S 83 KA 328/17

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
83
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 83 KA 328/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Für die Durchführung reiner Abrechnungsprüfungen ist die Prüfungsstelle nicht zuständig.
Der Beschluss vom 27.07.2017, geändert durch das Teilanerkenntnis vom 13.03.2019, wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten mittlerweile nur noch um die Honorarkürzung wegen Unwirtschaftlichkeit der abgerechneten Gebührenordnungspositionen (GOP) 03212 (Chonikerzuschlag) in den Quartalen IV/2011 bis III/2012. Der Kläger ist als Facharzt für Allgemeinmedizin zur vertragsärztlichen Versorgung in Berlin zugelassen. Mit Schreiben vom 18.04.2013 wurde der Kläger von der Prüfungsstelle für die Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung im Land Berlin darüber informiert, dass ein Verfahren der Zufälligkeitprüfung nach § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB V und den §§ 15 ff. der Prüfvereinbarung vom 14.02.2008 für das Ziehungsquartal III/2012 sowie für die drei Vorquartale II/2012, I/2012 und IV/2011 eingeleitet worden sei. Mit Schreiben vom 06.06.2016 bat die Prüfungsstelle den Kläger um Stellungnahme hinsichtlich der abgerechneten GOP 35110 (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) sowie der GOP 03212 (Chronikerzuschlag). Die Abrechnung der GOP, welche der Prüfungsstelle nicht nachvollziehbar erschienen, seien entsprechend in der mitgesandten Tabelle markiert. In ihrer Stellungnahme vom 17.06.2016 übersandte der Kläger hinsichtlich der beanstandeten GOP einen Ausdruck der Behandlungsscheine. Daran hatte er handschriftlich die weiteren vorliegenden Diagnosen ergänzt. Mit Bescheid vom 18.07.2016 setzte die Prüfungsstelle hinsichtlich der GOP 03212 und der GOP 35110 eine Honorarkürzung in Höhe von insgesamt 5.936,17 Euro fest. Bezugnehmend auf das Urteil des BSG vom 25.11.2010 sei anzumerken, die Nebendiagnosen kodier -bzw. abrechnungsfähig seien, sofern die Durchführung weiterer Leistungen nicht von der Versichertenpauschale abgedeckt sei. Die Angabe der Hauptdiagnose(n), wie z.B. Radikulopathie: Lumbalbereich, sonstige und nicht näher bezeichnete Gastroenteritis und Kolitis nicht näher bezeichneten Ursprungs, akute Infektion der oberen Atemwege, nicht näher bezeichnet, Skoliose, nicht näher bezeichnet, Gastritis, nicht näher bezeichnet, Bronchitis, nicht als akut oder chronisch bezeichnet, ließ aus Sicht der Prüfungsstelle nicht darauf schließen, weshalb es zu einem erhöhten Aufwand von Ressourcen gekommen sei. Auf den Abrechnungsunterlagen nach § 295 SGB V müsste der Kläger sich auf die Diagnosen beschränken, derentwegen der Patient im entsprechenden Quartal behandelt worden sei und für die er Leistungen abrechne. Der dagegen eingelegte Widerspruch des Klägers wurde mit Beschluss des Beklagten vom 27.07.2017 zurückgewiesen. Nachträglich gelieferte Erklärungen, welche Diagnosen oder Indikationsaufträge vorgelegen hätten, könnten entsprechend der Rechtsprechung mangels Angabe schon im Rahmen der seinerzeit eingereichten Abrechnungen im aktuellen Verfahren keine Berücksichtigung finden. Am 10.11.2017 hat der Kläger Klage erhoben. Er habe keine Diagnosen nachgeschoben, sondern lediglich vorhandene ICD10-Kodierungen aufgrund der Zufälligkeitsprüfung soweit berechtigt vervollständigt, um der Prüfstelle, bzw. dem Beschwerdeausschuss gegenüber den berechtigten Ansatz der GOP nachzuweisen. In anderen ihm bekannten Fällen seien solche Ergänzung durchaus akzeptiert worden. Es sei nicht rechtmäßig, dass ihm im Prüfverfahren und im Verfahren vor dem Beklagten keine Chance eingeräumt werde, mögliche Versäumnisse zu seinen Gunsten zu korrigieren. Es erschließe sich nicht, warum ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden sei, wenn schon aus formalen Gründen seine Begründung nicht akzeptiert würden. Nachdem der Beklagte in der mündlichen Verhandlung am 13.03.2019 ein Teilanerkenntnis abgegeben hatte, beantragt der Kläger nunmehr: Der Beschluss vom 27.07.2017, geändert durch das Teilanerkenntnis vom 13.03.2019, wird aufgehoben. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Zur Begründung verweist er auf sein Vorbringen im angefochtenen Bescheid. Ergänzend führt er unter anderem aus, dass ein Nachschieben von Gründen der Verpflichtung des Vertragsarztes zur peinlich genauen Abrechnung widerspräche. Auch im Rahmen einer Abrechnung sei der Vertragsarzt nicht berechtigt, andere Indikationen nachzuschieben, die seine angewandte GOP rechtfertigen könnte. Soweit der Kläger darauf Bezug nehme, dass in Einzelfällen auch von einem Regress abgesehen werden könne und eine Beratung an dessen Stelle treten könne, werde darauf hingewiesen, dass hier eine zwingende Beratung vor Durchführung eines Regresses nicht vorgesehen sei. Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt und sich nicht zur Sache geäußert. In der mündlichen Verhandlung am 13.03.2019 hat der Beklagte vor dem Hintergrund der Entscheidungen des SG Berlin vom 09.01.2019 (u.a. S 87 KA 77/18) ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass der Beschluss vom 27.07.2017 insoweit aufgehoben wird, als darin eine Kürzung für die GOP 35110 vorgenommen wurde. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte und die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer hat in der Besetzung mit einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten und einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Entscheidung konnte trotz Ausbleibens der Beigeladenen ergehen, weil diese ordnungsgemäß geladen und gemäß § 110 Abs. 1 SGG auf diese Möglichkeit hingewiesen wurden. Streitgegenstand des Verfahrens ist allein der Beschluss des Beklagten vom 27.07.2017, da er den Beschluss der Prüfungsstelle ersetzt (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BSG, Urteil vom 17. Oktober 2012 – B 6 KA 49/11 R, Rn. 18). Die zulässige Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist begründet. Der Beschluss vom 27.07.2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Anders als hinsichtlich der durchgeführten Zufälligkeitsprüfungen, bei denen es um die Honorarkürzungen aufgrund der Abrechnung u.a. der GOP 35100 und 35110 ging (vgl. SG Berlin, Urteil vom 09. Januar 2019 – S 87 KA 77/18; SG Berlin, Urteil vom 09. Januar 2019 – S 87 KA 325/17), war der Beklagte für die hier erfolgte Überprüfung nicht zuständig. Der Beklagte beruft sich auf § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB V und die §§ 15 ff. Prüfvereinbarung vom 14.02.2008. Vorliegend handelt es sich jedoch nicht um eine Wirtschaftlichkeitsprüfung, sondern um eine Abrechnungsprüfung nach § 106d Abs. 2 Nr. 2 SGB V, für welche die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen)zuständig sind. Hinsichtlich der Abgrenzung der Zuständigkeiten schließt sich die Kammer nach eigener Prüfung den Ausführen der 87. Kammer des SG Berlin (SG Berlin, Urteil vom 09. Januar 2019 – S 87 KA 77/18, Rn. 26 ff.) an: "Die durch die KVen durchzuführende Abrechnungsprüfung beziehungsweise sachlich rechnerische Richtigstellung ist auf die Übereinstimmung der vertragsärztlichen Abrechnung mit dem Regelwerk des EBM und der Honorarverteilungsregelungen sowie auf die Korrektheit der Abrechnung bezogen auf die Leistungserbringung und ihrer Zuordnung zu den Leistungspositionen des EBM gerichtet. Ein Unterfall der Abrechnungsprüfung ist auch die fehlende ICD Kodierung. Die Abrechnungsprüfung unterscheidet sich von der Wirtschaftlichkeitsprüfung, die für korrekt erbrachte und zugeordnete Leistungen deren medizinische Notwendigkeit und Effizienz auch im Verhältnis zu alternativen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden prüft (Hess in Kasseler Kommentar 80 EL 2013 § 106a Rn 4). Die Wirtschaftlichkeitsprüfung beinhaltet die Prüfung, ob die abgerechneten Leistungen ausreichend, zweckmäßig, für die Erzielung des Heilerfolgs notwendig und wirtschaftlich waren und ob das Maß des Notwendigen überschritten wird (Hess in Kasseler Kommentar 101.EL 2018 § 106 Rn 3). Regelmäßig ist die sachlich-rechnerische Richtigstellung durch die KVen vorrangig. Denn eine Honorarforderung eines Arztes kann nur dann sinnvoller Weise auf ihre Wirtschaftlichkeit geprüft werden, wenn sie sachlich-rechnerisch richtig und rechtmäßig ist. Honorarforderungen für fehlerhaft erbrachte Leistungen unterfallen nicht der Wirtschaftlichkeitsprüfung (BSG, Urteil vom 6. September 2006, B 6 KA 40/05 R Rn 19). Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind die Prüfgremien, die Prüfungsstelle und dann der Beklagte zuständig. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung erkennt das BSG eine so genannte Annexkompetenz der Prüfgremien zur Durchführung von sachlich-rechnerischen Honorarberichtigungen an. Diese ist nach der Rechtsprechung aber nur dann gegeben, wenn sich die Notwendigkeit der sachlich-rechnerischen Richtigstellung im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nachträglich ergibt und der Frage der Berechnungsfähigkeit einer Leistung im Verhältnis zur Wirtschaftlichkeit keine so überragende Bedeutung zukommt, dass eine Abgabe an die KV geboten wäre (vgl. BSG, Urteil vom 27. April 2005, B 6 KA 39/04 R Rn 19). Wenn der Schwerpunkt der Beanstandungen bei einer fehlerhaften Anwendung der Gebührenordnung liegt, müssten die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung das Prüfverfahren abschließen und der KV Gelegenheit geben, eine sachlich-rechnerische Richtigstellung durchzuführen (BSG, Urteil vom 6. September 2006, B 6 KA 40/05 R Rn 19). Eine randscharfe Abgrenzung und Trennung zwischen beiden Prüfungsarten ist nicht immer möglich. So kann auch der EBM unter Umständen normative Konkretisierungen des Wirtschaftlichkeitsgebotes enthalten. Ist eine Leistung für einen Arzt danach generell auszuschließen, handelt es sich um einen Fall der Abrechnungsprüfung, ist jedoch die Leistungserbringung nur an bestimmte Ausnahmetatbestände geknüpft, handelt es sich um einen Fall der Wirtschaftlichkeitsprüfung (vgl. BSG, Urteil vom 27. April 2005, B 6 KA 39/04 R Rn 22)." Anders als in den Fallkonstellationen, die den Entscheidungen des SG Berlin vom 09.02.2019 zugrunde lagen (SG Berlin, Urteil vom 09. Januar 2019 – S 87 KA 77/18; SG Berlin, Urteil vom 09. Januar 2019 – S 87 KA 325/17), hat der Beklagten nach Maßgabe der genannten Abgrenzungskriterien vorliegend keine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchgeführt. Der Unterschied liegt hier insbesondere darin, dass die Prüfungsstelle, bzw. der Beklagte hier die Prüfung nicht auf die Übereinstimmung mit einer auf der Grundlage des § 92 Abs. 1 SGB V erlassenen Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) stützt. Nach § 92 Abs. 1 S. 1 SGB V beschließt der G-BA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten (vgl. zur Zuständigkeit der Prüfgremien hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen der Psychotherapeuten-Richtlinie nach § 92 Abs. 6a SGB V ausführlich: SG Berlin, Urteil vom 09. Januar 2019 – S 87 KA 77/18 –, Rn. 26 ff; SG Berlin, Urteil vom 09. Januar 2019 – S 87 KA 325/17 –, Rn. 32 ff.). Vorliegend geht es allein um die Frage, ob die Abrechnung in Übereinstimmung mit dem Regelwerk des EBM erfolgte. Die GOP 03212 lautet wie folgt: "Zuschlag zu den Versichertenpauschalen nach den GOP 03110 bis 03112 für die Behandlung eines Versicherten mit einer oder mehreren schwerwiegenden chronischen Erkrankung(en) gemäß § 2 Abs. 2 der Richtlinie Gemeinsamen Bundesausschusses zur Definition schwerwiegender chronischer Krankheiten im Sinne des § 62 SGB V". Die sog. Chroniker-Richtlinie des G-BA definiert, wer als schwerwiegend krank gilt. § 2 Abs. 2 der Chroniker-Richtlinie lautet wie folgt: "Eine Krankheit ist schwerwiegend chronisch, wenn sie wenigstens ein Jahr lang, mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde (Dauerbehandlung) und eines der folgenden Merkmale vorhanden ist: a) Es liegt eine Pflegebedürftigkeit des Pflegegrades 3, 4 oder 5 nach dem zweiten Kapitel SGB XI vor. b) Es liegt ein Grad der Behinderung (GdB) oder ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 60 oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 60 % vor, wobei der GdB nach den Maßstäben des § 152 in Verbindung mit § 153 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX), der GdS nach den Maßstäben des § 30 Absatz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in Verbindung mit der Versorgungsmedizin-Verordnung und die MdE nach den Maßstäben des § 56 Absatz 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) festgestellt und zumindest auch durch die Krankheit nach Satz 1 begründet sein müssen. c) Es ist eine kontinuierliche medizinische Versorgung (ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, Arzneimitteltherapie, Behandlungspflege, Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln) erforderlich, ohne die nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die aufgrund der Krankheit nach Satz 1 verursachte Gesundheitsstörung zu erwarten ist". Die genannten Voraussetzungen enthalten keine Diagnosen, sondern ergänzen insoweit die GOP-Ziffer. Ohne Weiteres hätten die Voraussetzungen der schwerwiegenden chronischen Erkrankungen auch im EBM selbst geregelt werden können. Ein Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung ist allein durch die Inbezugnahme der Chroniker-Richtlinie nach § 62 Abs. 1 S. 8 SGB V nicht gegeben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Da die Beigeladenen keine eigenen Anträge gestellt haben und sich so keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben, entsprach es nicht der Billigkeit, dem Beklagten auch deren Kosten aufzuerlegen (§ 154 Abs. 3 VwGO).
Rechtskraft
Aus
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