L 7 BL 1/17

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 14 BL 4/15
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 BL 1/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 9. November 2017 wird aufgehoben, und der Bescheid des Beklagten vom 16. April 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juli 2015 wird aufgehoben, soweit die Bewilligung von Blindengeld für die Zeit vom 1. Januar bis zum 30. April 2015 aufgehoben und eine Erstattungsforderung geltend gemacht wird.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens und hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten des ersten Rechtszugs zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die teilweise Aufhebung einer Bewilligung von Blindengeld und eine darauf beruhende Erstattungsforderung.

Der Kläger ist der Alleinerbe der am ... 1926 geborenen und am ... 2016 während des erstinstanzlichen Verfahrens verstorbenen ursprünglichen Klägerin, Frau S.

Frau S. lebte zunächst alleine in einer Wohnung in W ... Sie war 1994 erblindet und bezog Blindengeld vom Beklagten. Dieser hatte ihr zuletzt mit Bescheid vom 15. Januar 2014 Leistungen in Höhe von 320 EUR pro Monat gewährt. Dem Bescheid waren als Anlage "Hinweise zur Anzeigeverpflichtung" beigefügt. Dort wurde u.a. ausgeführt, dass eine Aufnahme in ein Heim oder eine gleichartige Einrichtung unverzüglich beim Landesverwaltungsamt anzuzeigen sei. Gemäß § 3 des Gesetzes über das Blinden- und Gehörlosengeld im Land Sachsen-Anhalt (LBliGG LSA) werde das Blindengeld nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 und 2 LBliGG LSA nicht gezahlt, solange sich blinde Personen in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen aufhielten, es sei denn, dass die Kosten dieses Aufenthalts überwiegend vom Blinden oder einem nach bürgerlichem Recht unterhaltspflichtigen Dritten getragen würden. Ein Aufenthalt im Sinne von § 3 LBliGG sei auch dann gegeben, wenn der Betreffende die erforderliche Pflege infolge Krankheit über einen längeren Zeitraum in einem Krankenhaus erhalte oder eine stationäre Kurzzeitpflege/Verhinderungspflege in Anspruch nehme, die über einen Zeitraum von einem Monat andauert.

Während des Leistungsbezugs erfragte der Beklagte regelmäßig bei Frau S., ob sie Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehe oder beantragt habe, weil Leistungen für häusliche Pflege auf das Blindengeld anzurechnen seien. Frau S. verneinte dies zuletzt im Juni 2014.

Am 11. September 2014 erteilte Frau S. ihrem Neffen, dem 1960 geborenen, in B. lebenden jetzigen Kläger, eine notarielle General- und Vorsorgevollmacht.

Am 29. September 2014 wurde Frau S. hilflos und verwirrt in ihrer Wohnung vorgefunden und aufgrund einer vorläufigen Einweisung nach § 15 des Gesetzes über Hilfen für psychisch Kranke und Schutzmaßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt (PsychKG LSA) in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Am selben Tag bestellte das Amtsgericht (AG) Q. für den Aufgabenkreis Gesundheitssorge eine vorläufige Betreuerin (Az.: BER 41/14). Diese wurde allerdings sogleich wieder entlassen, nachdem das AG Kenntnis von der Vorsorgevollmacht erhalten und der Kläger sich bereit erklärt hatte, die Vertretung der Frau S. im Rahmen der Gesundheitssorge zu übernehmen. Eine vom Landkreis Harz beim AG W. vorsorglich beantragte Unterbringung wurde wegen einer Besserung ihres Zustandes nicht angeordnet (Az.: 4 XIV 91/14 L).

