L 5 KR 729/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 28 KR 686/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 729/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 3/19 R
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Revision d. Bekl. B 3 KR 3/19 R - Rücknahme -
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11.9.2018 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um das Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld i.H.v. 764,64 EUR für die Zeit vom 5.3. bis 22.3.2016.

Die 1962 geborene und bei der Beklagten gegen Krankheit versicherte Klägerin steht in einem ungekündigten Beschäftigungsverhältnis als Verwaltungsangestellte bei der Stadt S. Sie erkrankte ab dem 15.1.2015 arbeitsunfähig. Die Arbeitsunfähigkeit wurde von dem Allgemeinmediziner Dr. B. durchgehend bis zum 29.6.2018 festgestellt. Nach Ablauf der Lohnfortzahlung bewilligte die Beklagte abschnittsweise Krankengeld.

Zum Versenden von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (fortan: AU-Bescheinigungen) nutzte Dr. B. etwa 20 Jahre lang die ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellten Freiumschläge. Auf diesen war die Adresse der Beklagten vorgedruckt. In der Praxis wurden die AU-Bescheinigungen in den Freiumschlägen gesammelt, bis diese voll waren. Dr. B. wies seine Angestellten an, die Umschläge spätestens am Ende einer Woche dem täglich von der Deutschen Post in der Praxis erscheinenden Postboten mitzugeben. An Freitagen kommt der Postbote am Nachmittag. Dr. B. hat freitags nur vormittags Sprechstunde.

Die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin attestierte Dr. B. bis zum 31.12.2015 ausschließlich auf Auszahlscheinen. Die Klägerin gab diese immer persönlich bei der Beklagten in der Geschäftsstelle S. ab.

Ab dem 1.1.2016 attestierte Dr. B. die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin auf AU-Bescheinigungen. Er bescheinigte der Klägerin am 29.1.2016 Arbeitsunfähigkeit bis zum 4.3.2016 und erklärte ihr, dass er die AU-Bescheinigungen in den Freiumschlägen an die Beklagte senden könne; dies sei eine lang bewährte Praxis. Die Klägerin gab die Bescheinigung persönlich am gleichen Tag bei der Beklagten ab und erkundigte sich dort, ob es in Ordnung sei, wenn der Arzt die AU-Bescheinigung in Freiumschlägen an die Beklagte versende. Dies wurde bejaht. Die Beklagte bewilligte der Klägerin Krankengeld bis zum 4.3.2016.

Am Vormittag des 4.3.2016 hatte die Klägerin vormittags einen Termin bei Dr. B. Dieser attestierte weiterhin Arbeitsunfähigkeit bis zum 1.4.2016. Die Klägerin gab den für die Beklagte bestimmten Teil der AU-Bescheinigung den Mitarbeiterinnen der Beklagten zur Weiterleitung an die Beklagte im Freiumschlag. Die AU-Bescheinigung ging bei der Beklagten nicht ein.

Die für die Klägerin zuständige Sachbearbeiterin der Beklagten, Frau A, rief die Klägerin am 22.2.2016 an und erklärte, ihr sei aufgefallen, dass die erneute AU-Bescheinigung der Klägerin nicht vorliege. Die Klägerin begab sich am 23.3.2016 zu Dr. B. und erbat ein Duplikat der AU-Bescheinigung vom 4.3.2016, welches sie persönlich am 23.3.2016 bei der Beklagten einreichte.

Mit Bescheid vom 30.3.2016 bewilligte die Beklagte der Klägerin Krankengeld für die Zeit vom 23.3. bis 30.3.2016, stellte aber zugleich das Ruhen des Anspruchs auf Krankengeld vom 5.3.-22.3.2016 fest, da die Arbeitsunfähigkeit nicht binnen einer Woche nach ihrer Feststellung angezeigt worden sei.

Mit ihrem Widerspruch wandte die Klägerin ein, Dr. B. reiche die AU-Bescheinigungen immer direkt bei der Beklagten ein. Bisher habe alles reibungslos geklappt. Ihr Arzt habe ihr auch hinsichtlich der letzten AU-Bescheinigung versichert, dass seitens seiner Praxis alles korrekt gelaufen sei.

