generelles Versorgungsdefizit in Deutschland festgestellt, sondern nur geäußert, dass die in Deutschland durchgeführten Maßnahmen ab einem bestimmten Punkt bei der Klägerin keine signifikanten Fortschritte mehr gebracht hätten.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 12.10.2016 die Klage abgewiesen. Ein Anspruch aufgrund Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) komme vorliegend nicht in Betracht. Für einen Anspruch auf teilweise oder vollständige Kostenübernahme nach § 18 Abs. 1 SGB V fehle es an dem dafür notwendigen erheblichen Versorgungsdefizit in Deutschland. Der Begriff "Project Walk" fasse eine Vielzahl von Behandlungsmaßnahmen zusammen, die in Deutschland bzw. in der EU dem Grunde nach ebenfalls angeboten werden. Wesentliche Unterschiede seien der sehr viel höhere personelle und zeitliche Aufwand und eine andere Herangehensweise. Welches Konzept - das der größtmöglichen Wiederherstellung der Selbstständigkeit oder das der größtmöglichen Wiederherstellung der Körperfunktionen - im Einzelfall das richtige sei, sei gerichtlicherseits nicht zu entscheiden. Entscheidungserheblich sei, ob in Deutschland bzw. in der EU für die Erkrankung der Klägerin nach Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 SGB V) ausreichende Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung stünden. Dies könne insbesondere nach den gutachterlichen Feststellungen nicht verneint werden. Die Methode "Project Walk" sei als anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnisse derzeit noch als unsicher anzusehen und komme damit als Vergleichsbehandlungsmethode dem Grunde nach (§ 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V) nicht in Frage. Auch könne ein Wirksamkeitsvergleich mit den in Deutschland zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden gerade nicht stattfinden, da in diesem Zeitraum keine Behandlung in Deutschland stattgefunden habe. Eine eindeutige qualitative Überlegenheit der Projekt-Walk-Methode sei in keiner Weise ausreichend zu belegen. Notwendig wäre dazu - wie grundsätzlich im Krankenversicherungsrecht (Ausnahmen seien nur in besonderen Fällen möglich, BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005,1 BvR 347/98) - der allgemein nachgewiesene Wirkzusammenhang und nicht nur ein individueller Wirkzusammenhang, wie er hier durch die Klägerin hauptsächlich thematisiert worden sei.

Dagegen hat die Klägerin Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben und auf die Entscheidung des BVerfG vom 06.12.2005, 1 BvR 347/98, verwiesen. Danach sei maßgebend, ob die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspreche. Dies sei hier der Fall.

Die Beklagte hat ausgeführt, dass weder vorgetragen noch belegt sei, dass die Klägerin mit einem der 26 Querschnittszentren in Deutschland Kontakt aufgenommen habe und entweder keine Behandlungskapazitäten zur Verfügung gestanden hätten oder eine Aufnahme der Klägerin aus anderen Gründen abgelehnt worden sei. Im ambulanten Rahmen erfolge die Behandlung Querschnittsgelähmter insbesondere durch Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage und Ergotherapie in mehreren Varianten. Die Überlegenheit der Project-Walk-Methode sei nicht nachgewiesen. Auch aus dem Gutachten des Sachverständigen W. ergäben sich keine validen Studien, die eine Überlegenheit dieser Behandlung bewiesen. "Project Walk" stelle ein experimentelles Verfahren dar.

Die Beklagte hat das Pflegegutachten des MDK vom 12.06.2015 übersandt, in dem festgestellt wird, dass sich bei der Klägerin im Vergleich zum Vorgutachten (13.01.2011) keine pflegestufenrelevanten Veränderungen ergeben hätten.

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat angegeben, dass es mit "Project Walk" keinen schriftlichen Vertrag gegeben habe. Man habe lediglich bei Wochenbeginn der Leitung mitgeteilt, wann und in welchem Umfang man Stunden nehmen wolle.