Am 22. Dezember 2014 wurde Frau S. zur Kurzzeitpflege in das Seniorenzentraum "S." aufgenommen. Bei der Pflegekasse wurde die Kurzzeitpflege zunächst bis zum 18. Januar 2015 beantragt, später auch für die Zeit vom 19. bis 28. Januar 2015. Am 29. Januar 2015 erfolgte die dauerhafte Aufnahme in das Heim. Dessen monatliche Kosten beliefen sich auf 2.382,19 EUR. Davon trug Frau S. 1.052,19 EUR, die Pflegekasse 1.330 EUR. Zum 7. März 2015 zog Frau S. vom Seniorenzentrum "S." in das Pflegeheim "S.-H.". Die dortigen Heimkosten beliefen sich auf 2.609,43 EUR pro Monat. Davon trug Frau S. 1.279,43 EUR, die Pflegekasse 1.330 EUR. Mit Schreiben vom 9. März 2015 teilte der Kläger dem Beklagten die neue Anschrift seiner Tante mit.

Nachdem der Beklagte Ermittlungen zur Höhe der Heimkosten und deren Tragung angestellt hatte, erließ er unter dem 16. April 2015 ohne vorherige Anhörung der Frau S. einen an diese adressierten Aufhebungsbescheid. Unter Verweis auf § 3 LBliGG LSA hob er den Bescheid vom 15. Januar 2014 für die Zeit ab 1. Januar 2015 auf. Ab diesem Tag werde Blindengeld nur noch in Höhe von 41 EUR pro Monat bewilligt. Zu Unrecht gezahltes Blindengeld in Höhe von 1.116 EUR werde zurückgefordert. Die Heimkostenprüfung habe ergeben, dass die überwiegenden Heimkosten von der Pflegekasse getragen würden. Da die Änderung von Blindengeld frühestens am ersten Tag des Monats erfolge, der auf die Aufnahme in eine Einrichtung folge, lägen die Voraussetzungen für Blindengeld für Blindheit seit 1. Januar 2015 nicht mehr vor. Gewährt werden könne nur noch ein Blindengeld nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 LBliGG LSA in Höhe von 41 EUR pro Monat. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X) lägen vor, weil Frau S. gewusst habe, dass sich bei der Aufnahme in ein Heim eine Änderung ergeben könne. Insoweit verwies der Beklagte auf die Hinweise, die Bestandteil des Bewilligungsbescheids gewesen seien. Der Erstattungsanspruch ergebe sich aus § 50 SGB X. Auf eine Anhörung gemäß § 24 SGB X sei zunächst verzichtet worden, um eine weitere Überzahlung zu vermeiden. Sie könne ggf. nach § 41 SGB X im weiteren Verfahren nachgeholt werden.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger für Frau S. Widerspruch ein und rügte u.a., dass der Bescheid fälschlich nicht an ihn, sondern an Frau S. selbst gesandt worden sei. Daraufhin holte der Beklagte die zunächst unterbliebene Anhörung nach. Das Anhörungsschreiben richtete er – wegen der zwischenzeitlichen Vorlage der Vorsorgevollmacht – an den Kläger. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2015 wies er den Widerspruch zurück.

Nachdem sich die Heimkosten der Frau S. und ihr Eigenanteil zum 1. September 2015 erhöht hatten, bewilligte der Beklagte ihr mit Bescheid vom 10. November 2015 für die Zeit ab 1. September 2015 wieder Blindengeld in Höhe von 320 EUR pro Monat.

Bereits am 30. Juli 2015 hat Frau S., vertreten durch den jetzigen Kläger, Klage zum Sozialgericht (SG) M. erhoben.

Am 22. Juni 2016 ist Frau S. verstorben. Der jetzige Kläger hat sich durch Vorlage einer Testamentskopie als Alleinerbe legitimiert und das Verfahren fortgeführt.

Mit Urteil vom 9. November 2017 hat das SG die Klage abgewiesen. Der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig. Das Fehlen einer vorherigen Anhörung sei, obwohl der Beklagte vorsätzlich gehandelt habe, geheilt worden. Auch materiell sei der Bescheid nicht zu beanstanden. Durch die Aufnahme in ein Pflegeheim habe sich im Hinblick auf § 3 LBliGG LSA eine wesentliche Änderung in den Lebensverhältnissen der Frau S. ergeben. Vertrauensschutzgesichtspunkte stünden der Aufhebung nicht entgegen, da Frau S. ihrer Mitteilungspflicht aus § 5 LBliGG LSA nicht rechtzeitig nachgekommen sei. Der Heimaufenthalt sei erst im März 2015 mitgeteilt worden. Auf ihre Blindheit habe Frau S. sich insoweit nicht berufen können. Sie hätte vielmehr geeignete Maßnahmen treffen müssen, um der Mitteilungspflicht gerecht zu werden, wie sie es auch in der Vergangenheit umgesetzt habe. Das Urteil ist dem Kläger am 16. November 2017 zugestellt worden.