Gegen den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 25.4.2016 hat die Klägerin am 11.5.2016 Klage erhoben. Ihr sei sowohl seitens der Beklagten als auch des Dr. B. Ende 2015 mitgeteilt worden, dass man nunmehr keine Auszahlungsscheine mehr einzureichen brauche, da die Korrespondenz zwischen Arzt und Kasse abgewickelt werde. Dies habe im Januar und Februar auch problemlos geklappt. Da sie tatsächlich im streitigen Zeitraum au gewesen sei, verlange sie nichts Unrechtes und habe auch darauf vertrauen dürfen, dass der ihr angetragene Ablauf störungsfrei funktioniere. Nach dem Vorfall habe sie die AU-Bescheinigung immer selbst bei der Beklagten abgegeben und sich den Erhalt auf einer Kopie bestätigen lassen.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheids vom 30.3.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.4.2016 Krankengeld für den Zeitraum vom 5.3.2016 bis 22.3.2016 zu gewähren nach den gesetzlichen Bestimmungen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat betont, dass die seit dem 1.1.2016 ausschließlich zu verwendenden AU-Bescheinigungen den Hinweis enthielten, dass der Anspruch auf Krankengeld ruhe, wenn die AU-Bescheinigung verspätet bei der Krankenkasse vorgelegt werde. Die Folgen einer verspäteten Meldung habe der Versicherte zu tragen. Dieses Übermittlungsrisiko habe sich für die Klägerin realisiert, da die Original-AU-Bescheinigung nie eingegangen sei. Anlass, von einer Beweislastumkehr hinsichtlich des Zugangs der Bescheinigung auszugehen, gebe es nicht. Zwar habe sie vor dem Hintergrund des § 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) als Service für die Ärzte ein Freiumschlagssystem eingeführt. Dieses sei jedoch wegen der vielen Klageverfahren Mitte 2016 wieder eingestellt. Eine Vereinbarung mit Vertragsärzten dahingehend, dass diese den Versicherten die Obliegenheit der Meldung der Arbeitsunfähigkeit abnehmen sollten, habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Ein Fehlverhalten der Ärzte sei ihr auch nicht zuzurechnen.

Das SG hat Dr. B. im Erörterungstermin vom 16.5.2017 als Zeugen vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten seiner Aussage wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen. Die Beteiligten haben sich in dem Termin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Das SG hat die angegriffenen Bescheide mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 11.9.2018 insoweit aufgehoben, als darin die Zahlung von Krankengeld für die Zeit vom 5.3. bis 22.3.2016 ablehnt worden war, und der Klage auf Zahlung des Krankengeldes stattgegeben. Es hat sich der Rechtsauffassung des erkennenden Senats in der Entscheidung vom 26.4.2018 angeschlossen (Aktenzeichen: L 5 KR 783/17, Revision anhängig unter B 3 KR 13/18 R: siehe auch L 5 KR 265/17 - Revision anhängig: B 3 KR 6/18 R; L 5 KR 771/18 - Revision anhängig: B 3 KR 18/18 R und L 5 KR 151/17 - Revision anhängig: B 3 KR 17/18 R). Die Klägerin habe alles Zumutbare getan, um ihren Anspruch auf Krankengeld über den 4.3.2016 hinaus zu sichern. Sie habe darauf vertrauen dürfen, dass die ihr bekannte und seit Jahren von Dr. B. geübte Praxis mit den Freiumschlägen weiterhin reibungslos funktioniere.

Gegen das ihr am 23.10.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26.10.2018 Berufung eingelegt. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG handele es sich bei der Meldung der Arbeitsunfähigkeit um eine Obliegenheit des Versicherten. Der Versicherte habe selbst dann keinen Anspruch auf Krankengeld, wenn er den verspäteten Zugang der AU-Bescheinigung nicht verschuldet habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11.9.2018 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie nimmt auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug. Am 29.1.2016 sei ihr sowohl von Dr. B. als auch von der Beklagten auf ausdrückliche Nachfrage hin versichert worden, dass sie die AU-Bescheinigung über das Freiumschlagssystem durch Dr. B. versenden lassen könne.

