L 7 R 175/16 Beglaubigte Abschrift

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 48 R 173/12 (Sozialgericht Lübeck)
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 7 R 175/16 Beglaubigte Abschrift
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 9/19 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 und der Bescheid vom 1. Juli 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2012 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Berücksichti- gung der Zeit einer Beschäftigung in einem Ghetto vom Januar 1940 bis März 1942 eine Altersrente nach den gesetzlichen Vor- schriften zu gewähren. Sie hat dem Kläger die ihm zur Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Altersrente unter Berücksichtigung von Versicherungszeiten in einem Ghetto nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Dabei geht es maßgeblich darum, ob der Kläger sich in einem Ghetto aufgehalten hat.

Der Kläger ist 1929 in S in der Nähe von M in P geboren. Der Ort hatte damals etwa einhundert Einwohner. Der Kläger ist jüdischen Glaubens. Bis 1942 lebte er in S. Von April 1942 bis Anfang 1943 wurde er im Zwangsarbeitslager B inhaftiert, 1943 im Zwangsarbeitslager H. 1943/1944 kam er in das Konzentrationslager M , 1944/1945 in das Konzentrationslager F. 1945 wanderte der Kläger nach E aus; seit 1949 lebt er in den U , deren Staatsbürger er ist. Er ist als Verfolgter gemäß § 1 Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt und er erhielt eine Entschädigung von der Claims Conference aus dem Artikel 2 - Fonds.

Am 16. März 2010 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten in einem Ghetto. Hierzu trug er vor, er habe ungefähr von 1941 bis 1942 in R im Ghetto gelebt und von Januar 1942 bis Dezember 1942 außerhalb des Ghettos zehn bis zwölf Stunden täglich LKWs gereinigt, Küchenarbeiten verrichtet und die Unterkünfte der Offiziere gereinigt. Das Ghetto in R sei ohne Mauern oder Umzäunung offen gewesen. Trotzdem habe die jüdische Bevölkerung sich nicht frei bewegen können, sondern sei auf den Raum des Ghettos beschränkt gewesen, auch wenn sie außerhalb des Ghettos gearbeitet habe. In dem Fall hätten die Juden das Ghetto morgens verlassen und seien abends zurückgekehrt.

Mit Bescheid vom 1. Juli 2011 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab. Zur Begründung führte sie aus, die erforderliche Versicherungszeit von 60 Kalender-monaten für eine Regelaltersrente sei nicht erfüllt. Der Kläger sei von Januar 1941 bis Dezember 1942 nicht während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto beschäftigt gewesen. Es lägen keine Erkenntnisse vor, nach denen in R (Ha ) ein Ghetto bestanden habe.

Dagegen legte der Kläger am 27. Juli 2011 Widerspruch ein. Die Beklagte sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass es in R kein Ghetto gegeben habe. R sei ein kleines Dorf gewesen, in dem ungefähr 8 jüdische Familien gelebt hätten. Im Januar 1941 sei der Ort abgesperrt worden und den Juden sei es nicht mehr erlaubt gewesen, ihn zu verlassen. Seit dem Zeitpunkt habe er im Alter von 12 Jahren mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester in dem Dorf gewohnt. Er habe begriffen, dass sein Überleben und das seiner Familie davon abhinge, dass er sich selbst bei den Deutschen nützlich machte. Daher habe er beschlossen, für sie zu arbeiten und habe ihre LKWs gereinigt, in der Küche gearbeitet und die Offizierswohnungen gesäubert. Er und andere Juden seien hierzu in die drei Ortschaften der Umgebung von M gefahren worden. Für die Arbeit habe er Extraportionen zu essen erhalten, die in der Zeit, als es nicht genug zu essen gegeben habe, sehr wertvoll gewesen seien. Das Ghetto in R sei sehr klein gewesen, sodass es kaum in den Büchern Erwähnung gefunden habe, und es sei möglich, dass er der einzige Überlebende sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2011 zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach dem Wortlaut des ZRBG setze ein Rentenanspruch voraus, dass die Beschäftigung in einem Ghetto ausgeübt worden sei. Eine Beschäftigung außerhalb des Ghettos stehe dem gleich, wenn die Verfolgten täglich von der Arbeitsstätte in das Ghetto zurückgekehrt seien. Beschäftigungen außerhalb des Ghettos, bei denen die Verfolgten am Beschäftigungsort untergebracht gewesen seien, fielen nicht unter das Gesetz. Ein zwangsweiser Ghettoaufenthalt liege erst ab dem Zeitpunkt vor, von dem an die Juden auf deutsche Veranlassung Beschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen gewesen seien und über die Wahl von Wohnsitz oder Aufenthalt nicht mehr hätten frei entscheiden können. Dabei sei nicht zwischen offenen und geschlossenen Ghettos zu unterscheiden. Für die Beurteilung der Frage, ob ein zwangsweiser Ghettoaufenthalt vorgelegen habe, greife die Rentenversicherung ausschließlich auf eine vom Bundesministerium für Finanzen im Zusammenhang mit der Ghetto-Richtlinie zusammengestellte Ghettoliste zurück, die von einer Untergruppe der ZRBG-Lenkungsgruppe weiter gepflegt werde. Grundlage für die Entscheidung sei jedoch nicht die Liste, sondern die jeweilige Quelle für deren Eintrag. Die aktuelle Ghettoliste enthalte keinen Eintrag über ein Ghetto in R. Auch weitere Ermittlungen bei der Claims-Conference hätten zu keinem anderen Ergebnis geführt.