Mit seiner am 12. Dezember 2017 eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung macht er insbesondere geltend: Frau S. habe keine Hinweise zur Anzeigepflicht erhalten. Falls doch, hätte sie diese wegen ihrer Blindheit nicht lesen können. Es sei auch keine Zusendung der gesetzlichen Grundlagen erfolgt. Das mit dem Bescheid vom 15. Januar 2014 gewährte Blindengeld habe Frau S. in voller Höhe zweckgebunden für hauswirtschaftliche Dienste und Betreuungsleistungen sowie den Eigenanteil an den Heimkosten verwendet. Außerdem habe die Höhe der Leistungen der Pflegekasse nichts mit der Blindheit zu tun. Er selbst habe nicht gewusst, dass eine Verpflichtung bestanden habe, einen Umzug ins Pflegeheim unverzüglich der Blindengeldstelle mitzuteilen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG M. vom 9. November 2017 und den Bescheid des Beklagten vom 16. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juli 2015 aufzuheben, soweit die Bewilligung von Blindengeld für die Zeit von Januar bis April 2015 teilweise aufgehoben und eine Erstattungsforderung geltend gemacht wird.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X verweist er auf das Merkblatt "Hinweise zur Anzeigeverpflichtung", das dem Bescheid vom 15. Januar 2014 beigelegen habe. Frau S. habe sich nicht auf ihre Blindheit berufen können, da die Gewährung des Blindengeldes gerade darauf abziele, geeignete Maßnahmen zu treffen. Zudem seien die Mitwirkungspflichten nach § 60 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (Allgemeiner Teil – SGB I) zu beachten.

Der Senat hat einen Befundbericht des Hausarztes der Frau S., Dr. H. K., eingeholt. Dieser hat unter dem 28. Dezember 2018 mitgeteilt, er habe Frau S. von 2006 bis zum 13. Juni 2016 behandelt. Sie habe über allgemeine Leistungs- und Kräfteminderung, Schwindel, Gelenkbeschwerden, erhebliche Sehstörungen und Bauchbeschwerden geklagt. In den Jahren 2014 und 2015 sei es zu einer kontinuierlichen Verschlechterung des Allgemeinzustands und der Beschwerden gekommen einschließlich Verwirrtheits-, Unruhe- und Desorientierungszuständen bei nachlassender Hirnleistung. Die eigenständige Wahrnehmung von Behördenangelegenheiten sei Frau S. praktisch nicht möglich gewesen.

Der Senat hat die Verfahrensakte 4 XIV 91/14 L des AG W. sowie die Frau S. betreffende Verwaltungsakte der Pflegekasse bei der AOK Sachsen-Anhalt beigezogen.

In der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2019 ist der Kläger persönlich angehört worden. Wegen der Einzelheiten seines Vorbringens wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Die Prozessakte des SG und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen. Die beigezogenen Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft (§ 143, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)), und sie ist auch form- und fristgerecht erhoben worden (§ 151 SGG).

2. Die Berufung ist auch begründet.

a) Die Klage ist als isolierte Anfechtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Kläger als Alleinerbe der Frau S. schon wegen der sich aus § 1967 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ergebenden Erbenhaftung klagebefugt.

b) Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 16. April 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juli 2015 ist, soweit er Leistungen für die Monate Januar bis April 2015 betrifft, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

aa) Der Bescheid ist Frau S. allerdings wirksam bekannt gegeben worden. Dem steht nicht entgegen, dass er ihr selbst und nicht dem Kläger übersandt worden ist. Gemäß § 6 Abs. 2 LBliGG LSA finden auf das Verwaltungsfahren u.a. die Vorschriften des SGB I und des SGB X Anwendung. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden (Satz 2). Insoweit steht der Behörde Ermessen zu (vgl. Pattar, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017, § 37 Rn. 88). Da der Kläger zu dem Zeitpunkt des Bescheids seine Bevollmächtigung noch nicht nachgewiesen hatte, ist die Bekanntgabe an Frau S. selbst nicht zu beanstanden. Dies entspricht auch der gesetzlichen Wertung des § 1 Abs. 1 Verwaltungszustellungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (VwZG LSA) i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG), wonach Zustellungen an den Bevollmächtigten zu richten sind, wenn er eine schriftliche Vollmacht vorgelegt hat.

Der Wirksamkeit der Bekanntgabe steht auch nicht entgegen, dass Frau S. blind war und den Bescheid nicht selbst lesen konnte (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 28. Dezember 1988 – 5 B 49/88 –, juris).

bb) Der Bescheid ist trotz der zunächst unterbliebenen Anhörung der Frau S. formell rechtmäßig. Auch wenn man davon ausgeht, dass eine vorherige Anhörung nach § 6 Abs. 2 LBliGG LSA i.V.m. § 24 Abs. 1 SGB X notwendig war, ist ihr Fehlen durch die Nachholung im Widerspruchsverfahren geheilt worden (§ 6 Abs. 2 LBliGG LSA i.V.m. § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X). Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte die Anhörung bewusst unterlassen hatte. Der gesetzlichen Regelung ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass eine Heilung ausgeschlossen sein soll, wenn die Behörde den Verfahrensfehler vorsätzlich, rechtsmissbräuchlich oder durch Organisationsverschulden begangen hat (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 6/07 R –, juris Rn. 14 ff.; Schneider-Danwitz, in: Schlegel/Voelzke, a.a.O., § 41 Rn. 36; Steinwedel, in: Kasseler Kommentar, § 41 SGB X Rn. 8 (Stand: September 2018); anders noch BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002 – B 4 RA 15/01 R –, juris Rn. 48). Die Gesetzesmaterialien zu § 41 SGB X heben zudem deutlich hervor, dass die Vorschrift der Verfahrensbeschleunigung dienen soll (vgl. BT-Drs. 14/4375, S. 58, 63). Diese würde mit der genannten Einschränkung gerade nicht erreicht.

cc) Die vom Kläger angegriffene Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Monate Januar bis April 2015 und die darauf beruhende Erstattungsforderung sind jedoch materiell rechtswidrig.

(1) Die rückwirkende Aufhebung lässt sich nicht auf § 6 Abs. 2 LBliGG LSA i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X stützen. Danach soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Mit der Aufnahme der Frau S. in das Seniorenzentrum "S." am 22. Dezember 2014 ist zwar eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten, weil ihr deshalb gemäß § 3 Abs. 1 LBliGG LSA in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung nur noch das sog. Kleine Blindengeld in Höhe von 41 EUR pro Monat zustand. Die Änderung wurde gemäß § 4 LBliGG LSA zum 1. des Folgemonats wirksam. Frau S. hat auch ihre in § 5 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 LBliGG LSA normierte Pflicht verletzt, ihre Aufnahme in ein Heim oder eine gleichartige Einrichtung unverzüglich anzuzeigen.

Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass Frau S. diese Pflichtverletzung vorsätzlich oder grob fahrlässig begangen hätte. Grobe Fahrlässigkeit ist nur dann anzunehmen, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt im besonders schweren Maße verletzt hat. Hierfür genügt es nicht, dass er mit der Rechtswidrigkeit rechnen musste. Verlangt wird vielmehr eine Sorgfaltspflichtverletzung in einem besonders hohen Ausmaße, die dann zu bejahen ist, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste. Dabei ist jedoch nicht ein objektiver Maßstab anzulegen, sondern auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 88/99 R –, juris Rn. 24; Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, § 48 Rn. 38 (Stand: November 2018)).