Dr. B. hat auf Nachfrage des Senats erklärt, keine Freiumschläge mehr zu haben und auch nicht zu wissen, mit welcher Adresse diese bedruckt gewesen seien.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- uns Streitstands wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig. Insbesondere wird der nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderliche Wert des Beschwerdegegenstands erreicht.

Die Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Bescheid vom 30.3.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.4.2016 zu Recht mit Urteil vom 11.9.2018 stattgegeben. Denn die angegriffenen Bescheide sind im Umfang der Aufhebung rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten nach § 54 Abs. 2 S.1 SGG. Sie hat für die Zeit vom 5.3. bis 22.3.2016 Anspruch auf Krankengeld.

Die Voraussetzungen für den Anspruch auf Krankengeld ergeben sich aus den Regelungen des Zweiten Titels des Fünften Abschnitts des Dritten Kapitels des SGB V (§§ 44 ff. SGB V), die hier in der mit dem 23.07.2015 in Kraft getretenen Fassung des GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (BGBl. I 2015, 1211-1244; BR-Drs. 641/14) zur Anwendung gelangen. Danach setzt der Anspruch auf Krankengeld zunächst voraus, dass die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ärztlich festgestellt wurde und sie weiterhin gegen das Risiko der Arbeitsunfähigkeit bei der Beklagten versichert gewesen ist (vgl. § 44 Abs. 1 SGB V). Beides ist vorliegend unstreitig der Fall, da die Klägerin in einem ungekündigten Beschäftigungsverhältnis steht und Arbeitsunfähigkeit vom 5.3. bis 22.3.2016 durch Dr. B. festgestellt worden war.

Der Krankengeldanspruch der Klägerin ruhte vom 5.3.- 22.3.2016 nicht nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V.

Gem. § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ruht der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird; dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt.

Der Klägerin kann einen Zugang der Original-AU-Bescheinigung vom 4.3.2016, die wahrscheinlich auf dem Postweg verloren gegangen ist, nicht nachweisen. Den Zugang des Duplikats kann sie nicht vor dem 23.3.2016 belegen. Eine Wiedereinsetzung in die Wochenfrist scheidet aus, weil es sich bei dieser um eine Ausschlussfrist handelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 22; Brinkhoff in jurisPK-SGB V, Stand: 23.02.2016, § 49 Rn. 47 m.w.N.; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand: Erg.-Lfg. 10/14 X/14, K § 49 Rn. 63).

Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat in diesem Zusammenhang (wie auch schon in seinen bereits zitierten Urteilen: L 5 KR 783/17, anhängig unter B 3 KR 13/18 R; L 5 KR 265/17, anhängig unter B 3 KR 6/18 R; L 5 KR 771/18, anhängig unter B 3 KR 18/18 R und L 5 KR 151/17, anhängig unter B 3 KR 17/18 R) anschließt, ist es der Beklagten hier jedoch verwehrt, sich auf den Fristablauf zu berufen. Grundlage dafür ist das in dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) wurzelnde Institut der Nachsichtgewährung. Eine Nachsichtgewährung kommt nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 20, 22 m.w.N.) in Betracht, wenn dafür besondere Gründe vorliegen und die vom Gesetzgeber mit der Ausschlussfrist verfolgten Ziele und die dabei zu berücksichtigenden Interessen nicht entgegenstehen. Denn in solchen Fällen kann sich die Berufung des Versicherungsträgers auf die Ausschlussfrist als rechtsmissbräuchlich darstellen (vgl. BSG a.a.O. Rn. 22). Sinn und Zweck des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ist es - ebenso wie des § 46 S. 1 SGB V -, Missbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die nachträgliche Behauptung einer AU und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen können (vgl. BSG, Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 14 f., 17).

