Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 7 R 38/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Streitig ist, ob und wenn ja, seit wann eine etwaige Erwerbsminderung eingetreten ist, da davon die Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen abhängt.
Der am 00.00.1985 geborene Kläger stellte im Dezember 2015 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Er hat keine Berufsausbildung ab-geschlossen und zuvor die Sonderschule besucht, ohne Schulabschluss. Er war seit jeher in verschiedenen Bereichen immer nur für wenige Monate beschäftigt gewesen. Seit 2005 ist er bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend gemeldet. Er selbst ging davon aus, nur un-ter Anleitung einer Tätigkeit nachgehen zu können. Er wurde im August 2015 im Auftrag des Jobcenters vom Kreis Viersen amtsärztlich untersucht. Dort war man der Auffassung, dass der Kläger voraussichtlich länger als 6 Monate keine 3 Stunden täglich einer Tätigkeit nachgehen könne. Der Kläger hatte dort angegeben, ca. 15 Dosen Bier am Tag zu trinken und meistens vormittags bereits anzufangen, zu trinken. Er war zuvor bereits am 18.11.2014 untersucht worden. Auch damals hielt man ihn für "arbeitsunfähig" aufgrund der Alkoholerkrankung, ging aber davon aus, dass dieser Zustand nicht länger als 6 Mo-nate anhalte.
Die Beklagte ließ den Kläger durch den Arzt für Innere Medizin L untersuchen. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger an einer psychischen Abhängigkeitserkrankung mit Notwendigkeit einer qualifizierten Entwöhnungsbehandlung leide, außerdem bestünden leichtere reaktiv bedingte depressive Verstimmungszustände, ein unbehandelter Blut-hochdruck, ein deutliches Körperübergewicht sowie ein wiederholtes Lendenwirbelsyndrom ohne wesentliche Bewegungseinschränkung. Der Kläger könne nicht mehr im Gartenbau arbeiten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien jedoch noch körperlich leichte bis mit-telschwere Tätigkeiten, überwiegend im Sitzen möglich, es bestünden lediglich verschie-dene qualitative Einschränkungen (keine Zwangshaltungen, keine Tätigkeiten auf Leitern oder mit Absturzgefahr, keine Fahr- oder Steuertätigkeiten etc.). Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben kämen allerdings erst nach Durchführung einer sachgerechten Entwöh-nungsbehandlung in Betracht.
Mit Bescheid vom 11.04.2016 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
Hiergegen erhob der Kläger am 29.04.2016 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, sich am 20.04.2016 freiwillig in eine Entgiftungsbehandlung begeben zu haben wegen sei-nes Alkohol- und Drogenmissbrauchs, Angstzuständen und Wahnvorstellungen, er befinde sich in der Landesklinik in Süchteln-Viersen. Auch werde er an einem Therapieangebot teilnehmen.
Die Beklagte ließ den Kläger vom Facharzt für Neurologie und Psychiatrie I untersuchen. Diesem gegenüber teilte er mit, dass er mit ca. 16 Jahren bereits gemerkt habe, dass es ihm besser gehe, wenn er trinke, dann habe er angefangen und damit nicht mehr aufhö-ren können. Meistens trinke er Bier, teils Schnaps, bis zu 1l Korn täglich, manchmal trinke er auch 3 Tage nichts und dann wieder. Einmal habe es sogar 7 Wochen Pause gegeben. Bier trinke er bis zu 25 Dosen pro Tag. I stellte die Diagnosen Alkoholismus (am ehesten Quartalstrinker), leichte Anpassungsstörung ohne gravierende depressive Verstimmungs-zustände, unbehandelter Bluthochdruck, Übergewicht und Verdacht auf alkohol-toxische Polyneuropathie. Eine Tätigkeit im Garten- und Landschaftsbau sei nicht möglich, aber geistig einfachste und körperlich leichte Tätigkeiten seien 6 Stunden täglich und mehr möglich.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2016 wies die Beklagte den Widerspruch als unbe-gründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 30.12.2016 gegenüber der Beklagten "Widerspruch erho-ben", die diesen als Klage ausgelegt und ans Gericht weitergeleitet hat. Die Mutter des Klägers hat ausgeführt, dass ihr Sohn seit Jahren unter Wahnvorstellungen leide, Angst-zustände gehörten zu seinem Tagesablauf, ständig fühle er sich verfolgt. Er reagiere oft sehr aggressiv, so dass er sich nicht immer unter Kontrolle habe. Er habe wegen des Drogenmissbrauchs eine Entgiftung gemacht, die Wahnvorstellungen seien geblieben, er traue sich nicht einmal, alleine unter Leute zu gehen.
Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 11.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2016 zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzli-chen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat versucht, Unterlagen für die Vergangenheit einzuholen, um zu klären, seit wann und in welchem Umfang die Alkoholerkrankung schon besteht. Der Kläger gab an, von 2007 bis 2015 nicht in ärztlicher Behandlung gewesen zu sein. Das Gericht hat Be-fundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Außerdem wurde von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie H ein Gutachten eingeholt. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass der Kläger aktuell aufgrund seiner Alkoholerkrankung nicht dazu in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies sei auch seit Rentenantragstellung so. Die Beklagte ist mit dem Ergebnis des Gutachtens nicht einver-standen. Das Gericht hat versucht, weitere Unterlagen zum Gesundheitszustand in der Vergangen-heit beizuziehen. Der Kläger wurde 13.08.2009 im Auftrag der Arbeitsagentur untersucht. Dort wurde er aufgrund des "Verdachts auf intellektuelle Grenzwert- Minderbegabung und Drogenmissbrauch" für unter 3 Stunden leistungsfähig gehalten, voraussichtlich bis zu 6 Monaten. Der Kläger wurde außerdem im Juni 2007 einen Tag stationär im Hospital zum heiligen Geist aufgrund einer Alkohol-Intoxination behandelt. Anschließend wurde H gebe-ten, den Zeitpunkt des Leistungsfalls näher zu konkretisieren. Sie geht davon aus, dass mehr dafür als dagegen spreche, dass der Kläger schon ab 2007 aufgrund seiner Alkoho-lerkrankung erwerbsgemindert gewesen ist, spätestens seit November 2014 bestünde kein Zweifel an der Erwerbsminderung des Klägers.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte am 25.06.2019 verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen und auch nicht vertreten worden ist. Der Kläger war ordnungsgemäß geladen und wurde in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Die Mutter des Klä-gers hat telefonisch mitgeteilt, dass der Kläger nicht zum Termin kommen werde. Eine Verlegung des Termins wurde nicht beantragt. Die Kammer hielt das persönliche Erschei-nen des Klägers für eine Entscheidung nicht für erforderlich. Die Klage (der Widerspruch war als Klage auszulegen, da sich der Kläger erkennbar gegen den Widerspruchsbescheid zur Wehr setzen wollte) ist zulässig aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und der Kläger daher nicht in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG verletzt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Er-werbsminderung.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung besteht gemäß § 43 Sozialge-setzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) für Versicherte, die erwerbsgemindert sind und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (soge-nannte 3/5-Belegung) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit (5 Jahre) erfüllt haben. Die Kammer war davon überzeugt, dass der Kläger aktuell und auch seit Rentenantragstellung erwerbsgemindert ist. Eine Rente konnte jedoch nicht zuge-sprochen werden, da nicht festgestellt werden konnte, dass er die versicherungsrechtli-chen Voraussetzungen für die Rente erfüllt. Dies bezieht sich sowohl auf die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit als auch auf die 3/5-Belegung. Der Kläger trägt die Beweislast da-für, dass er erwerbsgemindert ist und er trägt nach Auffassung der Kammer auch die Be-weislast dafür, wann genau der Leistungsfall eingetreten ist, da von diesem Zeitpunkt ab-hängt, in welchem Zeitraum die 36 Pflichtbeiträge liegen müssen und ob zu diesem Zeit-punkt die allgemeine Wartezeit erfüllt ist. Naturgemäß kann der Leistungsfall oft nicht auf einen konkreten Tag datiert werden. Die Kammer hält es grundsätzlich für möglich, den Zeitpunkt des Leistungsfalls lediglich in einem bestimmten Zeitkorridor anzusiedeln, wenn