L 1 U 576/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 1649/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 576/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 11.01.2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X die Anerkennung und Entschädigung von Unfallfolgen sowie die Gewährung einer Verletztenrente streitig.

Der 1966 geborene Kläger war bei der Firma Sch.-H. KG als Arbeiter in einem Sägewerk beschäftigt. Am 27.07.2009 löste sich beim Versuch eines Kollegen, ein eingeklemmtes Holzteil mit einem Vorschlaghammer zu lösen, der Hammerkopf vom Stiel und traf den Kläger am Hinterkopf. Der Durchgangsarztbericht vom 28.07.2009 nennt als Befund Schmerzen occipital (am Hinterkopf) ohne sichtbare Verletzung, eine Amnesie für weniger als drei Minuten und Schmerzen am rechten Oberarm. Die Röntgenuntersuchung habe keinen Hinweis auf eine frische knöcherne Verletzung ergeben. Als Erstdiagnose war eine Commotio cerebri und eine Oberarmprellung rechts gestellt worden. Der Kläger befand sich im Anschluss bis zum 29.07.2009 in den Kreiskliniken R. in stationärer Behandlung. Dort wurde von Dr. R. eine Commotio cerebri, Schädelprellung und Prellung rechter Oberarm diagnostiziert.

Am 03.09.2009 gab der Kläger bei einer Untersuchung in der Neurochirurgie der Kreiskliniken R. Schmerzen links occipital und ein Schwindelgefühl an. Nach dem Bericht des Neurochirurgen PD Dr. H. vom gleichen Tag bestanden bei der neurologischen Untersuchung keine Auffälligkeiten, insbesondere keine Reflexseitendifferenzen, keine Sensibilitätsstörungen und keine Paresen. Im Rahmen einer Kernspintomographie des Schädels ließen sich intrancraniell und am Knochen keinerlei Traumafolgen nachweisen.

Der HNO-Arzt Dr. B. berichtete am 28.09.2009, dass kein Schwindel mehr bestanden habe und keine weitere Therapie erforderlich sei.

Der Facharzt für Neurologie Dr. D. führte in einem Bericht vom 07.01.2010 aus, beim Kläger bestünden in der Zusammenschau posttraumatischer Kopfschmerz vom Spannungstyp. In einem Bericht vom 09.02.2010 der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T. wird über unklare für unfallunabhängig gehaltene Kopfschmerzen und eine Schwindelsymptomatik berichtet.

Die Beklagte beauftragte sodann den Nervenarzt Dr. G. mit der Erstellung eines Gutachtens. In seinem Gutachten vom 22.06.2010 und ergänzender Stellungnahme vom 26.07.2010 führte Dr. G. aus, beim Kläger sei ein Schädelhirntrauma II, ein Verdacht auf einen Zustand nach einer Commotio labyrinthi, eine Periarthropathia humeroscapularis links - welche wahrscheinlich posttraumatisch sei - sowie eine depressive Anpassungsstörung zu diagnostizieren. Er schätze die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 50 v.H. bis zum 01.12.2010 ein.

Die Beklagte holte sodann beim Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. einen "Neurologisch -Psychiatrischen Befundbericht" vom 24.09.2010 nach einer Untersuchung des Klägers am 21.09.2010 ein. Dr. L. diagnostizierte einen Zustand nach Schädelhirntrauma allenfalls Grad 1, ein jetzt ausgeprägtes Schmerzsyndrom an der Halswirbelsäule mit erheblichen Gefühlsstörungen bei C4/5 links und möglicherweise einen Bandscheibenvorfall sowie eine leichte bis mittelgradige depressive Episode. An der depressiven Symptomatik bestünden keine Zweifel. Da ein Schmerzsyndrom an der Wirbelsäule und am Schädel aber nicht belegbar sei, lasse sich die depressive Symptomatik nicht als Anpassungsstörung interpretieren. Dem Gutachten des Dr. G. sei nicht zu folgen. Auf seinem Fachgebiet seien keine Unfallfolgen mehr nachzuweisen. Die Annahme einer leichten Contusio cerebri oder eines Frontalhirnsyndroms sei eine reine Spekulation und durch nichts zu begründen.

