S 3 AL 202/07

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 3 AL 202/07
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AL 103/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 109/13 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 01.08.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.09.2006 wird insoweit abgeändert, als das Ruhen des Arbeitslosengelanspruchs über den 19.07.2006 hinaus festgestellt wurde. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 23.09.2006 Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über das Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs des Klägers über den 19. Juli 2006 hinaus und die Gewährung von Arbeitslosengeld ab 23. September 2006.

Der 1976 geborene Kläger meldete sich am 13. Juni 2006 zum 1. Juli 2006 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Vorhergehend stand er als Maschinenschlosser in einem Versicherungspflichtverhältnis bei der C. AG. Das Arbeitsverhältnis wurde durch Aufhebungsvertrag am 12. Juni 2006 zum o. g. Zeitpunkt beendet. Ausweislich der Arbeitsbescheinigung erhielt der Kläger eine Abfindung in Höhe von 102.060,00 EUR. Wegen Zahlung einer Urlaubsabgeltung hätte das Arbeitsverhältnis bis einschließlich 19. Juli 2006 gedauert und wäre zum 15. eines Monats zum Monatsende zu beendigen gewesen, wäre die ordentliche Kündigung nicht ausgeschlossen worden.

Durch Bescheid vom 31. Juli 2006 stellte die Beklagte den Eintritt einer 12-wöchigen Sperrzeit im Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis 22. September 2006 bestandskräftig fest. Durch weiteren Bescheid vom 1. August 2006 stellte die Beklagte das Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs für die Zeit vom 1. Juli 2006 bis 1. Juli 2007 mit der Begründung fest, der Kläger habe von seinem bisherigen Arbeitgeber wegen der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses eine Abfindung in Höhe von 102.060,00 EUR erhalten bzw. zu beanspruchen. Da die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nur bei Zahlung einer Abfindung möglich gewesen sei, gelte eine Kündigungsfrist von 12 Monaten. Der Anspruch ruhe so lange, wie 55 v. H. der gezahlten bzw. zu beanspruchenden Beträge dem kalendertäglichen Arbeitsentgelt entsprächen. Da das maximale Ruhen 12 Monate betrage, ruhe der Leistungsanspruch bis zum 12. Juni 2007. Da der Kläger von seinem bisherigen Arbeitgeber noch bis einschließlich 19. Juli 2006 eine Urlaubsabgeltung zu erhalten oder zu beanspruchen habe, verlängere sich der Ruhenszeitraum um die Zeit des abgegoltenen Urlaubs bis zum 1. Juli 2007.

Ebenfalls durch Bescheid vom 1. August 2006 bewilligte die Beklagte Arbeitslosengeld ab 1. Juli 2007 nach einem täglichen Leistungssatz in Höhe von 34,27 EUR nach Lohnsteuerklasse I, Allgemeiner Leistungssatz. Gegen den Ruhensbescheid wegen Zahlung einer Entlassungsentschädigung richtete sich der am 23. August erhobene Widerspruch. Zur Begründung trägt der Kläger vor, das Arbeitsverhältnis hätte nicht gekündigt werden können, sondern die Auflösung sei nur aufgrund eines Aufhebungsvertrages möglich gewesen. Für diesen Fall sei § 143 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 SGB III anwendbar.

Durch Widerspruchsbescheid vom 19. September 2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, auf die Gründe, aus denen das Arbeitsverhältnis beendet wurde, komme es entgegen der im Widerspruch vorgetragenen Ansicht nach dem Willen des Gesetzgebers nicht an. So werde für die Anwendung des § 143 a SGB III grundsätzlich nicht unterschieden, ob das Arbeitsverhältnis durch eine Kündigung oder – wie vorliegend – durch einen Aufhebungsvertrag seine Beendigung gefunden habe.