Gegen die Entscheidung hat der Kläger am 7. März 2012 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben. Zur Begründung hat er Unterlagen darüber vorgelegt, dass R von den deutschen Truppen besetzt gewesen sei und dass er für die Deutschen gearbeitet habe. Hierzu hat er vorgetragen, er habe von Januar bis Dezember 1940 Reinigungsarbeiten in deutschen Häusern verrichtet und von Januar 1941 bis März 1942 für die Wehrmacht (Motor Pool) gearbeitet. Ferner hat er Berichte über die benachbarten Städte Pa und M vorgelegt, in denen die Verhältnisse denen in R vergleichbar gewesen seien. M sei allerdings eine größere Stadt gewesen. Ein Überlebender von dort habe berichtet, dass die Juden vom Judenrat und von den deutschen Besatzern Arbeit bekommen hätten. Es sei zwar schwierig, eine so kleine Ortschaft wie R als Ghetto zu definieren, jedoch seien die Verhältnisse mit denen eines Ghettos vergleichbar gewesen. In R hätten ungefähr 21 jüdische Einwohner in drei Familien gelebt, des Weiteren drei polnische Familien. Die übrigen Bewohner seien Volksdeutsche gewesen, die sich mit den deutschen Besatzern schnell verbrüdert hätten und den Juden gegenüber nicht wohlgesonnen gewesen seien, sondern sie verfolgt hätten. Nach § 2 der Verordnung über die Einsetzung von Judenräten vom 28. November 1939 hätten 12 Personen einen Judenrat bilden müssen. Dies wäre etwa die gesamte erwachsene jüdische Bevölkerung von R gewesen. Daher seien die Juden in R und in Pa dem Judenrat in M unterstellt worden. Der Ghettobegriff des § 1 ZRBG sei gesetzlich nicht definiert und weit auszulegen. Zweck des ZRBG sei es, die ghettotypischen Beschäftigungsformen von Juden in den vom Deutschen Reich besetzten oder annektierten Gebieten sozialversicherungsrechtlich zu berücksichtigen. Die Anwendung des ZRBG habe nach entschädigungsrechtlichen Grundsätzen zu erfolgen. Danach müsse das Prinzip der Wiedergutmachung gegenüber der Bewahrung des sozialversicherungsrechtlichen Systems Vorrang haben. Die Entschädigung des tatsächlich erlittenen Schadens sei der oberste Grundsatz. Für die Einschätzung ghettoähnlicher Lebensverhältnisse seien die ganzen damaligen Lebensumstände zu berücksichtigen. Diese stellten sich nicht anders als in einem geschlossenen Ghetto dar. Durch den Davidstern sei er als Jude gekennzeichnet und von jedem Kontakt mit Volksdeutschen ausgeschlossen gewesen. Die Rentenversicherung selbst habe bereits den Aufenthalt in sogenannten Judenhäusern vor allem in Ba als Aufenthalt in einem Ghetto anerkannt. Auch das Haus seiner Eltern sei als solches zwar nicht gekennzeichnet, aber bekannt gewesen, weil sich wegen der geringen Größe des Ortes alle Einwohner gekannt hätten. Die jüdischen Familien hätten unter ständiger Kontrolle der Nachbarn gelebt, die das Ausgehverbot überwacht hätten. Die drei typischen Merkmale eines Ghettos, nämlich die Absonderung und Konzentrierung der jüdischen Bevölkerung und ihre internierungsähnliche Unterbringung, seien erfüllt, wobei allerdings infolge der geringen Bevölkerung am Ort von einer Konzentrierung nicht die Rede sein könne. Angesichts dieser Umstände habe er auch nicht unverändert im elterlichen Haus weiter gelebt, er habe das Haus nicht oder nur zur Arbeit verlassen dürfen. Faktisch habe er auch mit den Nachbarn, die Volksdeutsche gewesen seien, nicht mehr in Kontakt treten können, denn diese hätten davor zurückgescheut, als sogenannte Judenfreunde zu gelten.

Der Kläger hat schriftlich beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Juli 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2011 zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung von Ghetto- Beitragszeiten von Januar 1940 bis März 1942 eine Altersrente zu gewähren.

Die Beklagte hat schriftlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Ergänzend zum Inhalt der angefochtenen Bescheide hat sie ausgeführt, es sei bereits deshalb nicht von einem Ghetto auszugehen, weil die jüdische und die volksdeutsche Bevölkerung in R in unmittelbarer Nachbarschaft gelebt habe. Die jüdische Bevölkerung habe unverändert in ihren bisherigen Häusern in R gelebt. Der Begriff des Ghettos verlange eine Absonderung, Konzentrierung und internierungsähnliche Unterbringung der jüdischen Bevölkerung, die dort nicht gegeben gewesen sei. Die sogenannten Judenhäuser in Ba unterschieden sich von dieser Situation insofern, als dort spezielle Häuser als Judenhäuser benannt und gekennzeichnet worden seien, in denen die jüdischen Familien zwangsweise untergebracht worden seien.

