L 2 U 238/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 U 5016/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 238/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Verwirklicht sich die Vorstellung des BSG nicht, dass man bei berechtigten Zweifeln an der Klageabsicht von einem vernünftig handelnden Kläger auszugehen habe und zu unterstellen sei, dass eine Rückfrage der Beklagten bei noch offener Frist so gut wie sicher die rechtzeitige Klarstellung der Klageabsicht zur Folge hätte, und stellt die Klägerin bei 3maliger Rückfrage nicht klar, dass eine Klage beabsichtigt war sondern bekundet ihren Willen zur Klage erst nach Fristablauf, liegt eine verfristete Klage vor.
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 17.06.2003 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1944 geborene Klägerin stürzte am 18.07.1995 beim Kirschenpflücken vom Baum.

Der Durchgangsarzt, der Chirurg Privatdozent Dr.S. , diagnostizierte eine schwere Commotio cerebri sowie eine Fraktur BWK 12 und LWK 1. Nach stationärer Behandlung der Klägerin vom 18.07. bis 02.08.1995 stellte Dr.S. die Diagnose stabile Kompressionsfraktur BWK 12 und LWK 1. Im Gutachten vom 31.01. 1996 führte er aus, es bestünden noch glaubhafte Hinterkopfschmerzen als Folgen der Commotio cerebri sowie Klopf- und Druckschmerz am BWS-LWS-Übergang, radiologische Veränderungen mit geringen Segmentkyphosen bei knöcherner Ausheilung und glaubhafte belastungsabhängige Beschwerden. Die MdE sei bis zum Dezember 1995 mit 20 v.H. zu bewerten.

Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 04.03.1996 eine einmalige vorläufige Rente für die Zeit vom 23.10.1995 bis 10.12.1995 nach einer MdE von 20 v.H. Auf den Widerspruch der Klägerin holte sie ein Gutachten des Chirurgen Dr.S. vom 22.12.1996 ein, der zu dem Ergebnis kam, Unfallfolgen seien ein unter Verformung knöchern fest verheilter Bruch des 12. Brust- und des 1. Lendenwirbels mit Beteiligung des Zwischenwirbelraums. Wahrscheinlich bestehe eine Verschlimmerung einer unfallfremden Verbiegung der unteren Wirbelsäule, weiter eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung der mittleren und unteren Wirbelsäule, die nur teilweise auf die Unfallfolgen zurückgeführt werden könne. Die MdE werde auf 20 v.H. eingeschätzt. Daraufhin gewährte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.1997 unter Aufhebung entgegenstehender Bescheide Rente nach einer MdE von 20 v.H ...

Im Gutachten vom 17.06.1997 führte Dr.S. aus, Unfallfolgen seien ein unter Verformung ausgeheilter Bruch des 12. Brust- und des 1. Lendenwirbelkörpers, Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule und subjektive Beschwerden. Die MdE werde durch die Unfallfolgen um 20 v.H. gemindert.

Privatdozent Dr.S. erklärte am 11.07.2000 die Klägerin klage über zunehmende Lumbalgien. Der Allgemeinarzt Dr.H. diagnostizierte am 03.08.2001 ein posttraumatisches Wirbelsäulensyndrom.

Die Klägerin beantragte am 27.11.2001 eine Rentenerhöhung, da sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert habe. Dr.D. wies darauf hin, dass die Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule nur zur Hälfte unfallbedingt seien. Dr.H. bestätigte am 10.04.2002, dass vor dem Unfall altersadäquate schicksalhafte degenerative Veränderungen bestanden hätten und die Ausheilung dadurch erheblich protrahiert gewesen sei. Die glaubhaft vorgetragenen Beschwerden und die objektiven Befunde zeigten, dass eine deutliche Progredienz des Leidens festzustellen sei. Die MdE betrage jetzt 35 v.H ...