Mit Bescheid vom 19.10.2010 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 27.07.2009 ab. Zur Begründung führte sie aus, es liege nur eine abgeheilte Prellung des Hinterkopfes vor. Ein Schmerzsyndrom an der Halswirbelsäule mit Gefühlsstörungen bei C4/5 links, eine Hörminderung links und eine depressive Episode lägen unabhängig vom Arbeitsunfall vor.

Einen Widerspruch des Klägers hiergegen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.03.2011 als unbegründet zurück.

Hieran schloss sich ein erstes Klageverfahren vor dem Sozialgericht Reutlingen (SG) an (S 7 U 746/11). Im damaligen Klageverfahren holte das SG nach Befragung des Nervenarztes Dr. D. als sachverständigen Zeugen ein Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. St. ein. Dieser führte in seinem Gutachten vom 24.02.2012 sowie einer ergänzenden Stellungnahme vom 08.03.2013 aus, die durch den Unfall verursachte Gehirnerschütterung habe zu passageren Hirnfunktionsstörungen mit Bewusstlosigkeit und einer ca. 15- bis 20-minütigen Erinnerungslücke geführt. Wie jede Gehirnerschütterung sei sie folgenlos abgeheilt. Neurologische Folgen hätten zu keinem Zeitpunkt bestanden. Ein Zusammenhang zwischen der bestehenden undifferenzierten Somatisierungsstörung und dem Unfallereignis könne nicht als wahrscheinlich angesehen werden.

Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG holte das SG zudem ein neurologisches Gutachten bei Dr. R. (Kliniken Sch. G.) ein. Dieser führte unter Berücksichtigung eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens vom 23.08.2012 und eines psychiatrischen Gutachtens vom 10.09.2012 in seinem Gutachten vom 04.10.2012 sowie ergänzenden Stellungnahmen vom 27.06.2013 und 25.07.2013 aus, beim Kläger bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung und eine somatoforme Schmerzstörung. Beide Gesundheitsstörungen seien auf den Unfall vom 27.02.2009 zurückzuführen. Im Vordergrund des klinischen Bildes stehe die posttraumatische Belastungsstörung. Diese schätze er mit einer MdE von 50 v.H. ein. Die somatoforme Schmerzstörung schätze er mit 30 v.H. ein. Integrierend sei von einer MdE um 50 v.H. auszugehen.

In der Zeit vom 17.07.2013 bis 01.10.2013 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung in der Fachklinik für Psychosomatik M. B. Klinik.

Die damalige Klage wies das SG mit Urteil vom 16.12.2013 ab und führte zur Begründung u.a. aus, eine posttraumatische Belastungsstörung sei nicht im Vollbeweis nachgewiesen. Selbst wenn man eine solche Erkrankung unterstellten wollte, ergäben sich im Rahmen einer Kausalitätsabwägung viele Anhaltspunkte dafür, dass das Unfallereignis für die Entstehung der posttraumatischen Belastungsstörung nicht die wesentliche Ursache sein könne.

Eine hiergegen eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) mit Beschluss vom 26.09.2014 zurück (L 9 U 260/14).

Am 09.11.2015 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheides vom 19.10.2010 und legte einen Arztbrief des Arztes für Chirurgie Dr. B. vom 15.09.2015 vor, in dem dieser ein chronisches Schmerzsyndrom als Folge des Unfalls vom 27.07.2009 annimmt, sowie einen Entlassungsbrief der O.-Klinik GmbH vom 28.08.2015 über eine stationäre Behandlung vom 18.08.2015 bis 28.08.2015.

In der Zeit vom 13.10.2015 bis 10.11.2015 befand sich der Kläger in einer stationären Heilbehandlung in der M.-B.-Klinik in K ... Der dortige Entlassbericht enthält u.a. die Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung.

Mit Bescheid vom 15.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2016 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 19.10.2010 ab.