Das Sozialgericht hat von dem Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg Prof. Dr. G ein Gutachten zur Situation in R und M vom 14. März 2016 eingeholt.

Nach vorheriger Mitteilung der beabsichtigten Verfahrensweise hat es die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20. Oktober 2016 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Begriff des Ghettos sei ein unbestimmter Rechtsbegriff. Seine Auslegung müsse sich am Sinn und Zweck des ZRBG orientieren. Es komme nicht entscheidend darauf an, was historisch unter einem Ghetto zu verstehen oder von der Besatzungsmacht als Ghetto bezeichnet worden sei. Das ZRBG solle den Verfolgten für deren Beschäftigung wegen eines Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung ermöglichen. Da die unter normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen sinnvollen Merkmale des rentenversicherungsrechtlichen Entgeltbegriffs unter den im Ghetto herrschenden Bedingungen weitgehend ihren Sinn verloren hätten, komme es für die Definition eines Ghettos entscheidend darauf an, ab wann für NS-Verfolgte Lebens- und Arbeitsbedingungen vorgelegen hätten, unter denen eine Beurteilung von Beschäftigungen nach rentenversicherungsrechtlichen Maßstäben keinen Sinn mehr gemacht habe. Die Einrichtung von Ghettos habe verschiedene Stadien durchlaufen und die Zusammenfassung der jüdischen Bevölkerung in Wohnbezirken, die mit Zäunen und Mauern von ihrer Umgebung abgetrennt worden seien, sei nur der Abschluss dieser Entwicklung. Der Ghettobegriff sei weit zu fassen. Es handele sich dabei um ein abgegrenztes Wohnviertel in einer Stadt oder einem städtischen Gefüge. Anstelle einer zentralen fremdbestimmten Leitung habe es die formale Selbstverwaltung durch Judenräte oder Judenälteste gegeben. In gewissem Rahmen sei der Schein eines selbstbestimmten Lebens aufrechterhalten worden. Ghettos seien Orte gewesen, an denen sich ihre Bewohner auch hätten bilden und kulturell betätigen können und die somit einen Lebensraum dargestellt hätten, in dem Arbeit aus eigenem Willensentschluss noch möglich gewesen sei. Ein Zwangsaufenthalt sei anzunehmen, wenn die Kriterien der Konzentration, der Absonderung und der internierungsähnlichen Unterbringung erfüllt seien. Die Maßnahmen zur Absonderung und Einschränkung der Freizügigkeit hätten eine Intensität erreichen müssen, die in vergleichbarer Weise wie Mauern oder Zäune den Aufenthalt hätten beschränken müssen. Es sei dagegen nicht notwendig, dass der Aufenthalt in dem Wohnbezirk auf einer behördlichen Zuweisung beruhte und dass in dem Bezirk ausschließlich oder überwiegend Juden gewohnt hätten. Es sei nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger in einem Ghetto in diesem Sinne gelebt habe. Die Verhältnisse seien auch nicht einem Ghetto ähnlich gewesen. Die Bewohner von R seien nicht konzentriert worden und nicht internierungsähnlich untergebracht gewesen. Es sei auch nicht bekannt, dass der Kläger in einem bestimmten, besonders gekennzeichneten Haus habe wohnen müssen. Allerdings sei aufgrund der geringen Einwohnerzahl eine entsprechende Kennzeichnung nicht erforderlich gewesen. Die Juden seien in R auch nicht stark bewacht worden. Dies folge aus dem Gutachten von Prof. Dr. G , das überzeugend sei. Würde man die Einschränkungen, die der Kläger erfahren habe, unter den Begriff eines Ghettos fassen, wäre der Tatbestand des ZRBG gegenstandslos; auch unter Berücksichtigung einer weiten Auslegung des Begriffs widerspräche dies dem Zweck des ZRBG. Trotz mehrerer Änderungen des ZRBG habe der Gesetzgeber an dem Begriff eines Ghettos jedoch festgehalten. Auch aus der sogenannten Ghettoliste der Beklagten folge nichts Anderes. Zwar sei dort der Ort M eingetragen, jedoch habe Prof. Dr. G ausgeführt, dass sich dort kein Ghetto befunden habe.

Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 1. November 2016 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers, die am 14. November 2016 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Die Beteiligten vertiefen ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 sowie den Bescheid vom 1. Juli 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung einer Zeit der Beschäftigung in einem Ghetto vom Januar 1940 bis März 1942 eine Altersrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt schriftlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Verwaltungsakten der Beklagten, die Verwaltungsakten des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg und die Verfahrensakte haben dem Senat in der Beratung vorgelegen. Zur Ergänzung der Einzelheiten wird darauf Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über den Rechtsstreit gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft (§§ 143, 144 SGG) und form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingegangen.