Dr.S. führte im Gutachten vom 29.08.2002 aus, eine wesentliche Änderung sei im Vergleich mit dem maßgeblichen Befund vom 22.12.1996 nicht eingetreten. Unfallfolgen seien ein unter Verformung ausgeheilter Bruch des 12. Brust- und 1. Lendenwirbelkörpers, Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule und subjektive Beschwerden. Jetzt sei eine Befundverschlechterung eingetreten, die den mittleren und unteren Abschnitt der Lendenwirbelsäule betreffe und keinen Unfallzusammenhang aufweise. Auch die HWS-Beschwerden seien insgesamt als unfallunabhängig zu zu beurteilen.

Die Beklagte lehnte eine Erhöhung der bisherigen Rente mit Bescheid vom 24.09.2002 ab. Die Klägerin erhob Widerspruch am 08.10.2002 und führte aus, ihr Gesundheitszustand sei so schlecht, dass die MdE mit 20 v.H. zu niedrig angesetzt sei. Sie bitte, eine entsprechende Überprüfung vorzunehmen, da sie sich andererseits sozialgerichtliche Schritte vorbehalten wolle. Sie übersandte ein Attest des Dr.H. vom 08.10.2002, in dem ausgeführt wurde, der Krankheitsverlauf und der augenblickliche Gesundheitszustand seien mit einer MdE von 20 v.H. nicht hinreichend gewürdigt. Es sei eine MdE von 35 v.H. anzunehmen. Dr.D. erklärte in der Stellungnahme vom 29.10.2002, wegen der unfallbedingten Veränderungen der Wirbelsäule sei eine MdE von 20 v.H. gerechtfertigt. Im Attest des Hausarztes werde auf die Trennung der unfallbedingten und unfallfremden Wirbelsäulenveränderungen nicht eingegangen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.11.2002 zurück. Die Klägerin richtete ein Schreiben vom 27.12.2002 an die Beklagte, in dem sie ausführte: "Mit der Ablehnung meines Widerspruchs vom 08.10.2002 durch Ihr Schreiben vom 27.11.2002 bin ich nicht einverstanden. In der Angelegenheit werde ich anfangs Januar auf Sie zurückkommen."

Die Beklagte forderte die Klägerin mit Schreiben vom 20.01.2003 auf, mitzuteilen, ob ihr Schreiben als Klage gelten solle. Die Tochter der Klägerin bat telefonisch um Zusendung des Bescheides vom September 2002; die Klägerin wiederholte diese Bitte im Schreiben vom 02.02.2003. Mit Schreiben vom 05.02. 2003 bat die Beklagte die Klägerin erneut, mitzuteilen, ob das Schreiben vom 27.12.2002 als Klage gelten solle. Diese Bitte wiederholte sie mit Schreiben vom 06.03.2003.

Die Klägerin erklärte durch ihren Bevollmächtigten mit Schreiben vom 05.03.2003, eingegangen am 14.03.2003, sie habe mit Schreiben vom 21.02.2003 mitgeteilt, dass der Widerspruch als Klage betrachtet werden solle. Die Beklagte teilte dem Bevollmächtigten am 07.03.2003 telefonisch mit, dass ein Schreiben vom 21.02.2003 nicht vorliege. Am 12.03.2003 ging bei der Beklagten das Schreiben der Klägerin vom 21.02.2003 ein. In diesem Schreiben bat die Klägerin, den Widerspruch als Klage im Sinne einer gerichtlichen Überprüfung zu betrachten. Sie sei als ausgleichender und konfliktscheuer Mensch bereit gewesen, bei entsprechender Kulanz auf gerichtliche Schritte zu verzichten. Sie müsse aber um Verständnis bitten, dass sie ihre berechtigten Interessen einfordere.