Es kommt nicht darauf an, ob Frau S. im Januar 2014 Hinweise auf die Anzeigepflicht erhalten hat und ob sie diese trotz ihrer Blindheit auch zur Kenntnis genommen hat oder zumindest hätte nehmen müssen (siehe dazu Verwaltungsgericht (VG) F./Oder, Urteil vom 4. Juli 2007 – 6 K 471/03 –, juris Rn. 27; VG Münster, Urteil vom 17. April 2012 – 6 K 2129/10 –, juris Rn. 23; Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25. Juni 2012 – 7 A 10286/12 –, juris Rn. 35 f.; Landessozialgericht (LSG) B.-B., Urteil vom 23. November 2016 – L 13

BL 1/16 –, juris Rn. 17; Sächsisches LSG, Urteil vom 28. März 2017 – L 9 BL 6/16 –,

juris Rn. 31). Entscheidend ist, dass sich aufgrund ihres Gesundheitszustands Ende Dezember 2014 nicht die Feststellung treffen lässt, dass ihr zu diesem Zeitpunkt die Anzeigepflicht und das Vorliegen von deren Voraussetzungen bewusst war oder hätte sein müssen.

Die Mitteilung an den Beklagten hätte unverzüglich nach der Aufnahme ins Heim erfolgen müssen. Deshalb ist auf die Situation Ende Dezember 2014 abzustellen. Zu dieser Zeit war Frau S. aber nicht nur in ihrer körperlichen, sondern auch in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Bereits Ende September 2014 war sie verwirrt und desorientiert in eine Klinik eingewiesen worden. Dies ist in der Verfahrensakte des AG W. u.a. durch ein ärztliches Zeugnis der Notärztin K. S. vom 29. September 2014 und ein Kurzgutachten von Dr. S. P., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums B., vom 30. September 2014 dokumentiert. Dr. P. berichtet über eine "desorientierte und verwirrte Patientin [ ] mit passageren expressiven Sprachstörungen und offenbar auch Fallneigung nach links"; Frau S. sei unkooperativ gewesen und habe den Gesamtzusammenhang nicht verstanden. Aus der Verwaltungsakte der Pflegekasse ergibt sich zudem, dass bei einem späteren Krankenhausaufenthalt im Oktober 2014 ein beginnendes dementielles Syndrom diagnostiziert wurde. Dieses wird auch im letzten Pflegegutachten, das unmittelbar nach dem Tod von Frau S. erstellt worden ist, noch als Diagnose genannt. Zudem lässt sich der Pflegeakte entnehmen, dass Frau S. und der Kläger bereits im Dezember 2014 angegeben hatten, dass sich der Gesundheitszustand von Frau S. in kurzer Zeit stark verschlechtert habe. Auch ihr Hausarzt, Dr. K., hat in seinem Befundbericht ausgeführt, der Allgemeinzustand von Frau S. habe sich 2014/2015 kontinuierlich verschlechtert, und auf Verwirrtheits-, Unruhe- und Desorientierungszustände bei nachlassender Hirnleistung verwiesen.

Es liegt auch keine vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung von Mitteilungspflichten durch den Kläger vor, die Frau S. zuzurechnen wäre. Wissen und Verschulden eines Dritten können zwar im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X in entsprechender Anwendung der §§ 166, 278 BGB zugerechnet werden (vgl. Merten, a.a.O., § 48 Rn. 65 ff.; allgemein BSG, Urteil vom 18. August 2005 – B 7a AL 4/05 R –, juris Rn. 19). Mit der Erteilung der notariellen General- und Vorsorgevollmacht vom 11. September 2014 und der tatsächlichen Übernahme der daraus resultierenden Verantwortung durch den Kläger lagen auch die Voraussetzungen einer solchen Zurechnung vor. Dem Kläger ist jedoch weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft erklärt, dass er die Anzeigepflicht nicht gekannt habe. Gegen eine bewusste Verletzung der Mitteilungspflicht spricht auch, dass er unmittelbar, nachdem seine Tante in das Pflegeheim "S.-H." umgezogen war, in dem sie dauerhaft bleiben sollte, den Beklagten informiert hat.