Sie ist auch begründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 als Beschäftigungszeit in einem Ghetto. Die entgegenstehenden Entscheidungen der Beklagten und des Sozialgerichts waren aufzuheben, weil sie den Kläger in seinem Recht verletzen, und die Beklagte war zur Rentengewährung zu verpflichten.

Nach § 35 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis zum 31. Dezember 2007 und damit auch am 1. Juli 1997 gültigen Fassung (dazu s. u.) haben Versicherte Anspruch auf Regelaltersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr erreicht und die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt haben. Auf die allgemeine Wartezeit werden gemäß § 51 Abs. 1, Abs. 4 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und mit Ersatzzeiten angerechnet. Beitragszeiten sind gemäß § 55 Abs. 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge geleistet worden sind. Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach den besonderen Vorschriften als gezahlt gelten.

§ 2 Abs. 1 ZRBG in der Fassung des Gesetzes vom 15. Juli 2014 (BGBl I, S. 952) bestimmt, dass für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge als gezahlt gelten. Gemäß § 1 Abs. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag.

Eine Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG ist jegliche Beschäftigung innerhalb und außerhalb des räumlichen Bereichs eines Ghettos, die von Verfolgten ausgeübt wurde, während sie sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben. Beschäftigung in diesem Sinne meint jede nichtselbstständige Arbeit. Anhaltspunkte für das Bestehen einer solchen Arbeit sind eine von Weisungen eines anderen hinsichtlich Zeit, Ort, Dauer, Inhalt oder Gestaltung abhängige Beschäftigung sowie eine gewisse funktionale Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Unternehmens oder Weisungsgebers, wobei die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls und das sich daraus ergebende Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit maßgeblich sind. Eine Beschäftigung ist nach der Rechtsprechung des BSG bereits entgeltlich im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b ZRBG, wenn für die geleistete Arbeit irgendeine Art der Entlohnung gezahlt wurde, ob in Geld, Naturalien oder in Gutscheinen, unabhängig von der Quantität, Qualität und dem Transferweg. Die Beschäftigung ist aus eigenem Willensentschluss im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a ZRBG zu Stande gekommen, wenn der Ghettobewohner hinsichtlich des Zustandekommens oder der Durchführung der Arbeit noch eine Dispositionsbefugnis zumindest dergestalt hatte, dass er die Annahme oder Ausführung der Arbeit auch ohne Gefahr für Leib, Leben oder seine Restfreiheit ablehnen konnte (vgl. zu alldem BSG, Urteile vom 2. Juni 2009 - B 13 R 139/08 RSozR 4-5075 § 1 Nr. 5 sowie B 13 R 81/08 R – juris; Urteile vom 3. Juni 2009 – B 5 R 26/08 RSozR 4-5075 § 1 Nr. 8 und B 5 R 66/08 R - juris).

Kann nach diesen Maßstäben eine Beschäftigung im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, reicht es zur Feststellung der erheblichen Tatsachen gemäß § 1 Abs. 2 ZRBG i. V. m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) aus, wenn die Tatsachen glaubhaft gemacht sind. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Gefordert ist insoweit mehr als die bloße Möglichkeit einer Tatsache, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es muss aber die "gute Möglichkeit" bestehen, dass sich die entscheidungserheblichen Tatsachen so zugetragen haben, wie sie von dem Betroffenen vorgetragen werden. Allein die bloße Möglichkeit eines solchen Geschehensablaufs, wie er vorgetragen wurde, reicht für eine Anerkennung nicht aus, sondern es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Von verschiedenen möglichen Geschehensabläufen muss der vorgetragene relativ gesehen am wahrscheinlichsten erscheinen (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 4 R 29/06 RSozR 4-5075 § 1 Nr. 3; Urteil vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 BSozR 3-3900 § 15 Nr. 4).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hält der Senat es für glaubhaft, dass der Kläger in der Zeit von Januar 1940 bis zum März 1942 während seines Aufenthaltes in einem Ghetto gegen Entgelt freiwillig gearbeitet hat. Denn es spricht mehr für diesen Geschehensablauf als für einen jeden möglichen anderen. Allerdings hat der Kläger in seinem Rentenantrag angegeben, er habe von Januar 1941 bis Dezember 1942 in einem Ghetto gearbeitet. Dementsprechend hat die Beklagte auch diesen Zeitraum in ihren Bescheiden zugrunde gelegt. Die Aussage muss der Kläger jedoch offensichtlich irrtümlich gemacht haben. Denn nach seinem gesamten Vortrag kam er bereits im April 1942 in das Arbeitslager B. Dies hat er schon im Antrag auf Entschädigung vom 21. Juli 1953 angegeben. Auch in M wurde das Ghetto nach den Angaben der Liste der ZRBG-Lenkungsgruppe im März 1942 aufgelöst. Prof. Dr. G hat es in seinem Gutachten vom 14. März 2016 als unstreitig bezeichnet, dass die jüdische Bevölkerung von R zwischen dem 9. und 13. März 1942 zur Vernichtung deportiert, erschossen oder in Zwangsarbeitslager verbracht worden sei. Aus demselben Grund muss die Angabe in dem im Rahmen des Entschädigungsverfahrens eingeholten medizinischen Gutachten (Az. 38438), nach dem der Kläger bereits 1941 in das Zwangsarbeitslager B gekommen sein soll, fehlerhaft sein. Bereits im Schreiben vom 27. Februar 2012 an die Beklagte hat der Kläger den Zeitraum präzisiert und angegeben, von 1940 bis 1942 im Ghetto tätig gewesen zu sein. Den von ihm im Gerichtsverfahren benannten Zeitraum Januar 1940 bis März 1942 hält der Senat für glaubhaft im vorgenannten Sinne, denn auch der Anfangszeitpunkt ist nachvollziehbar: Prof. Dr. G hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass der Ort M (für die umliegenden Dörfer kann das gleiche gelten) am 13. September 1939 von den deutschen Truppen besetzt worden sei. Im Oktober/November 1939 sei die Kennzeichnungspflicht für die jüdische Bevölkerung eingeführt worden, die ab 1. Januar 1942 nicht mehr ungenehmigt einen anderen Wohnsitz habe nehmen dürfen. Da der Kläger keine andere Überlebensmöglichkeit gehabt haben dürfte, ist naheliegend, dass er sich spätestens dann nach einer Beschäftigung umgesehen haben wird. Der Senat geht daher vom 1. Januar 1940 bis März 1942 als Zeitraum der Beschäftigung aus.