feststeht, dass er in diesem Zeitkorridor eingetreten ist und bei sämtlichen Zeitpunkten des Leistungsfalls innerhalb dieses Korridors die versicherungsrechtlichen Voraussetzun-gen erfüllt werden. In diesem Fall ist es möglich, den Zeitpunkt des Leistungsfalls zu Las-ten des Klägers (wegen der objektiven Beweislast) beispielweise so spät wie möglich (je nach Fall, also je nachdem was für den Kläger günstiger oder ungünstiger ist) innerhalb des Zeitkorridors festzulegen und eine entsprechende Rente auszuurteilen. Dies hat die 7. Kammer in der Vergangenheit auch bereits getan. Im hiesigen Fall war die Kammer je-doch nicht davon überzeugt, dass der Leistungsfall in einem zeitlichen Korridor als nach-gewiesen angesehen werden kann, in welchem der Kläger die allgemeine Wartezeit und die 3/5-Belegung erfüllt. Der Vollbeweis verlangt keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinaus-gehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichti-gen Zweifeln verdichten (so: BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris)." Die Kammer hatte jedoch "gewichtige Zweifel" daran, dass der Kläger erst bei An-tragstellung im Dezember 2015 erwerbsgemindert gewesen ist (da lagen die versiche-rungsrechtlichen Voraussetzungen vor). Es lagen nach den Unterlagen in der Akte viele Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger schon seit mehreren Jahren erwerbsgemindert gewesen ist, ggf. war er es schon seit Eintritt ins Erwerbsleben. Er selbst hat wiederholt angegeben (z. B. gegenüber I und gegenüber H), schon seit dem 16. Lebensjahr Alkohol getrunken zu haben und dass er dann nicht mehr habe aufhören können. Die längste Trinkpause hatte er auf 7 Wochen beziffert. Er wurde bereits 2007 aufgrund einer Alkohol-Intoxination behandelt, 2009 hielt ihn die Agentur für Arbeit für nicht dazu in der Lage, ei-ner Tätigkeit nachzugehen (damals nahm er auch Drogen). Wenn der Kläger tatsächlich über Jahre hinweg einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgegangen wäre, wäre dies ein starkes Indiz dafür gewesen, dass er dazu auch tatsächlich gesundheitlich in der Lage gewesen ist. Tatsächlich hat der Kläger indes immer nur für wenige Monate überhaupt eine Tätigkeit ausgeübt und gegenüber H ausgeführt, verschiedene Arbeitsstel-len wegen des Alkohols verloren zu haben. H hat in ihrer ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, dass mehr dafür als dagegen spreche, dass der Kläger jedenfalls seit Juni 2007 erwerbsgemindert ist. Stellt man auf diesen Zeitpunkt ab, hat der Kläger weder die Wartezeit (60 Monate) noch die 3/5-Belegung erfüllt, da er in der Zeit davor ausschließlich 22 Monate an Pflichtbeitragszeiten im Versicherungsverlauf hat. Auf den Versicherungs-verlauf vom 25.10.2018 wird verwiesen.
Letztlich war nicht aufklärbar, seit wann genau die Erwerbsminderung anzunehmen ist. Die Zweifel gehen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten des Klä-gers, da dieser den Nachweis zu erbringen hat, sämtliche Voraussetzungen für die von ihm begehrte Rente zu erfüllen.
Der Vollständigkeit halber wird erneut betont, dass die Kammer den Kläger aufgrund des überzeugenden Gutachtens von H auch aktuell für voll erwerbsgemindert (unter 3 Stun-den täglich leistungsfähig) hält. Falls das Klageverfahren unter anderem auch deswegen geführt wurde, um die Zuständigkeit zwischen Jobcenter und Sozialamt zu klären, dürfte das Gutachten hierfür ggf. ausreichend sein, um diese Frage zu klären.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gegen das Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben. Da die Klage eine wieder-kehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft, kommt es auf den Wert des Streitgegenstandes nicht an (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Streitig ist, ob und wenn ja, seit wann eine etwaige Erwerbsminderung eingetreten ist, da davon die Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen abhängt.
