S 4 KO 1487/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 KO 1487/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Auch wenn fragwürdig erscheint, warum beispielsweise eine Blutuntersuchung über die GOÄ abgerechnet werden kann, eine bei jeder pneumologischen Begutachtung zu erwartende und in aller Regel gerechtfertigte spirometrische Untersuchung jedoch nicht, hat die aktuelle Rechtsprechung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg den - freilich erst im Jahr 2017 zur Kenntnis genommenen - gesetzlichen Wortlaut auf ihrer Seite.
2. Dass der Gesetzgeber die Materie anders und eventuell sinnvoller bzw. stimmiger regeln könnte, rechtfertigt keine erweiternde Auslegung. Verfassungsrechtliche Bedenken hat die Kammer angesichts der nachfolgend dargestellten anderweitigen Abrechnungsmöglichkeit nicht.
3. Nebenleistungen, die nicht gemäß § 10 JVEG über die GOÄ abgerechnet werden können, sind über den Zeitaufwand zu berücksichtigen.
4. Da der Antragsteller davon ausgehen durfte, dass der Zeitaufwand für die Nebenleistungen keine Rolle spielt, steht fest, dass dieser Zeitaufwand vom Antragsteller nicht hinreichend sicher erfasst und dokumentiert wurde. Vor diesem Hintergrund ist eine richterliche Schätzung gerechtfertigt.
Die Entschädigung des Antragstellers für seinen Aufwand im Zusammenhang mit dem im Hauptsacheverfahren S 4 SB 1523/18 erstellten Gutachtens wird auf 625,71 EUR festgesetzt. Dieser Beschluss ergeht gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die Kürzung seiner Gebührenrechnung um 125,54 EUR.

Im Hauptsacheverfahren S 4 SB 1523/18, in dem über eine Herabbemessung des Grads der Behinderung (GdB) und die Anerkennung des Merkzeichens G gestritten wird, hat das Gericht den Antragsteller von Amts wegen mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Für sein 11 Seiten umfassendes Gutachten nebst 7 Seiten technische Befunde in der Anlage rechnete der Antragsteller 625,71 EUR ab (4 Stunden Zeitaufwand: 300,00 EUR, besondere Verrichtung - Nebenleistungen -: 162,62 EUR, Schreibauslagen: 16,20 EUR, Ablichtungen: 20,00 EUR, 19% Umsatzsteuer: 99,90 EUR).

Die Kostenbeamtin setzte die Entschädigung nach Prüfung der Abrechnungsunterlagen auf insgesamt 500,17 EUR fest. Ihre Kürzung betraf folgende vom Antragsteller nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) abgerechneten Nebenleistungen: • Spirographische Flussvolumenkurve 16,32 EUR • Ganzkörperplethysmographie 44,12 EUR • Residualvolumenbestimmung 14,11 EUR • CO-Diffusionskapazität 13,23 EUR • Oxymetrische Untersuchung 8,86 EUR • Ergometrische Funktionsprüfung 8,86 EUR • Summe 105,50 EUR (zzgl. 19% Umsatzsteuer) Zur Begründung der Kürzung führte die Kostenbeamtin aus, diese Leistungen seien weder in der Anlage 2 des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG) noch im Abschnitt O der GOÄ aufgeführt und könnten daher nach der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (Beschlüsse vom 16.07.2018, L 10 KO 2185/18 und vom 21.06.2018, L 10 KO 1935/19) nicht gemäß § 10 JVEG über die GOÄ, sondern nur über den Zeitaufwand berücksichtigt werden. Hinsichtlich des vom Antragsteller abgerechneten Zeitaufwands hatte die Plausibilitätsprüfung der Kostenbeamtin ergeben, dass nach dem Umfang der Akten und des erstellten Gutachtens ein Zeitaufwand bis zu 7,5 Stunden nachvollziehbar gewesen wäre.

Wegen der vorgenommenen Kürzung hat der Antragsteller am 03.06.2019 einen Antrag auf richterliche Festsetzung seiner Entschädigung gestellt (Erinnerung). Zur Begründung hat er vorgetragen, seit 12 Jahren Gutachten für das Sozialgericht zu erstellen. Stets seien die von ihm nach dem inzwischen an sich zu geringen einfachen Satz der GOÄ abgerechneten technischen Leistungen akzeptiert worden. Er habe sein Gutachten in Treu und Glauben auf die bisherige Abrechnungspraxis erstellt. Eine Kürzung hätte im Voraus angekündigt werden müssen.

Die Kostenbeamtin hat der Erinnerung nicht abgeholfen und ergänzend darauf hingewiesen, dass eine Erstattung aus Vertrauensschutzgesichtspunkten ausscheide.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Prozess- und die Kostenakte Bezug genommen.

II.

Auf den nach § 4 Abs. 1 JVEG zulässigen Antrag auf richterliche Festsetzung ist die Entschädigung des Antragstellers für sein Gutachten entsprechend seiner eingereichten Abrechnung auf 625,71 EUR festzusetzen.