Der Kläger unterfällt dem persönlichen Anwendungsbereich des ZRBG. Er ist als Verfolgter im Sinne des § 1 BEG anerkannt. Insbesondere lebte er 1940 und bis März 1942 in R in einem Ghetto. R lag – wie unstreitig ist – im nationalsozialistischen Einflussbereich. Dort existierte nach der Rechtsauffassung des Senats in der betreffenden Zeit auch ein Ghetto. Dies entnimmt der Senat den Angaben des Klägers, die dieser im Entschädigung- und Verwaltungsverfahren sowie im Gerichtsverfahren gemacht hat und dem Gutachten von Prof. Dr. G vom 14. März 2016.

Der Kläger hat ausgeführt, in R hätten bei Einmarsch der deutschen Truppen lediglich drei jüdische Familien mit insgesamt 21 Personen gelebt. Gleich nach Ausbruch des Krieges sei die Stadt von den deutschen Truppen besetzt worden. Die Juden hätten eine Armbinde mit dem Judenstern tragen müssen. Sie hätten aus ihren Häusern und Wohnungen nicht mehr ohne Genehmigung umziehen dürfen. Diese seien nach Angaben des Klägers nicht als Judenhäuser gekennzeichnet worden, obwohl die Verhältnisse in dem kleinen Dorf allen bekannt gewesen sei und alle gewusst hätten, wo Juden gewohnt hätten. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. G erfolgte keine Kennzeichnung, die nach der Gutachtenaussage angesichts der überschaubaren örtlichen Verhältnisse überflüssig gewesen wäre. Die Deutschen, und zwar sowohl die Besatzer als auch die Volksdeutschen, hätten nach Angaben des Klägers, die von Prof. Dr. G bestätigt wurden, eine wirksame Kontrolle ausgeübt und darauf geachtet, dass die Juden die ihnen auferlegten Verbote nicht überschritten. Aus dem Grunde hätten diese sich aus den Häusern nicht wegbewegen können, es sei denn, dass sie zur Arbeit gingen. Dabei hätten sie die Sperrstunden für die jüdische Bevölkerung einhalten müssen. Sie hätten dem Judenrat in M unterstanden. Prof. Dr. G hat in der Zusammenfassung seines Gutachtens (Seite 13) ausgeführt, dass die Juden zum zwangsweisen Aufenthalt in ihren Häusern gezwungen und von der übrigen Bevölkerung isoliert worden seien, wobei zumindest für die Nachtstunden ein Ausgehverbot bestanden habe. Er hat ferner darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse denen in M vergleichbar gewesen seien. Dies kann für die gesamten Dörfer der Umgebung von M angenommen werden (vergleiche Urteil des Senats vom 4. September 2018 – L 7 R 152/16 zu dem benachbarten Ort Pa ).

Somit kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass die Juden in R infolge der Kennzeichnungspflicht gegenüber der deutschen und polnischen Bevölkerung als solche erkennbar und von ihr abgesondert war. Kontakte zwischen der jüdischen und der deutschen und polnischen Bevölkerung waren auf ein Minimum reduziert, früher bestehende Kontakte brachen ab. Die Juden unterlagen einem Wohnungszwang und konnten sich nicht mehr freizügig bewegen. Außerdem unterlagen sie einem verwaltungsrechtlichen sowie tatsächlichen Zwang zum Aufenthalt in ihrer Wohnung, aus der sie sich zumindest nachts nicht fortbewegen durften und tagsüber aufgrund der Anfeindungen der volksdeutschen Bevölkerung faktisch nicht fortbewegen konnten.