Der am 00.00.1985 geborene Kläger stellte im Dezember 2015 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Er hat keine Berufsausbildung ab-geschlossen und zuvor die Sonderschule besucht, ohne Schulabschluss. Er war seit jeher in verschiedenen Bereichen immer nur für wenige Monate beschäftigt gewesen. Seit 2005 ist er bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend gemeldet. Er selbst ging davon aus, nur un-ter Anleitung einer Tätigkeit nachgehen zu können. Er wurde im August 2015 im Auftrag des Jobcenters vom Kreis Viersen amtsärztlich untersucht. Dort war man der Auffassung, dass der Kläger voraussichtlich länger als 6 Monate keine 3 Stunden täglich einer Tätigkeit nachgehen könne. Der Kläger hatte dort angegeben, ca. 15 Dosen Bier am Tag zu trinken und meistens vormittags bereits anzufangen, zu trinken. Er war zuvor bereits am 18.11.2014 untersucht worden. Auch damals hielt man ihn für "arbeitsunfähig" aufgrund der Alkoholerkrankung, ging aber davon aus, dass dieser Zustand nicht länger als 6 Mo-nate anhalte.
Die Beklagte ließ den Kläger durch den Arzt für Innere Medizin L untersuchen. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger an einer psychischen Abhängigkeitserkrankung mit Notwendigkeit einer qualifizierten Entwöhnungsbehandlung leide, außerdem bestünden leichtere reaktiv bedingte depressive Verstimmungszustände, ein unbehandelter Blut-hochdruck, ein deutliches Körperübergewicht sowie ein wiederholtes Lendenwirbelsyndrom ohne wesentliche Bewegungseinschränkung. Der Kläger könne nicht mehr im Gartenbau arbeiten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien jedoch noch körperlich leichte bis mit-telschwere Tätigkeiten, überwiegend im Sitzen möglich, es bestünden lediglich verschie-dene qualitative Einschränkungen (keine Zwangshaltungen, keine Tätigkeiten auf Leitern oder mit Absturzgefahr, keine Fahr- oder Steuertätigkeiten etc.). Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben kämen allerdings erst nach Durchführung einer sachgerechten Entwöh-nungsbehandlung in Betracht.
Mit Bescheid vom 11.04.2016 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.
Hiergegen erhob der Kläger am 29.04.2016 Widerspruch. Zur Begründung führte er aus, sich am 20.04.2016 freiwillig in eine Entgiftungsbehandlung begeben zu haben wegen sei-nes Alkohol- und Drogenmissbrauchs, Angstzuständen und Wahnvorstellungen, er befinde sich in der Landesklinik in Süchteln-Viersen. Auch werde er an einem Therapieangebot teilnehmen.
Die Beklagte ließ den Kläger vom Facharzt für Neurologie und Psychiatrie I untersuchen. Diesem gegenüber teilte er mit, dass er mit ca. 16 Jahren bereits gemerkt habe, dass es ihm besser gehe, wenn er trinke, dann habe er angefangen und damit nicht mehr aufhö-ren können. Meistens trinke er Bier, teils Schnaps, bis zu 1l Korn täglich, manchmal trinke er auch 3 Tage nichts und dann wieder. Einmal habe es sogar 7 Wochen Pause gegeben. Bier trinke er bis zu 25 Dosen pro Tag. I stellte die Diagnosen Alkoholismus (am ehesten Quartalstrinker), leichte Anpassungsstörung ohne gravierende depressive Verstimmungs-zustände, unbehandelter Bluthochdruck, Übergewicht und Verdacht auf alkohol-toxische Polyneuropathie. Eine Tätigkeit im Garten- und Landschaftsbau sei nicht möglich, aber geistig einfachste und körperlich leichte Tätigkeiten seien 6 Stunden täglich und mehr möglich.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2016 wies die Beklagte den Widerspruch als unbe-gründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 30.12.2016 gegenüber der Beklagten "Widerspruch erho-ben", die diesen als Klage ausgelegt und ans Gericht weitergeleitet hat. Die Mutter des Klägers hat ausgeführt, dass ihr Sohn seit Jahren unter Wahnvorstellungen leide, Angst-zustände gehörten zu seinem Tagesablauf, ständig fühle er sich verfolgt. Er reagiere oft sehr aggressiv, so dass er sich nicht immer unter Kontrolle habe. Er habe wegen des Drogenmissbrauchs eine Entgiftung gemacht, die Wahnvorstellungen seien geblieben, er traue sich nicht einmal, alleine unter Leute zu gehen.
Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 11.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2016 zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzli-chen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat versucht, Unterlagen für die Vergangenheit einzuholen, um zu klären, seit wann und in welchem Umfang die Alkoholerkrankung schon besteht. Der Kläger gab an, von 2007 bis 2015 nicht in ärztlicher Behandlung gewesen zu sein. Das Gericht hat Be-fundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Außerdem wurde von der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie H ein Gutachten eingeholt. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass der Kläger aktuell aufgrund seiner Alkoholerkrankung nicht dazu in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies sei auch seit Rentenantragstellung so. Die Beklagte ist mit dem Ergebnis des Gutachtens nicht einver-standen. Das Gericht hat versucht, weitere Unterlagen zum Gesundheitszustand in der Vergangen-heit beizuziehen. Der Kläger wurde 13.08.2009 im Auftrag der Arbeitsagentur untersucht. Dort wurde er aufgrund des "Verdachts auf intellektuelle Grenzwert- Minderbegabung und Drogenmissbrauch" für unter 3 Stunden leistungsfähig gehalten, voraussichtlich bis zu 6 Monaten. Der Kläger wurde außerdem im Juni 2007 einen Tag stationär im Hospital zum heiligen Geist aufgrund einer Alkohol-Intoxination behandelt. Anschließend wurde H gebe-ten, den Zeitpunkt des Leistungsfalls näher zu konkretisieren. Sie geht davon aus, dass mehr dafür als dagegen spreche, dass der Kläger schon ab 2007 aufgrund seiner Alkoho-lerkrankung erwerbsgemindert gewesen ist, spätestens seit November 2014 bestünde kein Zweifel an der Erwerbsminderung des Klägers.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer konnte am 25.06.2019 verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen und auch nicht vertreten worden ist. Der Kläger war ordnungsgemäß geladen und wurde in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Die Mutter des Klä-gers hat telefonisch mitgeteilt, dass der Kläger nicht zum Termin kommen werde. Eine Verlegung des Termins wurde nicht beantragt. Die Kammer hielt das persönliche Erschei-nen des Klägers für eine Entscheidung nicht für erforderlich. Die Klage (der Widerspruch war als Klage auszulegen, da sich der Kläger erkennbar gegen den Widerspruchsbescheid zur Wehr setzen wollte) ist zulässig aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und der Kläger daher nicht in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG verletzt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Er-werbsminderung.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung besteht gemäß § 43 Sozialge-setzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) für Versicherte, die erwerbsgemindert sind und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (soge-nannte 3/5-Belegung) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit (5 Jahre) erfüllt haben. Die Kammer war davon überzeugt, dass der Kläger aktuell und auch seit Rentenantragstellung erwerbsgemindert ist. Eine Rente konnte jedoch nicht zuge-sprochen werden, da nicht festgestellt werden konnte, dass er die versicherungsrechtli-chen Voraussetzungen für die Rente erfüllt. Dies bezieht sich sowohl auf die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit als auch auf die 3/5-Belegung. Der Kläger trägt die Beweislast da-für, dass er erwerbsgemindert ist und er trägt nach Auffassung der Kammer auch die Be-weislast dafür, wann genau der Leistungsfall eingetreten ist, da von diesem Zeitpunkt ab-hängt, in welchem Zeitraum die 36 Pflichtbeiträge liegen müssen und ob zu diesem Zeit-punkt die allgemeine Wartezeit erfüllt ist. Naturgemäß kann der Leistungsfall oft nicht auf einen konkreten Tag datiert werden. Die Kammer hält es grundsätzlich für möglich, den Zeitpunkt des Leistungsfalls