Das Sozialgericht erklärte im Schreiben vom 23.05.2003, es sei davon auszugehen, dass die Klägerin, wenn sie tatsächlich hätte Klage erheben wollen, dies in der üblichen Weise getan hätte. Die Klägerin habe, wie aus dem Schreiben vom 21.02.2003 deutlich werde, keineswegs eine Klage erheben wollen, vielmehr die Beklagte zu einer positiven Überprüfung der Bescheide bewegen wollen, um so eine Inanspruchnahme der Gerichte überflüssig zu machen. Daher sei die Klage, die die Klägerin erst mit Schreiben vom 21.02.2003, eingegangen am 12.03.2003, erhoben habe, unzulässig.

Der Bevollmächtigte der Klägerin erwiderte mit Schreiben vom 10.06.2003, die Klägerin habe mit Schreiben vom 27.12.2002 nicht nur die Beklagte zu einer Überprüfung der Bescheide bewegen wollen. Sie bringe in diesem Schreiben deutlich zum Ausdruck, dass sie mit der Ablehnung ihres Widerspruchs nicht einverstanden sei. Dies sei so auszulegen, dass sie sich mit dem gesetzlichen Mittel gegen den Widerspruchsbescheid wenden wolle. Daher sei das Schreiben als Klage auszulegen. Nach herrschender Rechtsprechung sei eine äußerst großzügige Auslegung vorzunehmen. Dies werde üblicherweise auch vom Sozialgericht Regensburg so gehandhabt.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17.06.2003 abgewiesen. Mit dem Schreiben vom 27.12.2002 habe die Klägerin nicht Klage erhoben. Dem Schreiben sei nicht zu entnehmen, dass das Gericht in Anspruch genommen werden solle. Noch im Schreiben vom 21.02.2003 habe die Klägerin mitgeteilt, dass es ihr in dem früheren Schreiben lediglich um eine Gegenvorstellung gegangen sei.

Mit der Berufung vom 07.08.2003 macht die Klägerin geltend, das BSG habe im Urteil vom 28.10.1975 ausgeführt, dass ein nicht rechtskundig vertretener Empfänger eines Widerspruchsbescheids in der Regel nicht eine Gegenvorstellung, sondern Klage erheben wolle. Aus ihrem Schreiben vom 27.12.2002 gehe eindeutig hervor, dass sie mit dem ablehnenden Bescheid nicht einverstanden sei und eine Überprüfung wünsche. Der Zusatz, "in der Angelegenheit werde ich Anfang Januar auf Sie zurückkommen", sei eine angekündigte Klagebegründung. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Beklagte die Klägerin mehrfach aufgefordert habe, zu bestätigen, ob es sich bei dem Schreiben tatsächlich um eine Klage handeln solle. Mit Schreiben vom 21.02. 2003 habe die Klägerin zum Ausdruck gebracht, dass ihr Schreiben tatsächlich als Klage zu verstehen sei. Auch sei das Schreiben vom 27.12.2002 an das Gericht weitergeleitet worden und habe dort ein Aktenzeichen erhalten. Daraus ergebe sich, dass das Schreiben als Klage ausgelegt worden sei. Dieses Schreiben sei innerhalb der Klagefrist bei der Beklagten eingegangen.

Die Klägerin stellt den Antrag, den Gerichtsbescheid vom 17.06.2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24.09.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01. 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 30 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den wesentlichen Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen, da die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen wird (§ 153 Abs.4 SGG).

Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass gemäß § 92 SGG eine Klage die Beteiligten und den Streitgegenstand bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten soll. Es muss sich aus dem Inhalt des Schriftsatzes ergeben, dass der Urheber überhaupt eine Klage erheben will, dass er mit einem Verwaltungsakt unzufrieden ist und dessen Nachprüfung durch ein Gericht begehrt. Ist dieser Wille nicht erkennbar, so liegt keine Klage vor. Es genügt also nicht allein der Ausdruck der Unzufriedenheit; dann ist es nur eine Gegenvorstellung, unter Umständen verbunden mit dem Antrag an die erlassende Stelle, den Verwaltungsakt nochmals zu überprüfen. Eine Klage ist nur gegeben, wenn ausdrücklich die Überprüfung durch ein Gericht begehrt wird (vgl. Peters-Sautter-Wolff, SGG, § 92 Anm.1 m.w.N.).