Hiergegen hat der Kläger am 30.06.2016 Klage zum SG erhoben und zur Begründung auf die Feststellungen des Dr. B. sowie auf den Entlassungsbericht der M.-B.-Klinik in K. vom 21.12.2015 Bezug genommen.

Das SG hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ein psychiatrisches Gutachten bei Dr. B., Universitätsklinikum T., eingeholt. In seinem Gutachten vom 07.04.2017 sowie in einer ergänzenden Stellungnahme vom 05.09.2017 hat Dr. B. u.a. ausgeführt, es hätten sich keine klaren Hinweise bezüglich einer posttraumatischen Belastungsstörung gefunden. Immer wieder zeige sich aber im Vordergrund die Schmerzsymptomatik sowie ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit. Diagnostisch liege eine somatoforme Störung vor mit Beginn quasi unmittelbar nach dem Unfallereignis, die sich inzwischen zu einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung entwickelt habe und zu der sekundär eine depressive Episode (aktuell mittelgradig) hinzugetreten sei. Die Erkrankungen stünden in einem kausalen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall. Der Arbeitsunfall stelle neben anderen negativen Einflussfaktoren im Verlauf eine nicht hinwegdenkbare Ursache dar, sodass eine wesentliche Teilursächlichkeit des Arbeitsunfalls aus medizinischer Sicht klar zu bejahen sei. Die Erkrankungen stünden in einer Kausalitätskette zu dem Unfall. Es sei eine MdE von 50 v.H. gegeben.

Die Beklagte hat beratungsärztliche Stellungnahmen des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, Sozialmedizin Dr. H. vom 13.07.2017 sowie 16.10.2017 vorgelegt, in denen dieser das Gutachten des B. als nicht überzeugend wertet.

Mit Urteil vom 11.01.2018 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, das Gutachten des Dr. B. sei nicht überzeugend. Es fehle am hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall vom 27.07.2009 und der beim Kläger vorhandenen somatoformen Schmerzstörung sowie den depressiven Episoden.

Gegen das am 23.01.2018 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13.02.2018 Berufung eingelegt und zur Begründung auf die Gutachten des Dr. G. und des Dr. B. Bezug genommen. Seit dem Unfall habe sich der Kläger in seiner Persönlichkeit völlig verändert.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 11.01.2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2011 abzuändern und als Folgen des Arbeitsunfalles vom 27.07.2009 eine mittelgradige depressive Episode sowie eine somatoforme Schmerzstörung anzuerkennen und eine Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. ab 25.01.2011 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie erachtet das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und hält im Übrigen an ihrer Entscheidung fest.

Mit Schreiben vom 29.11.2018 hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers mitgeteilt, dass der Kläger mit einer Entscheidung gemäß § 153 Abs.4 SGG einverstanden sei. Der Senat hat die Beteiligten hieraufhin mit Schreiben vom 03.12.2018 zu einer Entscheidung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG angehört.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Nach § 153 Abs. 4 SGG kann der Senat – nach vorheriger Anhörung der Beteiligten – in Ausübung seines richterlichen Ermessens die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des Senats einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Den Beteiligten wurde im Vorfeld der Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Die Sache weist in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine besonderen Schwierigkeiten auf, darüber hinaus haben sich im Berufungsverfahren wesentliche neue Tatsachen nicht ergeben.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig; insbesondere ist sie statthaft, nachdem Berufungsausschließungsgründe (vgl. §§ 143, 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG) nicht eingreifen.

Die Berufung ist allerdings nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2011, mit dem eine Verletztenrente als Folge des Arbeitsunfalls vom 27.07.2009 abgelehnt wurde. Der Bescheid der Beklagten vom 15.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.06.2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers auf Abänderung des Bescheides vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2011 ist § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Hiernach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung (§ 77 SGG) eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (BSG, Urteil vom 04.02.1998 - B 9 V 16/96 R = SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSG, Urteil vom 28.01.1981 - 9 RV 29/80 = BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 5; BSG SozR 2200 § 1268 Nr. 29).

