S 4 R 955/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 955/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 177/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 RE 21/16 B
Datum
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 15.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.2011 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für ihre Tätigkeit bei der C. Versicherungs AG ab 01.04.2011 zu befreien.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten im notwendigen Umfange zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die 1960 geborene Klägerin ist Rechtsanwältin und Mitglied der Rechtsanwaltskammer D-Stadt und seit dem 01.07.2000 auch Mitglied im Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Hessen. Sie zahlt dort einkommensbezogene Beiträge. Das Versorgungswerk gewährt seinen Mitgliedern und deren Hinterbliebenen folgende Leistungen: Altersrente, Berufsunfähigkeitsrente, Hinterbliebenenrente, Erstattung und Übertragung von Beiträgen von Beteiligten, Kapitalabfindung. Auf diese Leistungen besteht ein Rechtsanspruch (§ 13 Abs. 1 der Satzung). Die Klägerin ist zudem wieder seit dem 01.04.2011 bei der C. Versicherungs AG (Arbeitgeberin) als Volljuristin beschäftigt. Dort war sie bereits zuvor vom 01.10.1990 bis zum 01.10.2000 im Bereich Haftpflicht-Unfall-Kraftfahrt-Großschaden tätig und durch die Rechtsvorgängerin der Beklagten von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung rückwirkend zum 01.07.2000 befreit worden. Danach war die Klägerin wegen Kindererziehung vorübergehend in Teilzeit als Rechtsanwältin tätig. Zum 01.04.2011 kehrte sie zur C. Versicherungs AG in die Abteilung Groß- und Spezialschäden zurück. Ausweislich eines Schreibens der Arbeitgeberin vom 13.04.2011 an die Deutsche Rentenversicherung Hessen umfasst der Wirkungs- und Verantwortungsbereich der Klägerin dort die nachfolgenden Tätigkeiten:
- selbständiges Erarbeiten aller in einem Schadensfall relevanten rechtlichen und tatsächlichen Fragestellungen, sowohl auf materiell-rechtlicher als auch prozessualer Grundlage
- Festlegung der Regulierungsposition und selbständiges Anpassen derselben je nach Ablauf der aktiv zu steuernden Schadensbearbeitung. Eigenständige Vertretung dieser Position bei innerbetrieblichen Abstimm- und Entscheidungsprozessen
- Eigenständiges Führen der erforderlichen Kommunikation mit eigener Entscheidungskompetenz im Rahmen vorgegebener Vollmachten mit sämtlichen internen und externen Beteiligten, einschließlich etwaiger persönlicher Verhandlungen mit Geschädigten, Rechtsanwälten, Behörden, Sozialleistungsträgern und anderen Versicherten, auch vor Ort
- Erkennen und Verfolgen von Regressmöglichkeiten
- Betreiben von Prozessen und Entscheidung über Rechtsmittel
- Beobachtung der Gesetzgebung und einschlägiger Literatur aus dem Fachgebiet und angrenzender Bereiche
- mündliche und schriftliche Darstellung abstrakter rechtlich relevanter Fragestellungen aus dem Fachgebiet sowie Erläuterungen von Entscheidungen im Einzelfall an Kollegen im Rahmen von Schulungen, Mitwirkung bei der Einarbeitung von Kollegen und Auszubildenden.