Auch unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Bundessozialgericht vom 31.01.1974 (SozR 1500 § 92 SGG Nr.1) und vom 28.10.1975 (SozR 1500 § 92 SGG Nr.2) ist die Klage nicht rechtzeitig erhoben. Das Bundessozialgericht hat die Auffassung vertreten, dass die Klageabsicht ohne Weiteres unterstellt werden kann, wenn die vom Kläger gewünschte Prüfung der Entscheidung nur auf diesem Wege erreicht werden kann.

Zu Recht hatte aber die Beklagte angesichts des Schreibens der Klägerin vom 27.12.2002 Zweifel an der Klageabsicht der Klägerin, denn die Formulierung "in der Angelegenheit werde ich Anfang Januar auf Sie zurückkommen" deutet eher auf eine Gegenvorstellung und die Absicht der Klägerin hin, sich direkt mit der Beklagten auseinanderzusetzen. Schließlich hat sie dies im Schreiben vom 21.02.2003 bestätigt, als sie betonte, sie wäre entsprechender Kulanz der Beklagten bereit gewesen, auf gerichtliche Schritte zu verzichten.

In diesem Fall, bei berechtigten Zweifeln an der Klageabsicht, erklärt das BSG, da man von einem vernünftig handelnden Kläger auszugehen habe, sei zu unterstellen, dass eine Rückfrage der Beklagten bei noch offener Frist so gut wie sicher die rechtzeitige Klarstellung der Klageabsicht zur Folge hätte. Gerade diese Vorstellung des BSG hat sich im Fall der Klägerin nicht verwirklicht. Denn die Beklagte hat zwar mit den Schreiben vom 20.01.2003, 05.02.2003 und 06.03. 2003 bei der Klägerin zurückgefragt, ob ihr Schreiben als Klage gelten solle. Weder im Telefongespräch der Tochter der Klägerin mit der Beklagten am 28.01.2003, noch im Schreiben der Klägerin vom 02.02.2003 wurde auf diese Anfragen Bezug genommen, noch wurde klargestellt, dass eine Klage beabsichtigt war.

Insofern kann erst das Schreiben vom 21.02.2003, eingegangen bei der Beklagten am 12.03.2003, als Klageerhebung angesehen werden. Denn es kann hier nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin die verfahrensrechtliche Lage verkannt hätte, da sie von der Beklagten mehrmals zur Klageerhebung befragt worden war.

Der Widerspruchsbescheid der Beklagten ist laut Vermerk am 28.11.2002 zur Post gegeben worden. Der Widerspruchsbescheid muss bekannt gegeben werden, nicht notwendig zugestellt (§ 85 Abs.3 Satz 1 SGG). Möglich ist also Bekanntgabe durch einfachen Brief (§ 37 SGB X). Der Widerspruchsbescheid gilt dann am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er gar nicht oder später zugegangen ist. Die Beweislast trifft die Beklagte. Dass der Widerspruchsbescheid der Klägerin spätestens am 27.12.2002 vorlag, ergibt sich aus ihrem Schreiben von diesem Tag. Allerdings würde der Nachweis des tatsächlichen Zugangs etwaige Formmängel des Zugangs nicht heilen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 87 Rdnr.4c). Bekanntgabemängel - zu denen die Klägerin nichts vorgetragen hat - können aber nicht mehr gerügt werden, da die Klägerin die Klage erhoben hat, ohne Mängel der Bekanntgabe zu rügen (vgl. Meyer-Ladewig a.a.O., § 85 Anm.8a). Die Klagefrist war also bei Klageerhebung am 12.03.2003 bereits abgelaufen und die Klage daher verfristet.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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