Davon ausgehend hat das Bundessozialgericht (Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 23 ff.) für die Vorgängerregelung zu § 49 Nr. 5 SGB V (§ 216 Abs. 3 RVO) und in nachfolgenden Entscheidungen zu § 49 Nr. 5 SGB V (vgl. etwa BSG, Urteil vom 8.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 15 ff.) zwar entschieden, dass die Meldeobliegenheit - ebenso wie § 46 S. 1 SGB V - stets strikt auszulegen ist (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 35/14 R m.w.N.) und sich Versicherte bei unterbliebener oder verzögerter Meldung auch nicht auf fehlendes (eigenes) Verschulden (etwa wegen unvorhersehbar langer Postlaufzeiten) berufen können (vgl. Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 23 und Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 Rn. 17 - jeweils m.w.N.).

Daraus, dass das Gesetz die Meldung der AU grundsätzlich dem Verantwortungsbereich des Versicherten zuweist, ergibt sich jedoch nicht, dass der Krankenkasse kein eigener Verantwortungsbereich mehr verbleibt. Vielmehr kann der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes unter Umständen dem Ruhen des Krankengeldanspruches entgegenstehen. Ein Ruhen des Krankengeldanspruchs ist nicht gerechtfertigt, wenn ein Versicherter die AU rechtzeitig "gemeldet" hat, der Zugang der Meldung aber durch Umstände verhindert oder verzögert wurde, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkasse und nicht dem des Versicherten zuzurechnen sind (BSG, Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 24).

Die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung bei Versäumung der Meldefrist hat das BSG (Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 22) folgendermaßen konkretisiert: Hat der Versicherte alles in seiner Macht stehende und ihm Zumutbare getan, um seine Ansprüche zu wahren, wurde er daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung gehindert und macht er seine Rechte bei der Kasse unverzüglich (spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V) nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend, kann er sich auf die Fehlentscheidung auch zu einem späteren Zeitpunkt berufen.

Diese Kriterien entsprechen im Wesentlichen auch den Grundsätzen, die in der neueren Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R) zu der gleich gelagerten (s.o.) Bestimmung des § 46 S. 1 SGB V entwickelt worden sind und finden auch auf den hier vorliegenden Fall Anwendung. Danach hat die Klägerin im vorliegenden Fall alles ihr Mögliche und Zumutbare getan, um ab dem 5.3.2016 wieder einen Anspruch auf Krankengeld zu haben.

Die Klägerin hat sich am Vormittag des 4.3.2016 in die Sprechstunde des Dr. B. begeben, wo sie weiter bis zum 1.4.2016 Arbeitsunfähigkeit festgestellt wurde. Nach den Angaben der Klägerin, die auch anhand der Auszahlscheine in den Verwaltungsakten belegt sind, hat sie diese bis zum Ende des Jahres 2015 immer selbst bei der Beklagten abgegeben. Als Dr. B. am 29.1.2016 erklärte, er werde die nunmehr zu verwendenden AU-Bescheinigungen mittels Freiumschlag an die Beklagte senden, hat sie die ihr an diesem Tag ausgehändigte AU-Bescheinigung nochmals persönlich bei der Beklagten abgegeben, um sich auch dort zu erkundigen, ob sie das System mit den Freiumschlägen nutzen könne. Dass diese Frage bejaht wurde, hat die Beklagte nicht bestritten. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Klägerin ihrem ihr seit Jahren bekannten Hausarzt oder der Beklagten, die dessen Auskünfte bestätigte, hätte misstrauen sollen. Da die Klägerin an einem Freitagvormittag in der Praxis die AU-Bescheinigungen an die Mitarbeiterinnen des Dr. B. gab, durfte sie auch darauf vertrauen, dass diese (in dem Freiumschlag) spätestens Freitagmittag von dem Postboten der Deutschen Post abgeholt werden würde, da ihr dies als langjährige funktionierende Praxis beschrieben worden war. Weil es in der Praxis des Dr. B. noch nie zuvor zu Schwierigkeiten mit den Freiumschlägen gekommen war, musste die Klägerin auch nicht damit rechnen, dass gerade ihre AU-Bescheinigung verloren gehen würde. Es überspannte die an sie zu stellenden Sorgfaltsanforderungen, wenn man von ihr verlangte, sie hätte sich entgegen der bisher geübten - und von der Beklagte gebilligten - Praxis eine Kopie der AU-Bescheinigung von Dr. B. bzw. dessen Mitarbeitern aushändigen lassen und diese an die Beklagte schicken müssen.