In einem weiteren Schreiben an die Beklagte vom 07.06.2011 erläuterte die Arbeitgeberin das Tätigkeitsfeld der Klägerin dahingehend, der Aufgabenbereich umfasse die selbständige Bearbeitung von Haftpflicht-Großschäden und Spezialschäden aus dem industriellen, gewerblichen und privaten Bereich. Dies seien z. B. Arzthaftungsschäden, Architektenschäden, Produkthaftungsschäden, Vermögensschäden, Arzneimittelschäden und Probandenschäden, die regelmäßig hochkomplexe tatsächliche und juristische Problemstellungen aufwiesen und bis in den - auch mehrere - Millionenbereich gehen könnten. Nach ihren Anforderungen könne für diese Funktion ausschließlich ein/e Volljurist/in zum Einsatz kommen, der/die idealerweise auch als Rechtsanwalt zugelassen sei. Die Klägerin handele bei der Erfüllung ihrer Aufgaben wie eine freie Rechtsanwältin rechtsberatend, rechtsentscheidend, rechtsgestaltend und rechtsvermittelnd und sei dabei insbesondere auch in der Vertretung ihres Rechtsstandpunktes unabhängig. Die Tätigkeit entspreche insoweit vollumfänglich der Tätigkeit eines in diesem Zuständigkeitsbereich agierenden freien Rechtsanwaltes. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das genannte Schreiben verwiesen. Ihm war ein Schreiben an die Rechtsanwaltskammer D-Stadt beigefügt, in dem sich die Arbeitgeberin damit einverstanden erklärte, dass die Klägerin durch ihre Tätigkeit nicht gehindert sein werde, ihren Pflichten als Rechtsanwältin nachzukommen. Insbesondere sei sie berechtigt, jederzeit ihre Arbeitsstelle zu verlassen, wenn dies die anwaltliche Tätigkeit erfordere. Die Arbeitgeberin erklärte unwiderruflich, dass der Klägerin die Ausübung des Anwaltsberufes gestattet werde und sie bei der Ausübung des Berufs als Rechtsanwältin keinerlei Weisungen unterliege und durch ihre Tätigkeit nicht gehindert werde, ihren Verpflichtungen als freie Rechtsanwältin nachzukommen. Diese Erklärung wurde zum Bestandteil des Dienstvertrages mit der Klägerin vom 03.02.2011 erklärt.

Am 06.04.2011 beantragte die Klägerin über das Versorgungswerk der Rechtsanwälte bei der Beklagten die Weitergeltung der Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung.

Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15.08.2011 ab.

Sie begründete dies damit, aus dem Gesamtbild der Tätigkeit der Klägerin ergebe sich, dass diese keine anwaltliche Tätigkeit bei dem Arbeitgeber ausübe. Diese Tätigkeit setze nicht objektiv zwingend eine Qualifikation als Volljurist voraus. Die Klägerin erfülle nicht kumulativ die vier Kriterien einer anwaltlichen Tätigkeit. Hinsichtlich des Tätigkeitsfelds der Rechtsgestaltung sei nicht nachvollziehbar dargelegt worden, wieweit die Klägerin befugt sei, Vertrags- und Einigungsverhandlungen mit den verschiedensten Partnern der C. Versicherungs AG selbständig zu führen. Es sei auch nicht nachvollziehbar belegt worden, wieweit die Klägerin im Rahmen der Verhandlungen zum Abschluss von Versicherungsverträgen tatsächlich zur Schaffung neuer oder zur Veränderung bestehender Versicherungsbedingungen befugt sei. Das Aufgabenspektrum umfasse Tätigkeiten, die einer qualifizierten Sachbearbeitung entsprächen (Prüfung der Vertragsdeckung im Schadensfall, Ermittlung der Schadenshöhe, Schadensregulierung). Für die von der Klägerin zu erfüllenden Aufgaben sei die juristische Ausbildung zwar vielfach nützlich. Dies mache die Beschäftigung selbst aber nicht zu einer anwaltlichen.