S 18 SO 130/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
18
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 SO 130/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 27/19
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 25.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2016 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen eine Rückforderung in Höhe von (noch) 328,65 EUR.

Die 1961 geborene Klägerin stand während des hier streitbefangenen Zeitraums April bis Juli 2013 im Leistungsbezug bei dem Beklagten. Insgesamt erhielt sie 423,10 EUR Leistungen nach dem SGB XII - Kapitel 3. Unter dem 18.03.2015 sprach die Klägerin in den Diensträumen des Beklagten vor und erklärte, seit dem Jahr 2011 bestehe eine Vereinbarung mit dem Vermieter, wonach sie monatlich 150,00 EUR weniger an Miete überweise. Im Gegenzug verrichtete sie hausmeisterähnliche Tätigkeiten.

Nach Anhörung (09.06.2015) hob der Beklagte mit Bescheid vom 25.11.2015 die Bewilligungsbescheide vom 21.08.2013 für die Zeit von April bis Juli 2013 auf und machte einen Erstattungsanspruch in Höhe von 535,00 EUR geltend.

Hiergegen legte die Klägerin mit Schriftsatz vom 29.01.2016 Widerspruch ein und machte zunächst geltend, die Rückforderung stimme nicht mit den tatsächlichen Zahlungen überein. Das Einkommen aus Hausmeistertätigkeit von 150,00 EUR sei nicht in voller Höhe vom Bedarf bei der Leistungsberechnung abzuziehen. Es sei ein Einkommen aus Hausmeistertätigkeit zu berücksichtigen und um die gesetzlichen Freibeträge für Erwerbseinkommen zu vermindern. Die 150,00 EUR seien nicht von den Kosten der Unterkunft abzuziehen.

Mit Widerspruchsbescheid/Teilabhilfebescheid vom 22.08.2016 verminderte der Beklagte die Rückforderungssumme auf 328,65 EUR. Im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Auf den Inhalt der Entscheidung wird Bezug genommen.

Dagegen richtet sich die Klage vom 21.09.2016.

Die Klägerin trägt im Wesentlichen vor, die 150,00 EUR seien dem Nettoeinkommen zuzurechnen und nicht von den Kosten der Unterkunft abzuziehen.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 25.11.2015 in der Gestalt des Teilabhilfe-/ Widerspruchsbescheides vom 22.08.2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig und bezieht sich im Wesentlichen auf seinen Schriftsatz vom 24.10.2016. § 35 SGB XII erfasse nur die tatsächlichen Aufwendungen.

Dem Gericht lagen die Akten des Beklagten vor.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 SGG).

Sie ist auch begründet.

Der Bescheid vom 25.11.2015 in der Gestalt des Teilabhilfe-Widerspruchsbescheides vom 22.08.2016 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 54 Abs. 2 SGG.

Zutreffend hat sich der Beklagte zunächst bei seiner Entscheidung auf § 45 SGB X gestützt. Hiernach darf, soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, dieser, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 SGB X).

Zweifelhaft erscheint dem erkennenden Gericht zunächst, ob die am 21.08.2013 verfügte Leistungsbewilligung zu diesem Zeitpunkt für die Zeit von April bis Juli 2013 von Anfang an rechtswidrig war. Dies wäre nur dann der Fall, wenn - wie der Beklagte meint - bei der Berechnung der Unterkunftskosten der vom Vermieter abgezogene Betrag von 150,00 EUR nicht berücksichtigt wurde, jedoch hätte berücksichtigt werden müssen. "Tatsächliche Aufwendungen" für eine Wohnung nach § 35 SGB XII liegen nämlich nicht nur dann vor, wenn der Hilfebedürftige die Miete bereits gezahlt hat und deren Erstattung verlangt. Vielmehr reicht es aus, dass der Hilfebedürftige im jeweiligen Leistungszeitraum einer wirksamen und nicht dauerhaft gestundeten Mietzinsforderung ausgesetzt ist. Denn bei Nichtzahlung der Miete droht regelmäßig Kündigung und Räumung der Unterkunft. Zweck der Regelung über die Erstattung der Kosten für die Unterkunft ist es aber gerade, existenzielle Notlagen zu beseitigen und den Eintritt von Wohnungslosigkeit zu verhindern. Ein Hilfebedürftiger - so auch die Klägerin - nach dem SGB XII ist regelmäßig nicht in der Lage, die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung selbst zu tragen. Er wird, solange er im Leistungsbezug steht, regelmäßig auf die Übernahme der Unterkunftskosten durch den Sozialhilfeträger angewiesen sein. Insoweit kann es für die Feststellung, ob tatsächlich Aufwendungen für Unterkunft entstanden sind, nicht darauf angekommen, ob der Hilfebedürftige der Verpflichtung aus eigenen Mitteln - hier die Arbeitsleistung der Klägerin - wird nachkommen können oder in der Vergangenheit nachkommen konnte, auch nicht, ob die Aufwendungen anderweitig gedeckt wurden. Ausgangspunkt für die Frage, ob eine wirksame Mietzinsverpflichtung des Hilfebedürftigen vorliegt, ist in erster Linie der Mietvertrag, mit dem der geschuldete Mietzins vertraglich vereinbart worden ist. Vorliegend handelt es sich ausweislich der Angaben der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 15.01.2019 aber nicht um eine Verminderung der Mietzinsverpflichtung, sondern um eine Arbeitsleistung, die gerade die Mietzinsverpflichtung in Höhe von 440,00 EUR nicht verminderte.