Die Beklagte erklärte dazu, dass es offenbar kein Training nach einem ärztlichen Behandlungsplan gegeben und keine ärztliche Kontrolle stattgefunden habe.

Im Übrigen wird, insbesondere zur Berichtigung des bisherigen Berufungsantrags, auf die Niederschrift der Sitzung am 22.11.2018 verwiesen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.10.2016 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.08.2014 zu verpflichten, die Kosten der Klägerin für die Teilnahme am "Project Walk", C., USA, vom 27.02.2014 bis 28.02.2015 in Höhe von 106.845,00 EUR zu übernehmen, hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, den Antrag der Klägerin vom 12.03.2014 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts und der Beklagtenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.

Das Sozialgericht München hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil zu Recht abgewiesen. Die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der im Zeitraum 27.02.2014 bis 28.02.2015 angefallenen Kosten für die Teilnahme am Trainingsprogramm "Project Walk" nebst weiteren in diesem Zusammenhang angefallenen Kosten.

Nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ruht der Anspruch auf Leistungen, solange Versicherte sich im Ausland aufhalten, soweit im Sozialgesetzbuch nichts Abweichendes bestimmt ist.

Als davon abweichende Regelung stellt § 30 Abs. 2 SGB I klar, dass Vorschriften des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt bleiben. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA gibt es zwar ein Sozialversicherungsabkommen (Abkommen vom 7. Januar 1976 - BGBl II 1358 - i.d.F. der Zusatzabkommen vom 2. Oktober 1986 - BGBl II 1988, 83 - und vom 6. März 1995 - BGBl II 1996, 302). Dieses betrifft jedoch keine Rechtsvorschriften des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung.

Ein Anspruch auf Kostenerstattung lässt sich nicht mit Erfolg auf eine fiktive Genehmigung nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V stützen. Nach Überzeugung des Senats handelt es sich bei der von der Klägerin in Anspruch genommenen "Project Walk"-Trainingsmethode um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation, welche nach § 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V vom sachlichen Anwendungsbereich der Genehmigungsfiktion nicht erfasst wird (vgl. dazu BSG, Urteil v. 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R). "Project Walk" umfasst im Wesentlichen - wenn nicht ausschließlich - physiotherapeutische Trainingseinheiten, welche nach ihrem Schwerpunkt und ihrer Zielrichtung die bestehenden Behinderungen der Klägerin günstig beeinflussen sollen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Damit waren die Trainingseinheiten bei "Project Walk" von vornherein nicht der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V zugänglich.

Doch selbst wenn der Schwerpunkt der in Anspruch genommenen Maßnahmen im kurativ-therapeutischen Bereich anzusiedeln wäre, käme ein Anspruch aufgrund fingierter Genehmigung nicht in Betracht. Denn die Klägerin hatte sich von Anfang an darauf festgelegt, die Behandlungen im Ausland außerhalb des EU-/EWR-Raums durchführen zu lassen, und damit eine Leistung beantragt, die grundsätzlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegt. Zudem war dem Antrag keine ärztliche Verordnung der gewünschten Therapie bei "Project Walk" beigefügt. Damit lag nach Überzeugung des Senats bereits kein genehmigungsfähiger Antrag vor.

Mögliche Anspruchsgrundlage für die geltend gemachten Kosten ist damit allein § 18 Abs. 1 und Abs. 2 SGB V. Diese Regelung erlaubt es der Krankenkasse im Falle einer Behandlung außerhalb des Geltungsbereichs des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ausnahmsweise die Kosten der erforderlichen Behandlung einschließlich notwendiger Begleitleistungen ganz oder teilweise zu übernehmen, wenn eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung nur im Ausland möglich ist.

§ 18 Abs. 1 SGB V ist grundsätzlich auch auf Rehabilitationsmaßnahmen anwendbar (BSG vom 06.03.2012, B 1 KR 17/11 R, juris Rn. 20).