Gegen den zurückweisenden Widerspruch richtet sich die am 9. Oktober 2006 zum Sozialgericht Kassel erhobene Klage. Zur Begründung trägt der Kläger vor, auch bei Zahlung einer Entlassungsentschädigung hätte sein Arbeitsverhältnis nicht gekündigt werden können. Dies ergebe sich aus dem Zukunftstarifvertrag zwischen der C. AG und der IG Metall vom 3. November 2004, in dessen § 3 festgestellt wurde, dass betriebsbedingte Beendigungskündigungen erstmals zum 31. Dezember 2011 möglich seien. Eine Einschränkung dahingehend, dass Kündigungen zuvor mit Zahlung einer Abfindung möglich sein sollten, sei nicht getroffen worden. § 143 a Abs. 1 Satz 4 SGB III sei daher auf den Anspruch des Klägers nicht anwendbar.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 01.08.2006 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 19.09.2006 insoweit abzuändern, als das Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs über den 19.07.2006 hinaus festgestellt wurde und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 23.09.2006 Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte beruft sich zur Begründung ihres Antrags auf die während des Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens gemachten Ausführungen. Ergänzend trägt sie vor, Arbeitnehmer der C. AG hätten arbeitgeberseitig aufgrund des dort existierenden Beschäftigungssicherungstarifvertrages nicht gekündigt werden können. Daher sei die Kündigungsfrist von 1 Jahr anzusetzen.

Im Rahmen der Sachermittlungen von Amts wegen hat das Gericht mit Schreiben vom 10. Februar 2010 bei der C. AG angefragt, ob der Zukunftstarifvertrag vom 3. November 2004 nur auf Gewerkschaftsmitglieder angewandt wurde. Ausweislich der Auskunft vom 17. Februar 2010 wurde der Zukunftstarifvertrag vom 3. November 2004 in seinem Anwendungsbereich zwar auf Mitglieder der IG Metall beschränkt, aber auch auf Nichtgewerkschaftsmitglieder angewandt.

Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte; weiterhin wird Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen Leistungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Der Streitgegenstand wurde durch den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 17. Mai 2010 insoweit begrenzt, als die Aufhebung des Ruhens über den 19. Juli 2006 hinaus begehrt wurde und ein Anspruch auf Arbeitslosengeld erst ab 23. September 2006 – also erst nach Ablauf der bestandskräftig festgestellten Sperrzeit begehrt worden ist.

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 1. August 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2006 ist insoweit rechtswidrig, als die Beklagte das Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs über den 19. Juli 2006 hinaus festgestellt hat und es ablehnte, dem Kläger ab 23. September 2006 Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren. Der Kläger wird insoweit in seinen Rechten verletzt.

Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht entsprechend § 143 a Abs. 1 und 2 Sozialgesetzbuch, 3. Buch (SGB III), wenn der Arbeitnehmer wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung, Entschädigung o. ä. Leistung erhalten oder zu beanspruchen hat und das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer der ordentlichen Kündigungsfrist des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden ist. Der Kläger hat zwar wegen der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses eine Abfindung in Höhe von 102.060,00 EUR erhalten; das Arbeitsverhältnis, das mit dem 30. Juni 2006 endete, ist indessen nicht ohne Einhaltung einer der ordentlichen Kündigungsfrist der C. AG entsprechenden Frist beendet worden.

Die ordentliche Kündigungsfrist des Arbeitgebers betrug ausweislich der Arbeitsbescheinigung, an deren Inhalt kein Anlass zu zweifeln bestand, zwei Wochen zum Monatsende. Diese Frist, die nach § 143 a Abs. 1 Satz 2 SGB III mit der Kündigung, die der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorausgegangen ist, bei Fehlen einer solchen mit dem Tag der Vereinbarung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses beginnt, ist eingehalten, da der Aufhebungsvertrag am 12. Juni 2006 abgeschlossen worden ist. Eine zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führende ordentliche Kündigung des Klägers aus betriebsbedingten Rationalisierungsgründen war, worauf der Kläger zutreffend hinwies, aufgrund § 3 Ziffer 1 des Tarifvertrages zur nachhaltigen Zukunftsergänzungs- und Beschäftigungsentwicklung (Zukunftstarifvertrag) vom 3. November 2007 bis zum 31. Dezember 2011 ausgeschlossen. Zwar ist der Kläger, wie sich aus der Auskunft vom 29. April 2009 ergab, zum Zeitpunkt des Ausscheidens nicht Mitglied der IG Metall gewesen, gleichwohl findet der Zukunftstarifvertrag auf ihn Anwendung, da die Firma C. AG diesen insgesamt auch auf Nichtgewerkschaftsmitglieder anwandte, wie sich aus der Auskunft vom 16. Februar 2010 ergab.