Diese Lebensverhältnisse erfüllen die Voraussetzungen für das Leben in einem Ghetto. Der Begriff des Ghettos ist im ZRBG oder in der Gesetzesbegründung hierzu (vergleiche BT-Drs. 14/8583, Seite 1 ff) nicht definiert. Es ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung sich maßgeblich an dem Sinn und dem Zweck des ZRBG zu orientieren hat. Es kommt deshalb nicht entscheidend darauf an, was historisch unter einem Ghetto zu verstehen ist oder von der Besatzungsmacht als solches bezeichnet wurde. Das ZRBG soll Verfolgten für deren Beschäftigung während ihres Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen Reich zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung ermöglichen (BSG v. 2. Juni 2009 - B 13 R 81/08 RSozR 4-5075 § 1 Nr. 5, Rn. 26; vergleiche Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE vom 8. Juni 2006, BT-Drs. 16/1955, Seite 1). Zwar ist das ZRBG als Reaktion auf die Ghetto-Rechtsprechung des BSG und in deren Akzeptanz verabschiedet worden (vergleiche BT-Drs. 14/8583, Seite 5; 14/8823, Seite 4; 15/1475, Seite 9; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Juni 2007, BT-Drs. 16/5720, Seite 5). Es erweitert jedoch in mehrfacher Hinsicht die Reichweite dieser Rechtsprechung, indem es eine unterschiedslose Regelung unabhängig von lokal anwendbarem Recht, Größe und Struktur der Ghettos schafft (BSG vom 2. Juni 2009 – aaO und vom 3. Juni 2009 – B 5 R 26/08 RSozR 4-5075 § 1 Nr. 8, Rn. 28).

Umgangssprachlich und unter historischem Bezug wurde unter einem Ghetto ein abgesondertes Wohnviertel verstanden, das ab dem Spätmittelalter vor allem der Separierung der jüdischen Bevölkerung diente (vgl. Eintrag "Ghetto" bei Wikipedia). Es konnte sich um einen Stadtteil oder eine Straße handeln, in der ausschließlich Juden wohnten. Es war ein eingegrenzter und von den anderen Teilen der Stadt abgetrennter Bezirk. Während Ghettos aus historischer Sicht reguläre Wohnbezirke der jüdischen Bevölkerung waren, dienten die Ghettos in den von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten anderen Zwecken; sie waren nicht als getrennte Wohngebiete für Juden geplant, sondern stellten ein Übergangsstadium im Verlauf der "Endlösung der Judenfrage" dar. Es gab verschiedene Formen von Ghettos, geschlossene oder offene (Amsterdam) oder einzelne bestimmte Häuser wie in Ba (Gutman u.a., Enzyklopädie des Holocaust, S. 535). Die Rechtsprechung zum ZRBG hat unter dem Blickwinkel der Zielrichtung des Gesetzes einen weiten Ghetto- Begriff vertreten und es ausreichen lassen, dass der Aufenthalt der Juden rechtlich und tatsächlich auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkt wurde und diese Beschränkung durch die Androhung schwerster Strafen bis hin zur Todesstrafe durchgesetzt wurde. Die Aufenthaltsbeschränkung hatte eine Abtrennung der jüdischen von der übrigen Bevölkerung zum Zweck (BSG vom 14. Dezember 2006 – B 4 R 29/06 RSozR 4-5075 § 1 Nr. 3, Rn. 84; LSG Baden-Württemberg vom 26. Januar 2010 – L 11 R 2534/09 – juris, Rn. 44). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat Kriterien herausgearbeitet, die für ein Ghetto kennzeichnend sind. Danach zeichnet sich dieses durch die Absonderung, Konzentration und Internierung der jüdischen Bevölkerung aus. Die Absonderung wird durch die Kennzeichnung mit dem Davidstern erzielt, die Konzentration erfolgt durch die Zusammenfassung der jüdischen Bevölkerung der Stadt oder der weiteren Umgebung in einem Wohnbezirk, die Internierung durch die Zuweisung bestimmter zwingender Wohnbezirke (LSG Nordrhein-West-falen vom 15. Dezember 2006 – L 13 RJ 112/04 - juris, Rn. 32 ff; Urteil vom 13. Februar 2008 - L 8 R 153/06 - juris, Rn. 35). Das zwingende Merkmal der Konzentration in einem begrenzten Wohnbezirk hatte der 4. Senat des BSG aus § 43 Abs. 2 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgeleitet (BSG vom 14. Dezember 2006, aaO). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat jedoch bereits darauf hingewiesen (Urteil vom 1. September 2006 - L 14 R 41/05 - juris, Rn. 27), dass die NS-Machthaber eine vollständige und hermetische Abriegelung der jüdischen Bevölkerung aus verschiedenen Gründen nicht realisieren konnten. Daraus folgte die große Zahl verschiedener offener Ghettos. (vgl. zu den verschiedenen äußeren Verhältnissen in den Ghettos: Röhl, Vom historischen zum rechtlichen Ghettobegriff, NZS 2018, S. 514). Gemeinsam war allen Ghettos jedoch die fehlende Freizügigkeit der jüdischen Menschen. Das LSG Nordrhein-Westfalen hielt es für maßgeblich, dass die Tätigkeit in einem Zeitraum ausgeübt wurde, in dem bereits eine aufgezwungene und kontrollierte Separierung der jüdischen Bevölkerung in bestimmten Wohnbezirken faktisch realisiert und als Ausdruck behördlicher Beschränkungen der Bewegungsfreiheit im Zusammenhang mit zunehmenden Verdrängungsmaßnahmen und in dem Zustrom weiterer Juden aufgrund von Vertreibungsaktionen umgesetzt worden war (LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. September 2006 - aaO).