Eine (Fehl)Entscheidung der Beklagten, die die Klägerin im vorliegenden Fall daran hinderte, ihren Krankengeldanspruch zu wahren, liegt ebenfalls vor. Denn die Praxis der Beklagten, Dr. B. Freiumschläge zur Übermittlung von AU-Bescheinigungen an sie zu überlassen, hinderte die Klägerin an der Wahrung ihres Krankengeldanspruches.

Die Beklagte hat mit der Überlassung der Freiumschläge an Vertrags- bzw. Knappschaftsärzte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Erfüllung der Meldeobliegenheit für ihre Versicherten erleichtern wollte, indem sie einen kostenfreien Meldeweg über den Vertrags-/Knappschaftsarzt eröffnete. Ist dies der Fall, erscheint es - unabhängig von zivilrechtlichen Zurechnungsregeln - offenbar treuwidrig, sich darauf zu berufen, wenn auf diesem von ihr (ohne Not) eröffneten besonderen Übermittlungsweg ein Fehler passiert, der zur Versäumung der Meldefrist führt.

Dieses Ergebnis steht nicht in Widerspruch zu dem Grundsatz, dass das Risiko einer fehlenden oder verspäteten Übermittlung einer AU-Bescheinigung (grundsätzlich) den Versicherten zur Last fällt. Der maßgebende, eine abweichende Beurteilung rechtfertigende Unterschied liegt darin, dass die Beklagte einen gesonderten Übermittlungsweg für die Versicherten eröffnet hat. Auch wenn dieser nicht verpflichtend war, hat sie damit die Übermittlung und damit auch das Risiko eines Versagens aus der Sphäre der Versicherten in ihre Sphäre überführt.

Den Einwand der Beklagten, die Übersendung der Bescheinigungen für die Versicherten stelle in dem vorliegenden Zusammenhang eine reine Serviceleistung der Ärzte dar, die weder im Auftrag noch auf Veranlassung der Beklagten erfolge, sondern von den Ärzten eigenverantwortlich angeboten und durchgeführt werde, ist kaum noch nachvollziehbar. Es stellt schlichtweg ein gröblich widersprüchliches Verhalten dar, durch die Überlassung von Freiumschlägen einen gesonderten - und damit offenbar gewünschten - Übermittlungsweg zu eröffnen, gleichzeitig aber zu behaupten, dies nicht veranlasst zu haben, wenn dieser Übermittlungsweg dann beschritten wird. Von einer ärztlichen Serviceleistung könnte allenfalls dann gesprochen werden, wenn Dr. B. die Übersendung der AU-Bescheinigung eigenständig initiiert und auf eigene Kosten übernommen hätte. So verhält es sich hier jedoch unstreitig gerade nicht.

Ob in der Überlassung der Freiumschläge ein Auftrag im zivilrechtlichen Sinne zu sehen oder Dr. B. als Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfe tätig geworden sein könnte, bedarf keiner Erörterung. Auch um die Zurechnung eines (etwaigen) vertragsärztlichen Fehlverhaltens geht es nicht. Es kommt allein darauf an, dass die Beklagte selbst rein tatsächlich eine Ursache gesetzt hat, die eine Berufung auf die Versäumung der Meldefrist treuwidrig erscheinen lässt.

Klarstellend ist mit Blick auf das Urteil des BSG vom 04.03.2014 - B 1 KR 17/13 R, wonach ein vertragsärztliches Fehlverhalten nicht ohne weiteres der Krankenkasse zugerechnet werden kann, darauf hinzuweisen, dass es sich dort um ein von der Krankenkasse nicht veranlasstes vertragsärztliches Fehlverhalten handelte. Auf (möglicherweise) parallel bestehende, unsichere Regressansprüche gegen Vertragsärzte müssen sich Versicherte - und damit hier die Klägerin - grundsätzlich nicht verweisen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193 Abs. 1 S. 1, 183 SGG.

Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen; § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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