Die Voraussetzungen für eine Korrektur der angegriffenen Entscheidung der Beklagten nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind nicht erfüllt. Anhaltspunkte für eine unrichtige Rechtsanwendung oder für einen neuen Sachverhalt liegen nicht vor.

Der Kläger hat in Folge des am 28.07.2009 erlittenen Arbeitsunfalls keinen Anspruch auf Verletztenrente. Nach § 26 Abs. 1 SGB VII haben Versicherte wegen nachgewiesener Gesundheitsschäden, deren wesentliche Ursache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Versicherungsfall ist, Anspruch auf Entschädigungsleistungen u. a. in Form von Heilbehandlung (§ 27 SGB VII) oder Geldleistungen (Verletztengeld, § 45 SGB VII, und Rente, § 56 SGB VII). Nach § 56 Abs. 1 SGB VII erhalten Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, eine Rente. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente; die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern, § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VII.

Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Bei dem Ereignis vom 28.07.2009 hat es sich – was zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist - um einen Arbeitsunfall gehandelt. Beim Kläger sind infolge dieses Arbeitsunfalls jedoch keinerlei gesundheitliche Schäden in rentenberechtigendem Ausmaß verblieben. Dies ergibt sich für den Senat aus dem umfassenden und überzeugenden Gutachten des Dr. St ...

Es lässt sich kein dauerhafter Gesundheitsschaden und damit auch keine MdE feststellen, der bzw. die auf den Arbeitsunfall vom 27.07.2009 zurückzuführen ist. Das Vorliegen eines Gesundheitserstschadens bzw. eines Gesundheitsfolgeschadens (Unfallfolgen) muss im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen. Dagegen genügt für den Nachweis der (wesentlichen) Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitserst- bzw. -folgeschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings nur die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 02.04.2009 - B 2 U 29/07 R -, juris, Rn 16).

Der Kläger hat als Folge des Unfalls vom 27.07.2009 nachweisbar eine Commotio cerebri und eine Oberarmprellung rechts (jeweils als Erstschaden) erlitten, die allerdings beide folgenlos ausgeheilt sind. Dr. St. hat in seinem Gutachten nachvollziehbar dargelegt, dass die durch den Unfall verursachte Commotio cerebri zu passageren Hirnfunktionsstörungen mit Bewusstlosigkeit und einer circa 15 bis 20minütigen Erinnerungslücke geführt hat, jedoch wie jede Gehirnerschütterung folgenlos ausgeheilt ist und zu keinem Zeitpunkt zu neurologischen Folgen geführt hat. Hinsichtlich der erlittenen Oberarmprellung rechts wurde bereits im Zwischenbericht der A.-Klinik M. vom 03.11.2009 über keine Störungen mehr berichtet.