lediglich in einem bestimmten Zeitkorridor anzusiedeln, wenn feststeht, dass er in diesem Zeitkorridor eingetreten ist und bei sämtlichen Zeitpunkten des Leistungsfalls innerhalb dieses Korridors die versicherungsrechtlichen Voraussetzun-gen erfüllt werden. In diesem Fall ist es möglich, den Zeitpunkt des Leistungsfalls zu Las-ten des Klägers (wegen der objektiven Beweislast) beispielweise so spät wie möglich (je nach Fall, also je nachdem was für den Kläger günstiger oder ungünstiger ist) innerhalb des Zeitkorridors festzulegen und eine entsprechende Rente auszuurteilen. Dies hat die 7. Kammer in der Vergangenheit auch bereits getan. Im hiesigen Fall war die Kammer je-doch nicht davon überzeugt, dass der Leistungsfall in einem zeitlichen Korridor als nach-gewiesen angesehen werden kann, in welchem der Kläger die allgemeine Wartezeit und die 3/5-Belegung erfüllt. Der Vollbeweis verlangt keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinaus-gehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichti-gen Zweifeln verdichten (so: BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris)." Die Kammer hatte jedoch "gewichtige Zweifel" daran, dass der Kläger erst bei An-tragstellung im Dezember 2015 erwerbsgemindert gewesen ist (da lagen die versiche-rungsrechtlichen Voraussetzungen vor). Es lagen nach den Unterlagen in der Akte viele Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger schon seit mehreren Jahren erwerbsgemindert gewesen ist, ggf. war er es schon seit Eintritt ins Erwerbsleben. Er selbst hat wiederholt angegeben (z. B. gegenüber I und gegenüber H), schon seit dem 16. Lebensjahr Alkohol getrunken zu haben und dass er dann nicht mehr habe aufhören können. Die längste Trinkpause hatte er auf 7 Wochen beziffert. Er wurde bereits 2007 aufgrund einer Alkohol-Intoxination behandelt, 2009 hielt ihn die Agentur für Arbeit für nicht dazu in der Lage, ei-ner Tätigkeit nachzugehen (damals nahm er auch Drogen). Wenn der Kläger tatsächlich über Jahre hinweg einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgegangen wäre, wäre dies ein starkes Indiz dafür gewesen, dass er dazu auch tatsächlich gesundheitlich in der Lage gewesen ist. Tatsächlich hat der Kläger indes immer nur für wenige Monate überhaupt eine Tätigkeit ausgeübt und gegenüber H ausgeführt, verschiedene Arbeitsstel-len wegen des Alkohols verloren zu haben. H hat in ihrer ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, dass mehr dafür als dagegen spreche, dass der Kläger jedenfalls seit Juni 2007 erwerbsgemindert ist. Stellt man auf diesen Zeitpunkt ab, hat der Kläger weder die Wartezeit (60 Monate) noch die 3/5-Belegung erfüllt, da er in der Zeit davor ausschließlich 22 Monate an Pflichtbeitragszeiten im Versicherungsverlauf hat. Auf den Versicherungs-verlauf vom 25.10.2018 wird verwiesen.
Letztlich war nicht aufklärbar, seit wann genau die Erwerbsminderung anzunehmen ist. Die Zweifel gehen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten des Klä-gers, da dieser den Nachweis zu erbringen hat, sämtliche Voraussetzungen für die von ihm begehrte Rente zu erfüllen.
Der Vollständigkeit halber wird erneut betont, dass die Kammer den Kläger aufgrund des überzeugenden Gutachtens von H auch aktuell für voll erwerbsgemindert (unter 3 Stun-den täglich leistungsfähig) hält. Falls das Klageverfahren unter anderem auch deswegen geführt wurde, um die Zuständigkeit zwischen Jobcenter und Sozialamt zu klären, dürfte das Gutachten hierfür ggf. ausreichend sein, um diese Frage zu klären.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gegen das Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung gegeben. Da die Klage eine wieder-kehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft, kommt es auf den Wert des Streitgegenstandes nicht an (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
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