Der Senat ist der Auffassung, dass an der "3-Elementen-Theorie" des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen als Grundsatz festgehalten werden soll, weil diese im Großen und Ganzen die Lebensumstände widerspiegelt, die in den Ghettos im Generalgouvernement in der Zeit der deutschen Besatzung während des Nationalsozialismus geherrscht haben. Das Merkmal der Absonderung war auch bei dem Kläger erfüllt, denn nach den Feststellungen des Senats war auch er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen sofort gezwungen, die Armbinde mit dem Davidstern zu tragen und sich als Jude kenntlich zu machen. Die jüdischen Familien in R waren auch im oben bezeichneten Sinne interniert. Denn sie mussten in ihren Wohnungen verbleiben und durften aus ihnen ohne Genehmigung nicht wegziehen. Sie waren in ihrer Bewegungsfreiheit auf die Wohnungen bzw. Häuser beschränkt und durften diese nicht verlassen, es sei denn, dass sie zur Arbeit gingen und - dies unterstellt der Senat - zum Zwecke unerlässlicher Besorgungen. Dabei standen sie auch unter Kontrolle entweder der deutschen Besatzungstruppen oder der volksdeutschen Bevölkerung. Hierzu hat der Gutachter G ausgeführt, dass diese als im Ausland lebende Deutsche gelegentlich strenger auf die Einhaltung der Vorschriften durch die jüdische Bevölkerung achteten als die reichsdeutsche Bevölkerung. Er hat ferner ausgeführt, dass die "Volksdeutschen" sich häufig die Zwangslage der jüdischen Bevölkerung zu Nutze machten und diese zu ihren eigenen Zwecken wirtschaftlich ausbeutete (vgl. Urteil des Senats vom 4. September 2018 – L 7 R 152/16 zum Ort Pa ). Dieses hat der Gutachter durch Zeugenaussagen belegt.

Allerdings waren die Juden in R nicht konzentriert. Allein die Zahl von 21 Menschen ließ eine Konzentration in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk nicht zu und die Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse erforderte diese auch nicht. Vielmehr verblieben die Juden in ihren angestammten Häusern oder es wurden ihnen andere einzelne Häuser zugewiesen, in denen sie leben mussten und die sie mit den oben genannten Ausnahmen nicht verlassen durften. Dies hindert jedoch nicht die Annahme, dass die Juden in R gleichwohl in einem Ghetto gelebt haben. Denn wenn man an dem Erfordernis der Konzentration unter allen Bedingungen festhalten würde, wären die Juden in den kleinen Landgemeinden, in denen eine sofortige Konzentration der jüdischen Bevölkerung nach der Besetzung der polnischen Gebiete kurzfristig gar nicht möglich war, von der Anwendung des ZRBG ausgeschlossen. Es ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der "Ghettoisierung" der Juden um einen längerfristig gestreckten Vorgang handelte, der die verschiedenen Zwischenformen der Ghettobildung hervorrief. Dies belegt die Tatsache, dass auch der Kläger wie die übrige jüdische Bevölkerung von R und der anderen umliegenden Gemeinden im März 1942 in das Zwangsarbeitslager B kam. Diese Umsiedlungen dienten der Konzentration der gesamten jüdischen Bevölkerung des Kreises M. Ein Ausschluss der Bevölkerung der Landgemeinden von der Anwendung des ZRBG würde jedoch dem Zweck des ZRBG nicht entsprechen.