Somit findet auf das Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs des Klägers § 143 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 erste Alternative SGB III Anwendung. Hiernach gilt, sofern die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber ausgeschlossen ist, bei zeitlich begrenztem Ausschluss die Kündigungsfrist, die ohne den Ausschluss der ordentlichen Kündigung maßgebend gewesen wäre, hier also die Kündigung zum Monatsende aufgrund Kündigung bis zum 15. des Monats.

Zu Unrecht leitet die Beklagte aus § 143 Abs. 1 Satz 4 SGB III eine (Kündigungs-) Frist von 1 Jahr ab. Hierbei wird übersehen, dass für die Kündigungsfrist von 1 Jahr nach dieser Vorschrift nicht genügt, dass das Arbeitsverhältnis nur bei Zahlung einer Abfindung beendet werden kann, sondern erforderlich ist, dass dem Arbeitnehmer nur bei Zahlung einer Abfindung, Entschädigung o. ä. Leistung gekündigt werden kann (vgl. BSG vom 15.12.1999, B 11 AL 29/99 R). Letzteres war nicht der Fall: Auch bei Zahlung einer Abfindung wäre eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung nicht zulässig gewesen. Die C. AG bedurfte deshalb des Einverständnisses des Arbeitnehmers, um ihn gegen Zahlung einer Abfindung freisetzen zu können.

Mit dem BSG ist für die erkennende Kammer auch kein Grund ersichtlich, die Jahresfrist ungeachtet des Wortlauts anzuwenden, wenn das Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber zwar nicht gekündigt werden kann, jede Beendigung des Arbeitsverhältnisses aber, damit insbesondere die durch Aufhebungsvertrag, eine Abfindung zur Folge hat. Eine entsprechende Anwendung des § 143 Abs. 1 Satz 4 SGB III wäre nur zulässig, wenn insoweit eine Gesetzeslücke bestünde, die ergänzungsbedürftig wäre. Eine derartige Lücke ist nicht bereits dann gegeben, wenn eine gesetzliche Regelung aus sozial-, links- oder rechtspolitischen Erwägungen als unbefriedigend empfunden wird. Diese liegt nur vor, wenn nach dem Plan des Gesetzgebers das Gesetz ungewollt unvollständig ist, die Unvollständigkeit also planwidrig ist. Davon kann keine Rede sein. § 143 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 1. Alternative SGB III regelt ausdrücklich, dass bei zeitlich begrenztem Ausschluss der ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber die Kündigungsfrist gilt, die ohne den Ausschluss der ordentlichen Kündigung maßgebend gewesen wäre. Weshalb diese Frist dem Plan des Gesetzes widersprechen soll, wenn es während des zeitlich begrenzten Ausschlusses der ordentlichen Kündigung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Abfindung kommt, ist – und auch insoweit ist dem BSG zuzustimmen – nicht ersichtlich; denn gerade für solche Fälle bestimmt das Gesetz, dass die Kündigungsfrist anzuwenden ist, die ohne den Ausschluss der ordentlichen Kündigung maßgebend gewesen wäre (vgl. BSG a. a. O.).

Der Klage war mithin insoweit stattzugeben, als die Beklagte ein Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs über den 19. Juli 2006 hinaus feststellte und es abgelehnt hat, dem Kläger ab 23. September 2006 - also nach Auslaufen des Ruhens wegen Sperrzeit – Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Zulässigkeit der Berufung folgt aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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