Hinsichtlich der Unkenntnis der Mitteilungspflicht ist ihm auch keine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass er die Hinweise des Beklagten, die dem Bescheid vom 15. Januar 2014 beigefügt waren, kannte oder hätte kennen müssen. Nach seiner glaubhaften Schilderung in der mündlichen Verhandlung hatte seine Tante sich im Alltag, z.B. bei der Erledigung von Behördenpost zunächst nicht von dem in B. lebenden Kläger, sondern von einem Bekannten und von Nachbarn helfen lassen. Erst nach dem Tod des Bekannten habe sie sich im Juli und August 2014 angesichts ihres Gesundheitszustands Gedanken gemacht, wie alles weiter geregelt werden könne, und ihm deshalb im September 2014 die Vorsorgevollmacht erteilt. Es war auch nicht grob fahrlässig, dass der Kläger nicht sogleich die das Blindengeld betreffenden Unterlagen seiner Tante durchgearbeitet hat (vgl. auch VG C., Urteil vom 9. Mai 2014 – 3 K 267/12 –, juris Rn. 28). Insoweit kann dahinstehen, ob sich der Bescheid vom 15. Januar 2014 und die beigefügten Hinweise zur Anzeigepflicht dort überhaupt gefunden hätten. Der Kläger, der nicht vor Ort wohnte und sich wegen seiner Berufstätigkeit nur an den Wochenenden um die Angelegenheiten seiner Tante kümmern konnte, hat plausibel dargelegt, weshalb nach seiner Einschätzung zunächst andere Unterlagen Priorität hatten, zumal bereits sehr bald der Umzug ins Pflegeheim und die Auflösung des Haushalts anstanden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht als grob fahrlässig anzusehen, dass er, obwohl er vom Blindengeldbezug seiner Tante wusste, insoweit zunächst keinen dringenden Handlungsbedarf sah.

(2) Die rückwirkende Leistungsaufhebung lässt sich auch nicht auf § 6 Abs. 2 LBliGG LSA i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X stützen. Danach soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Auch insoweit gilt ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab.

Von einem Wissen oder einem grob fahrlässigen Nichtwissen der Frau S. selbst hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung ist schon wegen ihres Gesundheitszustands in der maßgeblichen Zeit (Januar bis April 2015) nicht auszugehen.

Auch ein Wissen oder grob fahrlässiges Nichtwissen des Klägers, das ihr in entsprechender Anwendung von § 166 Abs. 1 BGB zuzurechnen wäre, lässt sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht feststellen. Das Vorbringen des Klägers im Widerspruchs- und Klageverfahren lässt erkennen, dass ihm die Bedeutung des Heimaufenthalts für den Anspruch auf Blindengeld nicht nur unbekannt war, sondern auch nach wie vor nicht einleuchtet. Sie musste sich ihm auch nicht aufdrängen. Anders als z.B. der Zusammenhang zwischen der Erzielung von Einkommen und dem Bezug von bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen liegt der landesgesetzlich normierte Zusammenhang zwischen einem Heimaufenthalt und dem Bezug von Blindengeld nicht für jeden Laien klar auf der Hand. Dies gilt umso mehr, als § 3 Abs. 1 LBliGG LSA erst zum 1. Januar 2014 wesentlich geändert worden war und außerdem als weitere Bedingung hinzutreten muss, dass die Kosten des Heimaufenthalts nicht überwiegend vom Blinden selbst oder einem Unterhaltsverpflichteten getragen werden.

(3) Mit der Aufhebung der rückwirkenden Leistungsaufhebung entfällt auch die Grundlage der auf § 6 Abs. 2 LBliGG LSA i.V.m. § 50 SGB X gestützten Erstattungsforderung.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), weil weder der Kläger noch der Beklagte zu den nach § 183 Satz 1 SGG Kostenprivilegierten gehört. Da der Kläger den Rechtsstreit nach dem Tod der Frau S. bereits in der ersten Instanz aufgenommen hat, ist das Berufungsverfahren im Gegensatz zum erstinstanzlichen Verfahren auch nicht nach § 183 Satz 2 SGG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die Kosten des ersten Rechtszugs beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

4. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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