Zweck des Gesetzes soll es sein, im Rentenrecht den Rest an (Vertrags-)Freiheit der jüdischen Bevölkerung bei der Ausübung von Tätigkeiten zu berücksichtigen, der diese einerseits von Zwangsarbeiten in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern abgrenzt und andererseits nicht die erforderlichen Merkmale der freien Willensbetätigung und des Entgelts für eine Beschäftigung im Sinne des § 7 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) aufweist ( vgl. BSG vom 18. Juni 1997 – 5 RJ 66/95SozR 3-5050 § 14 Nr. 1, Rn. 17; BSG vom 14. Dezember 2006 – B 4 R 29/06 RSozR 4-5075 § 1 Nr. 3, Rn. 104; vgl. auch BSG vom 3. Juni 2009 – aaO, Rn. 20 bis 22). Maßgeblicher Hintergrund für die Gesetzesregelung ist die Ausübung einer Beschäftigung jenseits einer Zwangsarbeit unter weitestgehender Einschränkung der Freizügigkeit im Übrigen. Die Abgrenzung eines Ghettos von einem Zwangslager oder Konzentrationslager ist bereits aufgrund deren struktureller Organisationsform hinreichend möglich, jedoch ist eine Abgrenzung von einer freien Lebensform ohne obrigkeitlichen Ordnungszwang nur schwer vorzunehmen, in der Beschäftigungen im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV ausgeübt werden können. Sie muss sich an der Zielbestimmung des ZRBG ausrichten (Röhl, aaO, S. 16). Das bedeutet, dass es auf die Einschränkung der Freizügigkeit, nicht jedoch auf die äußeren Organisationsmerkmale ankommt, mit denen diese Einschränkung verbunden ist. Diese Merkmale gleichen bei dem Versicherten denjenigen, bei denen das Ghetto mit "Mauer und Stacheldraht" (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen vom 31. März 2008 L 3 R 20/06 - juris, Rn. 37) abgegrenzt war. Die jüdische Bevölkerung im Kreis M war in der Lebensführung nach der insgesamt glaubhaften Darstellung des Klägers auf die bewohnten Häuser beschränkt und durfte sich abgesehen vom Weg zur Arbeit nicht daraus fortbewegen. Damit war sie in weitaus stärkerem Maß in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt als in einem Ghetto im Sinne eines weitläufigeren Wohnbezirkes (vgl. Ghetto Warschau). Denn dort stand es der jüdischen Bevölkerung frei, sich wenigstens innerhalb des Wohnbezirks auf der Straße zu bewegen. Diese Möglichkeit hatte der Versicherte nicht. Wie oben ausgeführt, verlangt die Zielrichtung des ZRBG, auf die Freiheitsbeschränkung als Grundlage für die Anerkennung der Beschäftigungszeiten abzustellen. Diese Beschränkung war unter den Lebensverhältnissen in den kleinen Gemeinden des Kreises M – hier R – in gleicher Weise gegeben, wie in großen Ghettos mit einer Konzentration der Juden der Stadt oder des Umlands. Allerdings muss diese Einschränkung der Freizügigkeit auch tatsächlich gegeben sein, um die Beschäftigung in einem Ghetto im Sinne des § 2 Abs. 1 ZRBG von allen anderen Beschäftigungs- und Lebensformen abzugrenzen und den Begriff des Ghettos nicht in Beliebigkeit ausufern zu lassen. Diese Voraussetzungen sind dann gegeben, wenn die entsprechenden Teile der Bevölkerung als solche gekennzeichnet waren, ihre Freizügigkeit, der Wohn- und ihr Lebensbereich eng begrenzt waren und sie keine oder allenfalls eine aufs Äußerste eingeschränkte Wahlmöglichkeit hinsichtlich ihres Lebensbereichs hatten. Der Senat gelangt daher zu dem Schluss, dass es sich bei dem Merkmal der Konzentration der Juden um einen historisch typischen Wesensbestandteil eines Ghettos handelt, der im Sinne des ZRBG weit auszulegen ist und in kleinen Gemeinden auch Wohnformen umfasst, in denen das Leben der Juden auf ihre Häuser oder Wohnungen beschränkt ist. Zwar hat Prof. Dr. G in seinem Gutachten die Annahme von Ghettos für R und die weiteren umliegenden Ortschaften verneint. Dabei ist er jedoch von einem formalen Ghetto-Begriff ausgegangen und hat dem Merkmal der Konzentration auf einen Stadtteil oder ein Stadtgebiet wesentliche Bedeutung beigemessen. Aus den oben genannten Gründen folgt der Senat diesem Ansatz nicht und hält die faktische Beschränkung der Freizügigkeit für das maßgebliche Merkmal. Die übrigen Voraussetzungen für ein Ghetto, die die bisherige Rechtsprechung aufgestellt hat, hat der Sachverständige hingegen bejaht.

Diese Auffassung wird durch die Tatsache gestützt, dass für R und die weiteren umliegenden Ortschaften der Judenrat für M zuständig war. Damit war auch für diese Gemeinden eine Organisationsform gegeben, die üblicherweise für die Eigenverwaltung der Lebensbedürfnisse in den Ghettos vorgesehen war. Dagegen ist es unerheblich, dass die jüdische Bevölkerung mangels einer Konzentration mit den Volksdeutschen "Tür an Tür" wohnte. Denn die Ghettobildung nach den oben bezeichneten Vorgaben verlangt keine Separierung der Juden in eigenen Stadtteilen oder Vierteln, sondern auch einzelne offene Straßenzüge oder Straßenseiten erfüllen den Ghettobegriff, also Wohnformen, in denen die Juden und die anderen Bevölkerungsteile nah beieinander lebten.

In gleicher Weise hat der Senat es für glaubhaft erachtet, dass der Kläger in der Zeit, in der er in R im Ghetto gelebt hat, einer freiwilligen entgeltlichen Beschäftigung nachgegangen ist. Der Kläger hat geschildert, dass er in Wohnungen, eventuell von Militärangehörigen geputzt hat, ferner auf dem deutschen Militärgelände gereinigt hat und die Militär-LKW’s gewaschen hat. Der Sachverständige Prof. Dr. G hat diesen Vortrag des Klägers vor dem Hintergrund der weiteren historischen Erkenntnisse für glaubhaft erachtet. Dieser Einschätzung folgt der Senat. Die Tatsache ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Der Senat hat gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, da für den Gettobegriff des ZRBG höchstrichterlich eine weitergehende Abklärung erforderlich ist.
Rechtskraft
Aus
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