L 6 KR 264/15

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 38 KR 4146/14
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 KR 264/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Erlass von Beitragsschulden nach § 256a Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch setzt nicht in jedem Fall voraus, dass das Mitglied während des Nacherhebungszeitraums keinerlei Leistungen in Anspruch genommen hat.
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 27. Januar 2015 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 1. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. August 2014 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Beitragserlass unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt eine Neuentscheidung des Beklagten über den Erlass von Beitragsschulden zur gesetzlichen Krankenversicherung.

Der Kläger war bis zum 31. März 2013 bei der Beklagten gesetzlich krankenpflichtversichert. Ab 2. April 2013 (Osterdienstag) war er als selbstständiger Kundenberater tätig. Unter dem 19. August 2013 bat er die Beklagte um Mitgliedschaft ab 1. August 2013. Im Zeitraum April bis Juli habe keine Krankenversicherung bestanden; er habe auch keine Leistungen in Anspruch genommen. Rückwirkende Beiträge würden sein Budget sprengen.

Dies wertete die Beklagte als Antrag auf Beitragserlass, den sie mit Bescheid vom 1. April 2014 ablehnte, weil er im Nacherhebungszeitraum Leistungen in Anspruch genommen habe. Den Widerspruch, den der Kläger damit begründete, dass er bei seinem Hausarzt lediglich einen notwendigen schriftlichen Befundnachweis angefordert habe, wies die Beklagte nach Einholung einer Abrechnungsauskunft (EBM GO-Nr. 32001 "Erbringung und/oder Veranlassung von Leistungen", Allgemeinmediziner H. am 5. Juni 2013, "theoretische Gesamtkosten" 32,48 EUR) zurück (Widerspruchsbescheid vom 6. August 2014). Jegliche Leistungsinanspruchnahme im Nacherhebungszeitraum durch den Versicherten schließe den Beitragserlass aus. Auch die sich anschließende Klage blieb erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 27. Januar 2015).

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hat die Bescheinigung des Dipl.-Med. H. vom 10. Juni 2013 zu den Gerichtsakten gereicht, die wie folgt lautet: "O. g. Patient wurde wegen einer Oberarmfraktur links und einer Oberschenkelfraktur links infolge eines Verkehrsunfalls vom 08.04.2002 durch mich mitbehandelt. Im Juni 2003 erfolgte die Materialentfernung. Bis zur letzten Konsultation (05.06.2013) gab der Patient keine Schmerzen bzw. Funktionseinschränkungen an. Die klinische Untersuchung erbrachte eine unauffällige Gelenkstellung/-funktion bei reizloser Narbe und unauffälliger Durchblutung, keine Muskelatrophie sowie keine neurologischen bzw. sensiblen Störungen. Weiter aktuellen Erkrankungen sind nicht bekannt, es besteht zur Zeit eine volle physische und psychische Belastbarkeit."

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 27. Januar 2015 und den Bescheid der Beklagten vom 1. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. August 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Erlassantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht sich an die "Einheitlichen Grundsätze zur Beseitigung finanzieller Überforderung bei Beitragsschulden" vom September 2013 gebunden, wonach eine Leistungsinanspruchnahme den Beitragserlass ausschließe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Die Verwaltungsakte der Beklagten lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist der Berufungsstreitwert erreicht: Nach dem vorläufigen Bescheid vom 12. Juni 2014 betrug der monatliche Gesamtbeitrag 2013 ab 2. April 231,77 EUR. Dem entspricht die Festsetzung im endgültigen Bescheid vom 4. Oktober 2018. Auch ohne die nicht streitgegenständlichen Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung ist der Berufungsstreitwert bei dem betroffenen Zeitraum April bis Juli 2013 erreicht.

Die Berufung ist auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Erlassantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 131 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Gemäß § 256a Abs. 1 1. Halbsatz Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der durch das Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15. Juli 2013 geschaffenen und seitdem unveränderten Fassung soll die Krankenkasse die für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beiträge angemessen ermäßigen, wenn ein Versicherter das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V (Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren) erst nach einem der in § 186 Abs. 11 Satz 1 und 2 SGB V genannten Zeitpunkte anzeigt. Nach diesen Vorschriften beginnt die Mitgliedschaft der nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 Versicherungspflichtigen mit dem ersten Tag ohne anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall im Inland. Erfolgt die Anzeige nach § 256a Absatz 1 bis zum 31. Dezember 2013, soll die Krankenkasse den für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beitrag und die darauf entfallenen Säumniszuschläge nach § 24 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch erlassen, § 256a Abs. 2 Satz 1 SGB V.

Die Voraussetzungen des § 256a Abs. 1 und 2 SGB V liegen hier vor: Der Kläger hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V erst nachträglich - mit Schreiben vom 19. August 2013 - angezeigt.