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie u. a. geltend machte, das Merkmal der Rechtsgestaltung sei gemäß der Stellen- und Funktionsbeschreibung im Rahmen der abschließenden Bearbeitung von Groß- und Spezialschäden aus dem industriellen, gewerblichen und privaten Bereich, hier insbesondere von Schäden auf Grundlage der Arzt-, Architekten- und Produkthaftung, von Arzneimittel- und Probanden- sowie Vermögensschäden in vollem Umfang erfüllt. Die C. Versicherungs AG habe sehr viele Ärzte versichert. Der Bereich der Arzthaftpflicht stelle daher einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit dar. Bei solchen Schäden könne es um Forderungen im Bereich von mehreren Millionen gehen. Eine standardisierte oder schematische Bearbeitung verbiete sich aufgrund der komplexen Fragestellung und der oftmals existenziellen Interessen der Beteiligten. Sie müsse alle Forderungen auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen, das Prozessrisiko abwägen, ggf. ein Schlichtungsverfahren anregen, ein Gutachten in Auftrag geben und - sehr häufig - in einem gemeinsamen Gespräch mit allen Beteiligten eine Einigung zwischen den widerstreitenden Interessen herstellen. Ihre Tätigkeit erstrecke sich u. a. auf das selbständige Entwerfen, Formulieren, Erwägen verschiedener Regelungsmöglichkeiten, Verhandeln, das Fixieren von Vergleichsverträgen und - im Rahmen der Vollmacht - das Schließen von Vereinbarungen. Vergleiche mit verschiedenen Beteiligten würden vor Gericht oder außerprozessual ausgehandelt und nach Prüfung abgeschlossen. Sie erfülle die vier Merkmale einer anwaltlichen Tätigkeit. Es könne entgegen der Auffassung der Beklagten nicht darauf ankommen, ob diese Tätigkeiten nur von einem Juristen mit der Befähigung zum Richteramt ausgeführt werden. Die Beklagte führe hier unzulässigerweise ein fünftes Kriterium ein. In der Groß- und Spezialschadengruppe, in der sie arbeite, seien ausschließlich Juristen mit zweitem Staatsexamen tätig. Es sei daher davon auszugehen, dass für die Bearbeitung der Schadensfälle sehr wohl ein Jurist mit der Befähigung zum Richteramt gefordert werde. Ihre jetzige Tätigkeit sei im Übrigen dieselbe, die sie zuvor bei der C. Versicherungs AG ausgeführt habe und wegen der sie von der Versicherungspflicht von der Beklagten befreit worden sei. Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Klägerin wird auf ihr Widerspruchsschreiben vom 09.09.2011 Bezug genommen.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.12.2011 zurück. In dem Widerspruchsbescheid wird u. a. ausgeführt, aus den vorgelegten Unterlagen sei nicht erkennbar, ob und wie die Klägerin ihren Arbeitgeber nach außen wirksam vertrete, welche Entscheidungskompetenzen sie in ihrem Tätigkeitsbereich habe und über welche Entscheidungsbefugnisse sie bei Vertragsverhandlungen verfüge. Nach Würdigung der Gesamtumstände handele es sich nicht um eine anwaltliche Beschäftigung. Die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) sei nicht personen- sondern tätigkeitsbezogen zu beurteilen. Sie gelte nur für diejenige Tätigkeit, für die sie erteilt sei, so dass aus einer vorausgehenden Befreiung für eine andere Tätigkeit nicht abgestellt werden könne.

