S 34 KR 724/17 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
34
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 34 KR 724/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 445/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antrag wird abgelehnt.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die vorläufige Versorgung des Antragstellers mit Medizinal-Cannabisblüten sowie einem Vaporizer zur Inhalation.

Der 1973 geborene Antragsteller bezieht Leistungen nach dem SGB II, nachdem er zuvor ein Studium der Rechtswissenschaften sowie eine Tätigkeit in einer Unternehmensberatung abbrechen musste. Er ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er leidet seit 2008 an Cluster Kopfschmerzen mit häufigen, starken Schmerzattacken. Unter dem 26.04.2016 stellte ihm das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Betäubungsmittelerlaubnis für den Bezug von Medizinal-Cannabisblüten aus der Apotheke aus. So bezog der Antragsteller seither 2,5 Gramm Cannabisblüten täglich (75 Gramm monatlich) auf eigene Kosten. Zudem besitzt er eine Sauerstoffflasche zur Inhalation von Sauerstoff während der Kopfschmerzattacken. Eine Erlaubnis zum Eigenanbau von Cannabis lehnte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte unter dem 10.03.02017 ab und forderte gleichzeitig die erteilte Erlaubnis aufgrund der geänderten Gesetzeslage bis 11.06.2017 zurück. Nach Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften mit Gesetz vom 10.03.2017 und Schaffung der Verschreibungsfähigkeit von Cannabis zu Lasten der Krankenkasse beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin am 13.03.2017 telefonisch die Übernahme der Kosten für Cannabisblüten zu 3 Gramm täglich bzw. 90 Gramm monatlich sowie für einen Vaporizer zum Inhalieren der Blüten (Kostenvoranschlag für den Vaporizer über EUR 348,00 Blatt 63 der Gerichtsakte). Die Antragsgegnerin übersandte daraufhin einen Fragebogen an den Antragsteller, den dieser zunächst nicht zurückschickte.

Mit Bescheid vom 30.03.2017 lehnte die Antragsgegnerin die Kostenübernahme ab, da die vorliegenden Unterlagen für eine Entscheidung unzureichend seien. Am 13.04.2017 erhob der Antragsteller Widerspruch. Im Widerspruchsverfahren holte die Antragsgegnerin eine Stellungnahme ihres Medizinischen Dienstes (MDK) ein. Unter dem 07.06.2017 kam der MDK zu dem Ergebnis, dass die häufigen, heftigen Clusterkopfschmerzen die Lebensqualität sicherlich erheblich einschränkten. Die klinische Evidenz bei Cannabinoiden in der Kopfschmerzbehandlung sei gering. Die im Nikolausbeschluss des Bundesverfassungsgerichts genannte Mindestevidenz werde noch nicht erreicht. Beim Clusterkopfschmerz sei die Datenlage noch schlechter als bei der Migräne. Evidenzbasiert könne man Cannabis derzeit nicht befürworten. Ein überzeugender Wirksamkeitsnachweis fehle bisher. Auf das Gutachten Blatt 48 ff. der Gerichtsakte wird Bezug genommen. Mit Schreiben vom 09.06.2017 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nach der Stellungnahme durch den MDK nicht vorlägen, und fragte an, ob der Widerspruch aufrechterhalten werde. Unter dem 27.07.2017 stellte die behandelnde Ärztin Dr. E. die Originalverordnung über 3 Gramm Cannabisblüten täglich bzw. 90 Gramm monatlich aufgrund Verlustes durch den MDK neu aus (Blatt 54 der Gerichtsakte).

Am 03.08.2017 hat der Antragsteller um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht. Er trägt unter Vorlage ärztlicher Atteste vor, er leider unter bis zu zehn Schmerzattacken täglich, die sich jeweils bis zu drei Stunden hinziehen könnten. Neben unerträglichen Schmerzen trete eine linksseitige Lähmung auf und die Augen begännen zu tränen. Danach leide der Kläger unter starken Schweißausbrüchen. Eine Sauerstoffflasche könne etwas Akutlinderung bei Auftreten der Attacken liefern. Der Antragsteller führe aufgrund der Häufigkeit der Attacken immer eine Sauerstoffflasche bei sich. In der Vergangenheit habe der Antragsteller Schmerzmittel wie Ibuprofen, Sumatriptan, Aspirin, Opidiol, Triptane und Novalgin in immer größeren Dosierungen zu sich genommen. Diese hätten keinen Erfolg gebracht. Er habe Magen- und Darmprobleme bekommen. Ein großer Polyp sei aus dem Magen entfernt worden. Schmerzmittel seien seiner Ansicht nach zudem unwirksam für die Behandlung von Cluster-Kopfschmerzen. Der Antragsteller trägt weiter vor, er habe bereits im Jahre 2015 einen Selbstversuch mit Cannabinoiden unter ärztlicher Begleitung unternommen. Dieser habe zu einer deutlichen Verbesserung seines Wohlbefindens geführt. Die Attacken seien verringert worden und auch die Schweißausbrüche seien zurückgegangen. Er könne mit Cannabis die Schmerzen annähernd auf ein erträgliches Maß reduzieren und am Alltag teilnehmen. Der Antragsteller ist der Ansicht, dass ein Anordnungsgrund vorliege, da er nicht in der Lage sei, sich auf eigene Kosten das benötigte Cannabis zu verschaffen, um seine starken Schmerzen zu lindern. Zudem könne er durch den Entzug der Betäubungsmittelerlaubnis das Cannabis auch nicht mehr aus Apotheken beziehen. Der Antragsteller ist auch der Ansicht, dass ein Anordnungsanspruch bestehe, da er einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten aus § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b und 2 SGB V habe. Er leide an einer schwerwiegenden Erkrankung und es bestehe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf die schwerwiegenden Symptome. Die behandelnde Ärztin habe in ihrer Therapiehoheit Cannabis verordnet, weil andere Schmerzmittel unwirksam gewesen seien und der Antragsteller austherapiert sei.

Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren die Kosten für Medizinal-Cannabisblüten entsprechend der ärztlichen Verordnung in der Monatsdosis von 90 Gramm sowie einen Vaporizer zum Inhalieren der Blüten für den Antragsteller zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Die Antragsgegnerin bezieht sich auf die Stellungnahme des MDK und den Inhalt ihres Bescheides. Darüber hinaus ist sie der Ansicht, es bestehe kein Anordnungsanspruch, da eine schwerwiegende Erkrankung bei dem Antragsteller nicht vorliege, zumal Fahrtauglichkeit attestiert worden sei. Zudem könne der Antragsteller Linderung durch die Gabe von Sauerstoff erfahren. Es liege auch kein Anordnungsgrund vor, da der Antragsteller bisher das Cannabis mit seiner Betäubungsmittelerlaubnis über eine Apotheke bezogen und selbst finanziert habe. Dies ändere sich auch bei Verordnung von Cannabis über ein Privatrezept nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag ist unbegründet.

Nach § 86 b Absatz 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Da der Antragsteller die vorläufige Gewährung von Medizinal-Cannabisblüten begehrt, erstrebt er vorläufigen Rechtsschutz in Form einer Regelungsanordnung gemäß § 86 b Absatz 2 Satz 2 SGG. Denn anders als bei einer Sicherungsanordnung gemäß § 86 b Absatz 2 Satz 1 SGG, bei der die Sicherung eines status quo im Vordergrund steht, geht es bei einer Regelungsanordnung um die Begründung einer neuen Rechtsposition, wie im vorliegenden Fall um die Gewährung von Arzneimitteln.

Zu den Voraussetzungen des Erlasses einer wie hier begehrten Regelungsanordnung gemäß § 86 b Absatz 2 Satz 2 SGG führt das Hessische Landessozialgericht beispielsweise in seiner Entscheidung vom 20.11.2012, Az. L 7 AS 473/12 B ER, Folgendes aus:

"Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiellrechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache – möglicherweise – zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache darf nicht mit wesentlichen Nachteilen verbunden sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Vielmehr stehen beide in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Senat, 29.06.2005 – L 7 AS 1/05 ER – info also 2005, 169; Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rdnr. 27 und 29, 29a m.w.N.): Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen."

Nach diesen Maßstäben, denen sich das Gericht anschließt, ist ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Offen bleiben kann, ob dem Antragsteller aufgrund der mit Gesetz vom 06.03.2017 zum 10.03.2017 neu eingefügten Regelung des § 31 Abs. 6 SGB V ein Anspruch auf Kostenübernahme für die begehrte Cannabis-Therapie, ein Anordnungsanspruch, zusteht.

Eine dringliche Notlage, die eine sofortige Entscheidung erforderlich macht, ist nicht gegeben. Vielmehr ist es dem Antragsteller zuzumuten, das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Der Antragsteller bezog in der Vergangenheit über eine betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis das ihm ärztlicherseits verordnete Cannabis aus der Apotheke und musste dies selbst finanzieren. Nach der Gesetzesänderung bedarf es dieser betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnis nicht mehr, eine ärztliche Verordnung für das Cannabis reicht. Der Antragsteller kann also mit einem Privatrezept Cannabis weiter aus der Apotheke beziehen. Der Vortrag des Antragstellers, er könne ohne die betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis überhaupt kein Cannabis mehr beziehen, ist nicht nachvollziehbar. Auch in finanzieller Hinsicht ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Antragsteller nicht (mehr) in der Lage sein soll, das Cannabis bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens selbst zu finanzieren. Hier fehlt sogar jeglicher Vortrag, wie die finanziellen Verhältnisse des Antragstellers aussehen, also welche Mittel ihm monatlich zur Verfügung stehen, und welche Kosten für das verordnete Cannabis anfallen. Es wurde lediglich vorgetragen, der Antragsteller beziehe SGB II – Leistungen. In der Vergangenheit aber hat der Antragsteller das Cannabis auch selbst gekauft. Weshalb des nicht mehr gehen soll, erschließt sich nicht. Schließlich steht dem Antragsteller in gesundheitlicher Hinsicht eine Sauerstoffflasche zur Verfügung, um sich während einer Schmerzattacke eine gewisse Linderung verschaffen zu können. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der Antragsteller unter beträchtlichen Kopfschmerzen leidet, sieht aber letztlich keine wesentlichen, irreparablen Nachteile für den Antragsteller bei einem Abwarten des Hauptsacheverfahrens.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Rechtskraft
Aus
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