Soweit der Kläger seinen Rentenanspruch mit einer unfallbedingten PTBS begründet, lässt sich bereits nicht mit ausreichender Sicherheit feststellen, dass er überhaupt an einer solchen Erkrankung leidet. Vielmehr wurde diese Diagnose mit nachvollziehbarer und überzeugender Begründung von Dr. St. (und später im Übrigen auch von Dr. B.) ausgeschlossen. Die Diagnose einer PTBS ist nach den hierzu heranzuziehenden Diagnosesystemen der ICD-10 oder DSM-IV (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung aus dem Jahr 1994) oder der jetzigen revidierten Fassung DSM-5 (zu dem Erfordernis einer Diagnosestellung nach einem anerkannten Diagnosesystem, vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R -, BSGE 96, 196-209, SozR 4-2700, § 8 Nr. 17; juris, Rn 22 f) nicht im Vollbeweis gesichert. Nach ICD-10 (F 43.1) wird für die Diagnose einer PTBS eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die fast bei jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, gefordert. Nach DSM-IV und DSM-5 müssen neben dem Traumakriterium (dem sog A-Kriterium) auf den nächsten Stufen (dem B- und C-Kriterium) bestimmte Symptome vorliegen, so beim B-Kriterium das Vorhandensein eines oder mehrerer der folgenden Symptome des Wiedererlebens (Intrusionen), die auf das oder die traumatische Ereignisse bezogen sind und die nach dem oder den traumatischen Ereignissen aufgetreten sind; u.a. wiederkehrende, unwillkürlich sich aufdrängende belastende Erinnerungen, wiederkehrende, belastende Träume, dissoziative Reaktionen wie Flashbacks, usw. Hinzu kommt für das C-Kriterium z.B. eine anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem oder den traumatischen Ereignissen verbunden sind und die nach dem oder den traumatischen Ereignissen begannen. Soweit eine PTBS vom Gutachter Dr. R. befürwortet wurde, hat Dr. St. hat in seinem Gutachten überzeugend herausgearbeitet, dass weder eine mit der erforderlichen Sicherheit nachvollziehbare intersubjektive Katastrophenhaftigkeit des Unfallgeschehens, noch eine tatsächliche tiefgreifende seelische Erschütterung im Unfallkontext im Sinne des Traumakriteriums (sog A-Kriterium) einer PTBS nachweisbar ist. Hinsichtlich des B- oder Wiedererlebenskriterium hat Dr. St. zutreffend darauf hingewiesen, dass die kritische Frage eines Traumaerlebens bei einem Menschen mit (einer den Unfall betreffenden) Amnensie im Gutachten des Dr. R. nicht schlüssig thematisiert und beantwortet wird. Mit Blick auf das C-oder Vermeidungskriterium hat Dr. St. als Ergebnis seiner Begutachtung festgehalten, dass weder ein klares Vermeidungsverhalten noch ein Hyperarousal feststellbar waren. Vor diesem Hintergrund teilt der Senat die Kritik des Dr. St. am Gutachten des Dr. R., welches strukturelle und inhaltliche Defizite aufweist und zutreffend vom 9. Senat des LSG im rechtskräftigen Urteil vom 26.09.2014 (L 9 U 260/14) als nicht überzeugend gewertet wurde.

Der Kläger leidet hingegen objektiv nachweisbar an einer undifferenzierten Somatisierungsstörung, welche – wie Dr. St. nachvollziehbar ausgeführt hat – immer auch mit einer leichten Depressivität verbunden ist. Während Dr. St. eine eigenständige Depression zum Zeitpunkt seiner Untersuchung im Februar 2012 überzeugend begründet ausschließen konnte, wurde vom Gutachter Dr. B. bei der Untersuchung im Februar/März 2017 ausgeführt, die Somatisierungsstörung habe sich zu einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung entwickelt und hierzu sei sekundär eine depressive Episode (aktuell mittelgradig) hinzugetreten, ohne dass in diesem Gutachten jedoch eine klare Abgrenzung zwischen organisch (somatisch) begründbaren Beschwerden des Klägers und den für somatoform gehaltenen Beschwerden erfolgt. Ob letztere Erkrankungen vor diesem Hintergrund im Vollbeweis nachgewiesen wurden, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, da weder die fragliche somatoforme Schmerzstörung noch die fraglich hieraus folgende Depression mit Wahrscheinlichkeit im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung auf den Unfall vom 27.07.2009 und den hierdurch bedingten Erstschaden (in Form der Commotio cerebri) zurückzuführen sind.

Eine Einstandspflicht der Beklagten besteht nur dann, wenn sich durch eine Handlung des Geschädigten, die den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt, ein Risiko verwirklicht hat, gegen dessen Eintritt nicht die Unfallversicherung "allgemein", sondern der jeweils durch die Handlung erfüllte Versicherungstatbestand schützen soll. Die Zurechnung des Schadens eines Versicherten zum Versicherungsträger erfordert daher zweistufig die Erfüllung erstens tatsächlicher und zweitens darauf aufbauender rechtlicher Voraussetzungen. Die Verrichtung der versicherten Tätigkeit muss die Einwirkung und in gleicher Weise muss die Einwirkung den Gesundheitserstschaden sowohl objektiv (1. Stufe) als auch rechtlich wesentlich (2. Stufe) verursacht haben (BSG, Urteil vom 13.11.2012 – B 2 U 19/11 R –, juris, Rn. 32 ff).