Die Klägerin hat am 20.12.2011 Klage erhoben.

Ergänzend zu ihrer Begründung im Widerspruchsverfahren trägt sie vor, ein Rechtsanwalt/eine Rechtsanwältin könne grundsätzlich bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber eine anwaltliche Tätigkeit ausüben, die die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI erfülle. So formuliere es ausdrücklich auch das Merkblatt der Deutschen Rentenversicherung vom Juni 2005 in der Fassung vom Mai 2011. Diese Tatsache habe die Deutsche Rentenversicherung in Gesprächen mit der Arbeitsgemeinschaft berufsständischer Versorgungseinrichtungen und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände Ende 2010 und Mitte 2011 noch einmal bestätigt und durch die neue Fassung des Merkblatts noch einmal festgehalten. In der neuen Fassung sei nur das Merkmal der Rechtsentscheidung abgeschwächt worden. Auch § 46 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) sehe ausdrücklich vor, dass ein Rechtsanwalt in einem ständigen Dienstverhältnis stehen und nicht nur als freier Rechtsanwalt tätig sein könne. Unter einer "anwaltlichen Tätigkeit" bei einem "nichtanwaltlichen Arbeitgeber" in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI sei dabei eine berufstypische Tätigkeit als Rechtsanwalt zu verstehen. Das Spektrum anwaltlicher Tätigkeiten reiche heute von der rein beratenden Tätigkeit in bestimmten Rechtsgebieten ohne gerichtliches Auftreten bis hin zu Anwälten, die reine Prozesstätigkeiten ausübten und kaum rechtsgestaltende Arbeiten vornähmen. Aber auch Beratung und Rechtsgestaltung in Bezug auf die Kombination rechtlicher und wirtschaftlicher Sachverhalte sowie unternehmensberatende Tätigkeiten stellten zunehmend Felder der anwaltlichen Betätigung dar. Ein einheitliches Berufsbild einer anwaltlichen Tätigkeit sei heute kaum mehr festzustellen. In dem Merkblatt der Beklagten werde die berufstypische Tätigkeit eines Rechtsanwalts anhand von vier Merkmalen beschrieben. Ein Rechtsanwalt müsse danach rechtsberatend, rechtsgestaltend, rechtsentscheidend und rechtsvermittelnd bei seinem Arbeitgeber tätig sein, um die Befreiung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI erhalten zu können. Außerdem müsse der nichtanwaltliche Arbeitgeber diese Merkmale eines bei ihm anwaltlich tätigen Angestellten beschreiben und entsprechend bescheinigen. Die Beschäftigung der Klägerin bei der C. Versicherungs AG entspreche den vier Merkmalen. Die Ansicht der Beklagten, wonach das Tätigkeitsfeld der Rechtsgestaltung nicht hinreichend nachgewiesen sei, könne nicht nachvollzogen werden, zumal die Beklagte dies nicht näher begründet habe. Das Merkmal der Rechtsgestaltung werde von der Beklagten in ihrem Merkblatt beschrieben als: "Das selbständige Führen von Vertrags- und Einigungsverhandlungen mit den verschiedensten Partnern des Arbeitgebers". Dieses Merkmal sei hier aufgrund der Tätigkeit der abschließenden Bearbeitung von Groß- und Spezialschäden aus dem industriellen, gewerblichen und privaten Bereich, hier insbesondere von Schäden auf Grundlage der Arzt-, Architekten- und Produkthaftung sowie von Vermögensschäden von Rechtsanwälten und Notaren in vollem Umfange erfüllt. Die Tätigkeit der Klägerin erstrecke sich u. a. auf das Entwerfen, Formulieren, Erwägen verschiedener Regelungsmöglichkeiten, Verhandeln, das Fixieren von Vergleichsverträgen und - im Rahmen der Vollmacht - das Abzeichnen der Vereinbarung. Vergleiche mit verschiedenen Beteiligten würden in jedem Punkt individuell ausgehandelt und formuliert. Zu ihren Aufgaben gehöre die Abgabe von Verjährungsverzichtserklärungen und die Übereinkunft von Zahlungsmodalitäten mit regresspflichtigen Personen und Unternehmen. Ferner analysiere sie im Rahmen der Schadensabwicklung von z. B. Arzthaftungsfällen unabhängig den für einen evtl. Eintritt der Haftpflichtversicherung relevanten Sachverhalt, prüfe und bewerte die rechtlichen Voraussetzungen und erarbeite die Lösungswege eigenständig. Dabei verwende sie nicht nur medizinische und juristische Fachliteratur, sondern hole bei medizinisch schwierigeren Sachverhalten auch selbständig medizinische Fachgutachten ein, wobei sie wiederum die Fragestellungen entsprechend den juristischen Anforderungen im Einzelfall formuliere. Dieses selbständige Bearbeiten von Versicherungsfällen aus dem Bereich des Arzthaftungsrechts bedinge eine Analyse der für die C. Versicherungs AG als Versicherer relevanten Rechtsfragen der Deckung und Haftung und erfordere das Herausarbeiten und Darstellen von Lösungswegen vor dem spezifisch betrieblichen Hintergrund eines Versicherungsunternehmens. Sie sei damit auch rechtsgestaltend tätig. Die weitere Argumentation der Beklagten, die Tätigkeit der Klägerin erfordere die Eigenschaft als Volljurist nicht, sei schlichtweg in sich widersprüchlich. Zahlreiche Gerichte hätten entschieden, dass es auf eine "objektive Eignung" nicht ankomme, sondern auf die konkrete Tätigkeit, die konkreten Anforderungen des Arbeitgebers und den Nachweis der anwaltlichen Tätigkeit durch den Arbeitgeber anhand einer Stellen- und Funktionsbeschreibung.

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Klägerin wird auf die Schriftsätze ihres Prozessbevollmächtigten vom 22.01.2012, 22.02.2012, 18.05.2012, 27.08.2012 und 05.03.2013 Bezug genommen.