Der Primäranspruch des § 18 Abs. 1 SGB V ist auf Kostenübernahme gerichtet. Die Regelung lässt aber auch - nach entsprechender vorheriger Antragstellung und rechtswidriger Ablehnung der Kostenübernahme durch die Krankenkasse - Kostenerstattung zu. Dabei ist der in § 13 Abs. 3 SGB V vorgeschriebene Beschaffungsweg auch im Rahmen des § 18 SGB V einzuhalten (BSG, a.a.O., Rn. 17, 18).

Die Klägerin hat vorliegend bereits den Beschaffungsweg nicht eingehalten, da sie mit dem Trainingsprogramm "Project Walk" schon vor Antragstellung begonnen hatte. Sie war auch fest entschlossen, unabhängig vom Ausgang des Antragsverfahrens die Therapie für einen geraumen Zeitraum in Anspruch zu nehmen, wie insbesondere das eigens für die geplante Therapie erfolgte Anmieten einer Wohnung in C. sowie die im März 2014 vorgelegte Kostenaufstellung für die Monate März bis Oktober 2014 zeigen.

Bei laufenden Leistungen oder sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Behandlungen ist zwar die ablehnende Entscheidung der Krankenkasse im Allgemeinen als Zäsur anzusehen (vgl. dazu BVerfG vom 19.03.2009, 1 BvR 316/09). Die Kostenerstattung ist dann in aller Regel nur für diejenigen Leistungen ausgeschlossen, die bis zum Zeitpunkt der Entscheidung auf eigene Rechnung beschafft worden sind. Im vorliegenden Fall spricht allerdings viel dafür, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem ablehnenden Bescheid und den danach in Anspruch genommenen Behandlungen in den USA gerade nicht vorhanden ist.

Letztlich kann diese Frage jedoch offenbleiben. Denn die mit Bescheid vom 14.04.2014 ergangene Ablehnung einer Kostenbeteiligung, welche über die angebotenen 800 EUR monatlich für den Zeitraum 3/14 bis 10/14 hinausgeht, ist nicht zu Unrecht erfolgt.

§ 18 Abs. 1 SGB V knüpft eine volle oder teilweise Übernahme der Kosten einer Behandlung außerhalb des EU-/EWR-Raums an zwei Bedingungen, die kumulativ erfüllt sein müssen: Die im Ausland angebotene Behandlung muss dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und im Inland bzw. im EU-/EWR-Raum darf keine diesem Standard entsprechende Behandlung der beim Versicherten bestehenden Erkrankung möglich sein. Beide Voraussetzungen liegen nicht vor.

Für den Senat steht außer Zweifel, dass die bei der Klägerin vorliegende Verletzungsfolge einer inkompletten Tetraparese unterhalb C4 in Deutschland bzw. innerhalb des EU-/EWR-Bereichs entsprechend dem allgemeinen Stand der Wissenschaft behandelt werden kann. Ebenso steht für den Senat fest, dass die in den USA praktizierte Behandlungsmethode "Projekt Walk" (noch) nicht für sich in Anspruch nehmen kann, dem allgemeinen Stand der Wissenschaft zu entsprechen.

Dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft entspricht eine Behandlung, wenn sie nicht nur von einzelnen Ärzten, sondern von der großen Mehrheit der fachlich relevanten Kapazitäten (Ärzte, Wissenschaftler) befürwortet wird. Von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, muss quantitativ und qualitativ über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens bestehen, was voraussetzt, dass Wirksamkeit und Qualität der Therapie zuverlässig und wissenschaftlich nachprüfbar dokumentiert sind (Noftz in: Hauck/Noftz SGB V, § 18, Rn 14 b). Maßgeblich für die Beurteilung ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Behandlung (Noftz, a.a.O., Rn 14d).

Die Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es allein in Deutschland 26 Querschnittszentren gibt, die sich auf die Behandlung dieser Verletzungsfolge spezialisiert haben. Die genannten Einrichtungen sind aufgrund des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V verpflichtet, ihre Leistungen entsprechend dem allgemeinen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu erbringen. Die genannten Querschnittszentren gehören dem Europäischen Konsortium zur Erforschung der Rückenmarkschädigungen an und sind selbst wissenschaftlich tätig. Dass sie eine Behandlung auf aktuellem wissenschaftlichem Niveau anbieten, ist auch von der Klägerseite nicht in Zweifel gezogen worden.

Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin in keinem der Zentren einen Behandlungsplatz erhalten hat und damit ein Versorgungsdefizit in Deutschland bestehen könnte, liegen nicht vor. Nach ihren Angaben hat sie vielmehr bislang kein Interesse an einer Behandlung in einem Querschnittszentrum gehabt.

Ein im Rahmen des § 18 SGB V erhebliches Versorgungsdefizit liegt grundsätzlich erst dann vor, wenn für die jeweilige Krankheit im EU/EWR- Raum überhaupt keine Behandlungsmethode zur Verfügung steht, die dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Dies ist hier eindeutig nicht der Fall.

Darüber hinaus wird eine Versorgungslücke auch dann angenommen, wenn eine Behandlung nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse im Inland zwar generell möglich ist, aber im konkreten Fall wegen des spezifischen Krankheitsbildes des Versicherten individuell keinen Erfolg verspricht. Auch eine solche Konstellation liegt hier nicht vor. Dass speziell die Klägerin aufgrund spezifischer Besonderheiten einer anderen Behandlung bedarf als Patienten mit vergleichbaren Verletzungsfolgen, ist nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht erkennbar.

Eine Versorgungslücke im Sinne von § 18 Abs. 1 SGB V kann nach der Rechtsprechung des BSG auch dann vorliegen, wenn die ausländische Behandlungsmethode der inländischen qualitativ eindeutig überlegen ist (BSG, 06.03.2012, B 1 KR 17/11 Rn 27). Das sei, so das BSG in der erwähnten Entscheidung, etwa dann der Fall, wenn im Inland nur symptomatisch, im Ausland dagegen kausal - die Krankheitsursache beseitigend - behandelt werde. Die Überlegenheit könne sich auch im Rahmen eines Vergleichs lediglich symptomatisch behandelnder Therapien ergeben. Aber auch in einem so gelagerten Fall müssen die im Ausland erbrachten Behandlungen im Zeitpunkt der Leistungserbringung den Kriterien des in § 2 Abs. 1 Satz 3 geregelten Qualitätsgebots entsprechen (BSG vom 07.05.2013, B 1 KR 26/12 R), d. h. die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute muss die Behandlungsmethode befürworten und es muss Konsens über die Zweckmäßigkeit bestehen.

Dies ist bei der Behandlungsmethode "Project Walk" nicht der Fall, wie sich den Ausführungen des MDK sowie dem Gutachten des Sachverständigen W. klar entnehmen lässt. Der Sachverständige stellt in seinem Gutachten ausdrücklich fest, dass die Behandlungsmethode "Project Walk" noch nicht den Status erreicht hat, dass sie von der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute befürwortet wird. Es fehlen unabhängige Studien nach anerkannten wissenschaftlichen Standards zur Wirksamkeit der Methode.

Die Klägerin kann sich zu ihren Gunsten auch nicht auf eine grundrechtsorientierte Auslegung des § 18 Abs. 1 SGB V berufen. Nach der Rechtsprechung des BSG besteht ein Leistungs- und Kostenerstattungsanspruch nach dieser Rechtsgrundlage auch dann, wenn für Versicherte eine nach den Inlandsmaßstäben grundrechtsorientierter Leistungsbestimmung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu beanspruchende Leistung nur im Ausland möglich ist (BSGE 106, 81; BSG, Urteil vom 07.05.2013, B 1 KR 26/12 R, Rn 13). Eine verfassungskonforme Auslegung kommt nicht nur bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden, sondern auch bei wertungsmäßig damit vergleichbaren Erkrankungen wie einer drohenden Erblindung in Betracht.