Vorliegend liegen bereits die Voraussetzungen für Zurechnung auf der ersten Stufe nicht vor. Auf der ersten Stufe setzt die Zurechnung voraus, dass die Einwirkung durch die versicherte Verrichtung objektiv (mit)verursacht wurde. Wirkursachen sind nur solche Bedingungen, die erfahrungsgemäß die infrage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig oder hinreichend herbeiführen. In der gesetzlichen Unfallversicherung muss eine versicherte Verrichtung, die im Sinne der "conditio-sine-qua-non Formel" eine erforderliche Bedingung des Erfolges (stets neben anderen Bedingungen) war, darüber hinaus in einer besonderen tatsächlichen (und auf der 2. Stufe dann auch rechtlichen) Beziehung zu diesem Erfolg stehen. Sie muss Wirkursache des Erfolges gewesen sein, muss ihn tatsächlich mitbewirkt haben und darf nicht nur eine (bloß im Einzelfall nicht wegdenkbare) zufällige Randbedingung gewesen sein. Ob die versicherte Verrichtung eine Wirkursache für die festgestellte Einwirkung (und dadurch für den Gesundheitserstschaden) war, ist eine rein tatsächliche Frage. Sie muss aus der nachträglichen Sicht (ex post) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen (gegebenenfalls unter Einholung von Sachverständigengutachten) beantwortet werden (BSG, Urteil vom 13.11.2012, a.a.O.). Vorliegend besteht weder eine generelle Eignung des Unfallereignisses zur Herbeiführung der psychischen Erkrankungen des Klägers als Gesundheitserstschaden, noch besteht ein Zurechnungszusammenhang zwischen dem Gesundheitserstschaden in Form einer Commotio cerebi und der bestehenden psychischen Erkrankung ("haftungsausfüllende Kausalität"). Der Senat nimmt insoweit zunächst auf die Ausführungen des 9. Senats des LSG im rechtskräftigen Urteil vom 26.09.2014 (L 9 U 260/14) Bezug, mit denen sich dieser der Bewertung Dr. St. angeschlossen hat, wonach die beim Kläger bestehende Somatisierungsstörung nicht mit Wahrscheinlichkeit im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung auf das Unfallereignis vom 27.07.2009 zurückzuführen ist. Dementsprechend ist auch eine hinzugetretene Verschlimmerung dieser unfallunabhängigen Grunderkrankung nicht kausal auf den Unfall zurückzuführen. Dr. St. hat nachvollziehbar ausgeführt, dass in der ersten Zeit nach dem Unfall zunächst keine psychischen Auffälligkeiten wie eine Depressivität beschrieben wurden, sich eine mittelgradige depressive Episode erst im Laufe der Zeit entwickelt hat und sich diese durch Behandlung in der S. Klinik (2010) und in der F.-Klinik (2011) wieder besserte, so dass zum Zeitpunkt seiner Untersuchung (Februar 2012) nur noch eine leichtere psychische Störung in Form einer undifferenzierten Somatisierungsstörung feststellbar war. Dr. St. beschrieb als auffällig, dass der Kläger immer noch davon überzeugt war, er habe eine Gehirnblutung erlitten, obwohl dies bereits einen Tag nach dem Unfall durch eine Kontrollcomputertomographie in der A.-Klinik M. ausgeschlossen wurde. Zwar ist es nach der gutachterlichen Bewertung Dr. St. möglich, aber nicht wahrscheinlich, dass es durch die beschriebenen Ängste zur Entwicklung der Somatisierungsstörung gekommen ist. Dr. St. hat plausibel herausgearbeitet, dass eine solche kausale Verkettung nach allgemeiner nervenärztlicher Erfahrung nicht zu erwarten ist, so dass ein Zusammenhang zwischen undifferenzierter Somatisierungsstörung und dem Unfallereignis als nicht wahrscheinlich angesehen werden kann.