Letztlich kann diese Frage jedoch dahinstehen. Denn der Beklagte war nicht berechtigt, die Leistungsbewilligung mit Wirkung ab April 2013, und somit für die Vergangenheit, zurückzunehmen. Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist regelmäßig schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen wieder rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte allerdings nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Dieser Fall erlaubt die Rücknahme des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X).

Der Klägerin kann nach dem persönlichen Eindruck, den sie gegenüber der erkennenden Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 15.01.2019 hinterlassen hat, nicht vorgeworfen werden, dass sie zumindest in grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung vom 21.08.2013 nicht erkannt hat. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X). Dabei wird grobe Fahrlässigkeit gemeinhin als Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes, d. h. eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung definiert, die das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigt; subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. nur LSG Hessen, Urteil vom 26.03.1999, L 10 AL 449/95). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, weil die Klägerin davon ausgehen konnte, dass sie nach Aufnahme der Hausmeistertätigkeit keinen geringeren Anspruch auf Sozialleistungen haben konnte.

Gegen die Annahme grober Fahrlässigkeit im vorliegenden Fall spricht zunächst, dass die Klägerin ausweislich des Bewilligungsbescheides vom 21.08.2013 vollkommen unterschiedliche Leistungshöhen zu verzeichnen hatte - diese schwankten zwischen 80,67 und 146,80 EUR. Infolgedessen war der Klägerin nicht ohne Weiteres möglich zu erkennen, in welchem Umfang ihr Leistungen für Kosten der Unterkunft anteilig für den geschuldeten Mietzins in Höhe von 440,00 EUR überhaupt zustanden.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin mit Blick auf ihre persönliche Situation in hohem Maße mit der Pflege ihrer Mutter ausgelastet war. Vor diesem Hintergrund ist leicht nachvollziehbar, dass nicht gleichzeitig in vollem Umfang von ihr nachgeprüft wurde, ob sich aus dem Umstand, dass sie Hausmeistertätigkeiten verrichtete, eine entsprechende Mitteilungspflicht an den Beklagten ergab, damit dieser ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren einleiten konnte.

Schließlich ist zu bedenken, dass die Vorprüfung, ob es sich bei dem Bescheid vom 21.08.2013 überhaupt um einen rechtswidrigen Bescheid handelte, eine nicht einfache Rechtsfrage darstellt. Wie bereits dargelegt, kann ohne Weiteres auch der Standpunkt vertreten werden, dass die 150,00 EUR dem Nettoeinkommen zuzurechnen sind und eben nicht den tatsächlichen Aufwendungen im Sinne des § 35 SGB XII unterfallen. Handelt es sich wie hier um eine Rechtsfrage, so kann dem Hilfebedürftigen hinsichtlich seiner eigenen Wertung nicht der Vorwurf grober Fahrlässigkeit gemacht werden. Dass die mit dem Vermieter getroffene Vereinbarung allein schon deshalb anzuzeigen ist, weil der gleichzeitige Bezug von Leistungen für Kosten der Unterkunft und Arbeitsentgelt miteinander unvereinbar sind, ist eben nicht allgemeinkundig. Das war nach dem persönlichen Eindruck, den die Klägerin auf das Gericht hinterlassen hat, auch für diese zumindest zweifelhaft.

Bei dieser Sachlage war der Klage mit der Kostenfolge aus § 193 SGG stattzugeben.

Die Berufung war gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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