Die Abrechnung der oben im Einzelnen aufgeführten, streitigen Nebenleistungen nach § 10 Abs. 1 oder 2 JVEG über die GOÄ ist, wie die Kostenbeamtin zutreffend ausführte, nicht möglich. Die streitigen Nebenleistungen werden weder in der Anlage 2 zum JVEG genannt, noch sind sie im Abschnitt O der GOÄ enthalten. Nach der seit Mai 2017 ergangenen Rechtsprechung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg regelt § 10 JVEG abschließend, wann die GOÄ zur Anwendung kommt. Eine entsprechende Anwendung oder analoge Anwendung der GOÄ scheidet aus (u.a.: Beschluss vom 09.10.2018, L 10 KO 2806/18 in juris Rn. 11). Die Kammer folgt dieser Rechtsprechung. Auch wenn fragwürdig erscheint, warum beispielsweise eine Blutuntersuchung über die GOÄ abgerechnet werden kann, eine bei jeder pneumologischen Begutachtung zu erwartende und in aller Regel gerechtfertigte spirometrische Untersuchung jedoch nicht, hat die aktuelle Rechtsprechung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg den - freilich erst im Jahr 2017 zur Kenntnis genommenen - gesetzlichen Wortlaut auf ihrer Seite. Dass der Gesetzgeber die Materie anders und eventuell auch sinnvoller bzw. stimmiger regeln könnte, rechtfertigt keine erweiternde Auslegung. Verfassungsrechtliche Bedenken hat die Kammer angesichts der nachfolgend dargestellten anderweitigen Abrechnungsmöglichkeit nicht.

Vertrauensschutzgesichtspunkte rechtfertigen keine Abweichung vom Wortlaut des § 10 JVEG. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in den dem Antragsteller mit dem Gutachtensauftrag zugesandten Hinweisen für die Sachverständigenvergütung (Nr. 2.3, Stand 01.04.2019) die rechtlichen Voraussetzungen der Entschädigung besonderer Leistungen nach § 10 JVEG über die GOÄ in Übereinstimmung mit der aktuellen Rechtsprechung des Landessozialgerichts dargestellt wurden.

Allerdings verkennt die Kammer nicht, dass der Antragsteller angesichts der von ihm zutreffend dargestellten langjährigen anderweitigen Abrechnungspraxis des Sozialgerichts diesen Hinweis überlas oder in seiner Bedeutung nicht richtig einschätzte und daher völlig nachvollziehbar kein Verständnis für die Kürzung durch die Kostenbeamtin hat und sich auf Vertrauensschutz beruft.

Eine Entscheidung zugunsten des Antragsstellers aus Gründen des Vertrauensschutzes würde freilich für die Zukunft - in der ein Vertrauensschutz nicht mehr in Betracht käme - keine befriedende Wirkung haben. Es bedarf auch gar nicht des Rückgriffs auf Vertrauensschutz, um auf ein Ergebnis im Sinne des Antragstellers zu gelangen.

Wie von der Kostenbeamtin zutreffend ausgeführt, sind die Nebenleistungen, die nicht gemäß § 10 JVEG über die GOÄ abgerechnet werden können, über den Zeitaufwand zu berücksichtigen (Thüringer LSG, Beschluss vom 28.02.2018, L 1 JVEG 867/15, in juris Rn. 17). Das ergibt sich auch aus dem Gegenschluss zu den Ausführungen unter Nr. 2 der genannten Hinweise für die Abrechnung der Sachverständigenvergütung (s.o.), wonach bei den nach § 10 JVEG abzurechnenden besonderen Leistungen keine zusätzliche Vergütung des (zeitlichen) Aufwands für die Untersuchung und kurze gutachtliche Äußerung erfolgt.

Den Zeitaufwand für die streitigen Nebenleistungen haben indes weder der Antragsteller bei seiner Abrechnung, noch die Kostenbeamtin bei der Kostenfestsetzung berücksichtigt. Die vom Antragsteller abgerechneten 4 Stunden Zeitaufwand liegen deutlich unter der Obergrenze von 7,5 Stunden, die angesichts des Umfangs der Akten und des Gutachtens plausibel gewesen wären. Dies belegt eindrücklich, dass der Antragsteller bei der Abrechnung des Zeitaufwands die Nebenleistungen aufgrund der bisherigen Praxis völlig nachvollziehbar, jedoch zu Unrecht nicht berücksichtigte. Da der Antragsteller aufgrund der bisherigen Abrechnungspraxis davon ausgehen durfte, dass der Zeitaufwand für die Nebenleistungen keine Rolle spielt, steht für die Kammer fest, dass dieser Zeitaufwand vom Antragsteller nicht hinreichend sicher erfasst und dokumentiert wurde. Vor diesem Hintergrund hält die Kammer eine richterliche Schätzung unter Anwendung von § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 287 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) für gerechtfertigt. Streitig sind sechs Untersuchungen, für deren Durchführung, Auswertung und kurze gutachtliche Bewertung die Kammer jeweils einen Durchschnittswert von 15 Minuten, zusammen also 90 Minuten in Ansatz bringt.

Somit ist von einem zusätzlich zu berücksichtigenden Zeitaufwand von ca. 1,5 Stunden auszugehen. Bei dem hier einschlägigen Stundensatz von 75,00 EUR belaufen sich die Kosten hierfür auf 112,50 EUR. Dieser Betrag übersteigt die von der Kostenbeamtin vorgenommene Kürzung um 105,50 EUR (die eben genannten Beträge jeweils ohne Umsatzsteuer). Da dem Antragsteller nicht mehr Kosten zugesprochen werden können, als er abrechnete, zudem die Abweichung der Beträge nur geringfügig ist und auf einer Schätzung beruht, ist die Entschädigung in Höhe der von Antragsteller geltend gemachten Kosten festzusetzen.

Die Entscheidungen über die Gebühren und Kosten beruhen auf § 4 Abs. 8 JVEG.

Da der Beschwerdewert 200,00 EUR nicht übersteigt und die Sache angesichts der schon ergangenen zweitinstanzlichen Rechtsprechung keine grundsätzliche Bedeutung mehr hat, ist die Beschwerde gemäß § 4 Abs. 3 JVEG unzulässig.
Rechtskraft
Aus
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