Soweit demgegenüber Dr. B. in seinem Gutachten annimmt, die psychischen Erkrankungen des Klägers stünden in einem kausalen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall, vermochten die diesbezüglichen Ausführungen Dr. B. den Senat nicht zu überzeugen. Dr. B. hat den von ihm angenommenen kausalen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall im Wesentlichen damit begründet, dass somatoforme Schmerzstörung und Depression in einem zeitlichen Zusammenhang stünden und der Unfall vom 27.07.2009 neben "anderen negativen Einflussfaktoren eine nicht hinwegdenkbare Ursache" darstelle und damit wesentlich teilursächlich sei. Das SG hat zutreffend ausgeführt, dass es dem Gutachter mit der gegebenen Begründung nicht gelungen ist, die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhanges darzulegen. Die gegenüber Dr. St. abweichende Beurteilung der philosophisch-wissenschaftlichen Kausalität durch Dr. B. ist auch für den Senat nicht überzeugend. Dr. B. hat es insbesondere unterlassen, die beim Kläger neben dem Unfallereignis vorliegenden erheblichen psychischen Belastungen als mögliche Alternativursachen festzustellen. Der Kläger war - wie das SG bereits mit Urteil vom 16.12.2013 (S 7 U 746/11) betont hat - sowohl vor als auch nach dem Arbeitsunfall ganz erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt (Gewalterfahrungen als Kind in der T.; versuchte Vergewaltigung im Alter von etwa 9 bis 10 Jahren; Ersthelfer bei einem schweren Verkehrsunfall mit drei Toten und einem Schwerverletzten im Jahr 1999; Selbstmordversuch einer seiner Töchter im Jahr 2011; Verkehrsunfall von Nichte und zwei Neffen im Jahr 2012; später Konflikte mit der Ehefrau, finanzielle Sorgen und Geburt eines behinderten Kindes der Tochter sowie ein Auffahrunfall im Jahr 2013, der – so die eigenen Angaben des Klägers – "prägend für den weiteren Verlauf" gewesen sei). Diese psychischen Belastungen wurden von Dr. B. - soweit er sie überhaupt erwähnt - im Rahmen seiner Kausalitätsbewertung argumentativ ausgeblendet. Er hat es damit bereits auf der ersten Stufe der erforderlichen Kausalitätsprüfung unterlassen, die Anknüpfungstatsachen zureichend zu ermitteln und mögliche Alternativursachen festzustellen. Die von Dr. St. abweichende Kausalitätsbeurteilung Dr. B. überzeugt vor diesem Hintergrund nicht.

Für die Feststellung, dass ein Wirkungszusammenhang zwischen der Erstverletzung des Kopfes des Klägers durch den Hammer und mit der heute bestehenden psychischen Beeinträchtigung nach dem aktuellen Stand des anerkannten medizinischen Erfahrungswissens vorliegt, reicht ein bloßer ... zeitlicher Zusammenhang nicht aus (BSG, Urteil vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44 Rn. 60). Dr. B. stützt die Begründung des Ursachenzusammenhangs aber maßgeblich auf diesen Aspekt. Es kommt hinzu, dass nach dem Gutachten Sachverständigen Dr. St. auch schon ein schlichter zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Gesundheitserstschaden und der hier streitigen Unfallfolge zweifelhaft erscheint.

Entsprechend der vorausgegangenen Ausführungen hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die Anerkennung (§ 102 SGB VII) einer mittelgradigen depressiven Episode sowie einer somatoformen Schmerzstörung als Folgen des Arbeitsunfalls vom 27.07.2009 durch die Beklagte. Der Senat kann daher offenlassen, ob die Beklagte mit dem zur Überprüfung stehendenden Bescheid vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2011 eine Entscheidung über die Feststellung von Unfallfolgen getroffen hat und sich das Überprüfungsbegehren überhaupt auf diese Fragestellung beziehen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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