Mit Beschluss vom 05.07.2012 hat das Gericht das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Hessen beigeladen.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 15.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie für ihre Tätigkeit bei der C. Versicherungs AG von der Versicherungspflicht in der Deutschen Rentenversicherung ab dem 01.04.2011 zu befreien.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie vertritt weiterhin die Auffassung, die Klägerin übe bei der C. Versicherungs AG keine anwaltliche Tätigkeit aus. Die Merkmale der Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung seien nicht hinreichend nachgewiesen worden. Für die von der Klägerin zu erfüllenden Aufgaben sei die durch das zweite juristische Staatsexamen erlangte Befähigung zum Richteramt nicht objektiv unabdingbare Zugangsvoraussetzung. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI könne eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nur für die Beschäftigung erfolgen wegen der der Versicherte aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung seiner Berufsgruppe und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sei. Diese Grundvoraussetzung bedeute, dass die Beschäftigung, für die die Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt werde, zur Pflichtmitgliedschaft in der Berufskammer und der berufsständigen Versorgungseinrichtung führen müsse. Dies sei jedoch nur gegeben, wenn nach § 4 BRAO die durch das zweite juristische Staatsexamen erlangte Befähigung zum Richteramt unabdingbare Voraussetzung sei. Wegen des weiteren Vorbringens der Beklagten wird auf deren Schriftsätze vom 14.02.2012, 25.07.2012 und vom 15.08.2012 verwiesen.

Der in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Er verweist auf ein Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 16.02.2012 (Az. S 31 R 394/11). Das Sozialgericht Bremen habe in dieser Entscheidung ausgeführt, dass die Beklagte ein fünftes Merkmal zugrunde lege, wenn sie bei der Prüfung der Frage des Befreiungsanspruchs Überlegungen einbeziehe, ob es sich bei der wahrgenommenen Aufgabe um eine solche handele, die nur von einem Rechtsanwalt wahrgenommen werden könne. Auch das Sozialgericht München habe mit Urteil vom 28.04.2011 (Az. S 30 R 248/11) so entschieden. Diese Auffassung werde geteilt.

Die Verwaltungsakte der Beklagten ist zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.

Sie ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 15.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat auch ab 01.04.2011 Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung in ihrer Tätigkeit bei der C. Versicherungs AG. Der Anspruch ergibt sich aus § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI der ab 01.01.2005 geltenden Fassung. Nach dieser Vorschrift werden Beschäftigte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit, wenn
a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 01.01.1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat,
b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und
c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist.

Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist eröffnet, weil die Klägerin ab dem 01.04.2011 bei der C. Versicherungs AG gegen Entgelt abhängig beschäftigt ist und deshalb nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI dem Grunde nach der Versicherungspflicht bei der Beklagten unterliegt. Von dieser Versicherungspflicht ist die Klägerin aber gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI zu befreien. Die Klägerin erfüllt in ihrer Person die hierfür erforderlichen Voraussetzungen. Sie ist Mitglied in der Rechtsanwaltskammer. Die Pflichtmitgliedschaft in dieser Kammer bestand für die Berufsgruppe am Beschäftigungsort bereits vor dem 01.01.1995. Die Klägerin ist deshalb auch gemäß § 8 Abs. 1 der Satzung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Hessen seit dem 28.06.2000 Pflichtmitglied des Versorgungswerkes und zahlt einkommensbezogene Pflichtbeiträge entsprechend den §§ 157 ff. SGB VI. Aufgrund dieser Beiträge hat sie Ansprüche gegen das Versorgungswerk auf Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene. Die Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer und somit die Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk beruhen zwar nicht auf der Tätigkeit der Klägerin für die C. Versicherungs AG, sondern auf ihrer Zulassung als Rechtsanwältin. Eine kausale Beziehung zwischen ihrer Beschäftigung bzw. Tätigkeit einerseits und einer Pflichtmitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung andererseits muss nach Auffassung der Kammer aber nicht vorliegen. Die Kammer teilt insoweit nicht die Auffassung der Beklagten, wonach ein innerer Zusammenhang zwischen der Tätigkeit, für die eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht begehrt wird, und dem Versicherungsschutz durch die berufsständische Versorgungseinrichtung bestehen muss, sondern schließt sich den überzeugenden Gründen des 11. Senats des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in dessen Urteil vom 19.02.2013 (Az. L 11 R 2182/11) an und macht sich diese Begründung zu Eigen. Nach dieser Entscheidung ist der Beklagten zuzugeben, dass der Wortlaut der Vorschrift, die eine Befreiung nur vorsieht für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, "wegen der" die Beschäftigten einer aufgrund durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind, ein derart enges Verständnis der Norm nahe legt. Eine solche Auslegung lässt sich aber mit dem erkennbaren Zweck der Regelung nicht vereinbaren. Das Recht, sich von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreien zu lassen, soll Versicherten, die kraft Gesetzes auch Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind, die Verpflichtung nehmen, Beiträge zu zwei weitgehend funktionsgleichen Systemen der Altersversorgung zahlen zu müssen (Hinweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, 19.03.2004, L 4 RA 12/03, Juris m. w. N.). Dieser Zweck könnte nicht erreicht werden, wenn das Recht zur Befreiung davon abhinge, dass dieselbe abhängige Beschäftigung, die einerseits die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung begründet, andererseits auch zugleich zu einer Mitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung führen würde. Bei diesem engen Verständnis würde § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI jedenfalls für Rechtsanwälte - weitgehend leer laufen, da die Mitgliedschaft im Versorgungswerk von der Mitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer abhängt und diese wiederum an die Zulassung als Rechtsanwalt, nicht aber an die Ausübung einer bestimmten Beschäftigung oder Tätigkeit anknüpft (vgl. § 60 BRAO). Andererseits ist die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht, wie sich aus § 6 Abs. 5 SGB VI ergibt, nicht personen- sondern tätigkeitsbezogen. Dies bedeutet, dass die Befreiung nur für einzelne, konkrete Beschäftigungsverhältnisse bei einem bestimmten Arbeitgeber erteilt werden darf, so dass es bei einem Wechsel des Arbeitgebers einer erneuten Befreiung bedarf. Daraus wird deutlich, dass die Pflichtmitgliedschaft in dem Versorgungswerk der Rechtsanwälte für sich alleine nicht genügt, um einen Anspruch auf Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht zu begründen. Das LSG Baden-Württemberg hat es dann aber als ausreichend für eine Befreiung angesehen, dass die Beschäftigung eines Rechtsanwaltes bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber keinen Tatbestand erfüllt, der eine Versagung der Zulassung nach § 7 Nr. 8 BRAO, die Rücknahme der Zulassung oder ihren Widerruf nach § 14 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 8 BRAO rechtfertigt. Liegt kein solcher Tatbestand vor, hat ein zugelassener Rechtsanwalt, der Pflichtmitglied im Versorgungswerk der Rechtsanwälte ist, nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für jede Beschäftigung bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber, die mit dem Beruf des Rechtsanwalts vereinbar ist und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet. Die Zulassung der Klägerin als Rechtsanwältin ist hier nicht von der Rechtsanwaltskammer zurückgenommen oder widerrufen worden. Insoweit kommt der Zulassung eine Tatbestandswirkung zu mit der Folge, dass die Klägerin von der Rentenversicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu befreien ist, ohne dass es letztlich darauf ankommt, ob sie tatsächlich in ihrer Tätigkeit die bisher für erforderlich gehaltenen vier Merkmale einer anwaltlichen Tätigkeit erfüllt. Bei dieser Lösung kann es letztlich daher dahinstehen, ob die Klägerin die Merkmale der Rechtsentscheidung und Rechtsgestaltung hinreichend nachgewiesen hat. Auch hier teilt das erkennende Gericht ausdrücklich die Auffassung des LSG Baden-Württemberg in der genannten Entscheidung, wonach die Vorgehensweise, den unbestimmten Begriff der "anwaltlichen Tätigkeit" durch vier weitere, ebenfalls relativ unbestimmte Begriffe definieren zu wollen, zu keinen vorhersehbaren Ergebnissen führt und deshalb als Abgrenzungskriterium nicht geeignet ist. Die Kammer folgt daher ausdrücklich auch nicht der Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts in dessen Urteil vom 29.10.2009 (Az. L 8 KR 189/08), wonach eine Befreiungsmöglichkeit nach § 6 Abs.1 Satz 1 Nr.1 SGB VI nur besteht, wenn diese eine berufsspezifische Tätigkeit ausüben, die die vier Kriterien "Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung" umfasst.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Berufung ist gemäß § 143 SGG zulässig.
Rechtskraft
Aus
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