Bei der daher anzuwendenden Vorschrift des § 256a Abs. 2 Satz 1 SGB V handelt es sich um eine Sollvorschrift. Bei einer Sollvorschrift ist zwar bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen die Rechtsfolge regelmäßig vorgezeichnet, der Leistungsträger kann jedoch bei atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen. Dabei ist die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht im Wege der Ermessensausübung zu klären, sondern als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu überprüfen (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 30. Juni 2016, B 5 RE 1/15 R, juris, Rdnr. 23, m.w.N.).

Zur Beurteilung, ob ein atypischer Fall vorliegt, sind die "Einheitlichen Grundsätze zur Beseitigung finanzieller Überforderung bei Beitragsschulden" vom 4. September 2013 (im Folgenden: EG) heranzuziehen. Dieses vom GKV-Spitzenverband (Spitzenverband Bund der Krankenkassen, § 217a SGB V) "einheitlich für alle Krankenkassen" geschaffene Regelwerk basiert auf § 256a Abs. 4 Satz 1 SGB V. Danach regelt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen das Nähere zur Ermäßigung und zum Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen nach den Absätzen 1 bis 3, insbesondere zu einem Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung für die Ermäßigung oder den Erlass. Dabei ist - entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zur Normenhierarchie - allerdings zu beachten, dass sich die getroffenen Regelungen im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung halten müssen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 4 EG setzt ein Erlass der Beiträge voraus, dass das Mitglied schriftlich erklärt, während des Nacherhebungszeitraums Leistungen für sich nicht in Anspruch genommen zu haben oder im Falle in Anspruch genommener Leistungen auf eine Kostenübernahme oder Kostenerstattung zu verzichten.

Der Kläger hat Leistungen für sich in Anspruch genommen, wie aus dem vorgelegten Bericht des Dipl.-Med. H. hervorgeht ("Die klinische Untersuchung ergab "). Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass es sich nur um einen ärztlichen Befundbericht zur Vorlage bei einer anderen Stelle gehandelt habe, wie der Kläger vorträgt. Die weitere Variante nach § 2 Abs. 1 Satz 4 EG (Verzichtserklärung zur Kostenübernahme oder -erstattung) hilft hier nicht weiter, weil hier keine noch offenen Kostenansprüche in Rede stehen.

Damit liegen die Voraussetzungen für einen Beitragserlass nach § 2 Abs. 1 Satz 4 EG nicht vor. Das führt jedoch nach Ansicht des Senats nicht dazu, dass ein Erlass von vornherein ausscheidet, wovon die Beklagte ausgeht. Denn ein derartiges Verständnis von § 2 Abs. 1 Satz 4 EG ist von der Ermächtigung in § 256a SGB V nicht gedeckt. Dass jegliche tatsächliche Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in der Vergangenheit einen Erlass ausschließt, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Als negative Tatbestandsvoraussetzung ist dies im Gesetz nicht formuliert. In Abs. 1 und 2 wird allein auf die Anzeige abgestellt. Dass dann im Regelfall des Abs. 2 von der Behörde ein Erlass zu verfügen ist, ergibt sich aus der Formulierung der Norm als Soll-Vorschrift. Angesichts dieser eindeutigen gesetzlichen Systematik ist es fernliegend, die Ermächtigung zur Regelung des "Näheren zum Erlass" an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen, "insbesondere zu einem Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung", in einer Weise auszulegen, die dazu führt, dass schon bei der geringsten Inanspruchnahme von GKV-Leistungen jeder Erlass ausgeschlossen sein soll. Eine derart weitreichende Entscheidung mit unter Umständen gravierenden finanziellen Konsequenzen für den Betroffenen muss schon im Hinblick auf den Wesentlichkeitsgrundsatz dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Dass der Gesetzgeber bei dem erst am 1. August 2013 in Kraft getretenen Gesetz in allen Fällen der Leistungsinanspruchnahme einen Erlass ausschließen wollte, erscheint auch unter Berücksichtigung der im Titel des Gesetzes zum Ausdruck kommenden Zielsetzung des Gesetzes fernliegend (vgl. LSG Berlin - Brandenburg, Beschluss vom 30. September 2014 - L 1 KR 331/14 B ER - juris, Rdnr. 19). Das findet Bestätigung in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 17/13947, S. 39: "Zu Absatz 4: ( ) Der Spitzenverband Bund hat dabei insbesondere auch die Voraussetzungen dafür zu regeln, nach denen ein Leistungsverzicht bzw. ein Verzicht auf die Einreichung von Rechnungen für den entsprechenden Zeitraum Bedingung für einen Erlass bzw. die Ermäßigung von Beiträgen ist"). Angesichts dieser Formulierung ("die Voraussetzungen dafür zu regeln, nach denen ") spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber dem Spitzenverband mit der Ermächtigung in Satz 4 EG die Rechtsmacht geben wollte, tatbestandserweiternd einen Erlass bei jeder noch so geringen Inanspruchnahme von Leistungen ohne jegliche Einzelfallprüfung auszuschließen.

Rechtsfolge der fehlerhaften Ermessensentscheidung der Beklagten ist die Verurteilung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Dem Umstand, dass der Kläger den Antrag im Berufungsverfahren beschränkt hat, misst der Senat keine kostenrelevante Bedeutung zu.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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