Die grundrechtsorientierte Auslegung einer Regelung des SGB V über einen Anspruch auf Übernahme einer Behandlungsmethode zu Lasten der GKV setzt voraus, dass folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind (vgl. BSG, a.a.O., Rn 15):

(1) Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung oder wertungsmäßig damit vergleichbaren Erkrankung vor.
(2) Bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung.
(3) Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine "auf Indizien gestützte", nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin nicht alle erfüllt.

Es liegt bereits keine lebensbedrohliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vor. Für die dogmatische Erfassung der "wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung" orientiert sich die Rechtsprechung an der "extremen" bzw. "notstandsähnlichen" Situation der krankheitsbedingten Lebensgefahr (vgl. Hauck/Noftz, SGB V, § 2 Rn 76 e). Das BSG ist bei einem akut drohenden Verlust eines wichtigen Sinnesorgans (Augenlicht) von einer vergleichbaren Erkrankung ausgegangen.

Im Falle der Klägerin ist zunächst zu konstatieren, dass eine notstandsähnliche Situation mit akuter Lebensgefahr oder einem drohendem Verlust einer wichtigen Körperfunktion im Zeitpunkt der Antragstellung und danach nicht vorlag. Die Verletzungsfolgen in Gestalt einer inkompletten Tetraparese unterhalb C4 waren bei der Klägerin bereits eingetreten. Mit der beantragten Behandlung sollte nicht die (schon vorliegende) Querschnittslähmung verhindert, sondern eine spürbare Besserung, ja sogar Heilung herbeigeführt werden.

In der oben erwähnten Entscheidung des BSG vom 07.05.2013, B 1 KR 26/12 R, auf die sich der Klägerbevollmächtigte zuletzt berufen hat, hat es das BSG nicht völlig ausgeschlossen, dass die Auswirkungen einer infantilen Zerebralparese mit Bewegungsstörungen, einer spastischen Tetraplegie und einer ausgeprägten statomotorischen Retardierung beim dortigen Kläger eine Ausprägung erreichen, welche allgemein für eine grundrechtskonforme erweiternde Auslegung des Leistungsrechts der GKV zu fordern ist. Im Ergebnis hat es aber offengelassen, ob in dem von ihm zu entscheidenden Fall eine Erkrankung vorliegt, die wertungsmäßig einen Schweregrad etwa wie bei einer völligen Erblindung erreicht.

Im Vergleich dazu stellen sich die bei der Klägerin bestehenden Verletzungsfolgen als weniger schwerwiegend dar. Die Klägerin leidet nicht an einer Tetraplegie, d.h. an einer vollständigen Lähmung der vier Extremitäten, sondern an einer inkompletten Tetraparese, also einer unvollständigen Lähmung der vier Extremitäten. Kopf- und Augenkontrolle sowie die Sprachmotorik sind nicht - wie bei dem Versicherten in dem vom BSG entschiedenen Fall - regelmäßig erschwert.

Dessen ungeachtet steht im Falle der Klägerin eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung (s.o.).

Schließlich ist zu beachten, dass auch im Rahmen der grundrechtsorientierten Auslegung der Arztvorbehalt nach § 15 Abs. 1 SGB V zu beachten ist. Nach dem Vortrag der Klägerin hat sie aufgrund eigener Recherchen die Behandlungsmethode "Projekt Walk" ausfindig gemacht und mit dem Trainingszentrum von "Projekt Walk" auf eigene Faust Therapiestunden vereinbart. Es ist nicht erkennbar, dass die Behandlung in den USA in irgendeiner Form unter ärztlicher Verantwortung stand. Ärztliche Verordnungen für die in Anspruch genommenen physiotherapeutischen Leistungen im Trainingszentrum "Project Walk" wurden nicht vorgelegt (§ 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V).

Da bereits die Voraussetzungen für eine Erstattung der Kosten nach § 18 Abs. 1 SGB V nicht vorliegen, kommt auch eine Übernahme der weiteren Kosten gemäß § 18 Abs. 2 SGB V nicht in Betracht.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved