S 9 KR 192/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 9 KR 192/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 111/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 17/17 B
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 27.02.2014 wird abgeändert und der Widerspruchsbescheid vom 20.05.2014 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 229,08 EUR zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger 3/5 der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Höhe der Rechtsanwaltskosten im Widerspruchsverfahren.

Für die Zeit vom 03.08.2013 bis 17.08.2013 und vom 18.08.2013 bis zum 10.10.2013 verordnete die Gemeinschaftspraxis Dr. C./D. dem Kläger eine Dekubitusbehandlung am Gesäß. Mit Bescheid vom 13.08.2013 lehnte die Beklagte die Dekubitusbehandlung für die Zeit vom 03.08.2013 bis 17.08.2013 ab. Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 06.09.2013 Widerspruch.

Mit weiterem Bescheid vom 27.08.2013 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme der Dekubitusbehandlung in der Zeit vom 18.08.2013 bis 10.10.2013 ab. Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 09.09.2013 Widerspruch. Mit Bescheid vom 20.01.2014 bewilligte die Beklagte die Dekubitusbehandlung am Gesäß für den streitigen Zeitraum. Mit Schreiben vom 13.02.2014 machte der Kläger Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 380,80 EUR für jeden Widerspruch geltend. Mit Bescheid vom 27.02.2014 setzte die Beklagte die Rechtsanwaltskosten auf insgesamt 380,80 EUR fest. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Widersprüche richteten sich gegen die Leistungsablehnungen für die Verordnung vom 02.08.2013 und 16.08.2013. Die Widerspruchsbegründungen seien inhaltlich und sogar textlich nahezu identisch und argumentativ vollständig deckungsgleich, so dass die Argumentation als eine Einheit zu werten sei. Daher könnte in dem Verfahren die Gebühr nur für eine Angelegenheit geltend gemacht werden.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, es handele sich bei den Widersprüchen vom 06.09.2013 und 09.09.2013 nicht um dieselbe Angelegenheit. Es handele sich um selbständige ablehnende Entscheidungen, gegen die jeweils der Widerspruch zulässig gewesen sei. Wäre nicht gegen beide Bescheide fristgerecht Widerspruch eingelegt worden, wären sie unabhängig voneinander bestandskräftig geworden. Es handele sich daher um völlig eigenständige Angelegenheiten. Auch der Gegenstand der Anträge sei nicht derselbe gewesen. Mit beiden Anträgen seien zwar Leistungen der häuslichen Krankenpflege beantragt worden, jedoch hätten sie jeweils verschiedene Leistungszeiträume betroffen. Es handele sich nicht um einen wiederholenden Antrag derselben Leistung. Jeder der Bescheide habe daher auf seine Rechtmäßigkeit überprüft werden müssen. Die Voraussetzungen der Genehmigung hätten bei einem Antrag vorliegen, bei dem anderen jedoch nicht vorliegen können.

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.05.2014 zurück. Zur Begründung hat die Beklagte u. a. ausgeführt, es sei nur eine Geschäftsgebühr zu zahlen, da es sich bei den zwei Widersprüchen um dieselbe Angelegenheit gehandelt habe. Nach der Rechtsprechung sei unter "Angelegenheit" im gebührenrechtlichen Sinne von § 13 Abs. 2 Satz 1 BRAGO das gesamte Geschäft zu verstehen, das der Rechtsanwalt für den Auftraggeber besorgen solle. Der Inhalt bestimme den Rahmen, innerhalb dessen der Rechtsanwalt tätig werde. Für die Frage, wann von einer einzigen Angelegenheit auszugehen sei oder wann mehrere Angelegenheiten vorliegen würden, sei insbesondere der Inhalt des dem Anwalt erteilten Auftrages maßgebend. In der Regel würden die weisungsgemäß erbrachten anwaltlichen Leistungen ein und dieselbe Angelegenheit betreffen, wenn zwischen ihnen ein innerer Zusammenhang bestehe und sie sowohl inhaltlich als auch in der Zielsetzung so weitgehend übereinstimmen würden, dass von einem einheitlichen Rahmen der anwaltlichen Mühewaltung gesprochen werden könne. Bei verschiedenen Verordnungszeiträumen handele es sich um einen einheitlichen Auftrag, da die verschiedenen Verordnungszeiträume gemeinsam mit der Mandantschaft erörtert werden könnten. Aus Sicht der Mandantschaft sei es aus Kostengesichtspunkten geradezu widersinnig, für jeden einzelnen Verordnungszeitraum einen neuen Auftrag zu erteilen. Dies wäre auch nicht erforderlich gewesen, da sich in Bezug auf den medizinischen Sachverhalt und die Widerspruchsbegründung keine Änderungen ergeben hätten. Es handele sich jeweils um den gleichen Lebenssachverhalt, so dass eindeutig von einem inneren Zusammenhang und einem einheitlichen Auftrag auszugehen sei.

Mit der am 16.06.2014 beim Sozialgericht Gießen eingegangenen Klage begehrt der Kläger die Zahlung von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 380,80 EUR. Der Kläger vertritt die Ansicht, die beiden Widersprüche gegen die Ablehnungsbescheide vom 13.08.2014 und 27.08.2014 seien nicht dieselbe Angelegenheit. Die Bescheide stellten rechtlich völlig eigenständige Angelegenheiten dar, da jedem Bescheid ein separater Antrag auf Gewährung von häuslicher Krankenpflege zugrunde gelegen habe. Jeder dieser Anträge habe auf seine Genehmigungsfähigkeit geprüft werden müssen. Es fehle am inneren Zusammenhang zwischen den Verwaltungsakten, da jeweils über eine neue Sachleistung zu entscheiden gewesen wäre.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 27.02.2014 abzuändern und den Widerspruchsbescheid vom 20.05.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 380,80 EUR zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sich die Beklagte im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Parteien, wird auf die Gerichts- und die Beklagtenakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung von weiteren außergerichtlichen Kosten in Höhe von 229,08 EUR.

Bei Rahmengebühren bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfanges und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen (§ 14 Abs. 1 Satz 1 RVG).

Die Gebühren entgelten die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts vom Auftrag bis zur Erledigung der Angelegenheit. Der Rechtsanwalt kann die Gebühren in derselben Angelegenheit nur einmal fordern (§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 RVG).

Bei den Widersprüchen gegen die zwei Verordnungen handelt es sich nicht um dieselbe Angelegenheit.

Das Gesetz definiert in § 15 Abs. 2 RVG nicht, was unter derselben Angelegenheit zu verstehen ist. Es handelt sich hierbei um einen gebührenrechtlichen Begriff, der sich mit dem prozessrechtlichen Begriff des (Verfahrens-) Gegenstandes decken kann, aber nicht muss. Daher kommt es zur Bestimmung, ob dieselbe Angelegenheit vorliegt, auf die Umstände des konkreten Einzelfalls und folglich auf den Inhalt des erteilten Auftrages an. Von derselben Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 RVG ist in der Regel dann auszugehen, wenn zwischen den weisungsgemäß erbrachten anwaltlichen Leistungen, also den verschiedenen Gegenständen, ein innerer Zusammenhang gegeben ist, also ein einheitlicher Auftrag und ein einheitlicher Rahmen der anwaltlichen Tätigkeit vorliegt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 02.04.2014, Az. B 4 AS 27/13 R). Bei den Widersprüchen gegen die Ablehnung der häuslichen Krankenpflege handelt es sich um zwei Widerspruchsverfahren, da sie nicht von einem einheitlichen Auftrag umfasst wurden und auch kein innerer Zusammenhang besteht. Die Dekubitusbehandlung ist durch zwei verschiedene Verordnungen angeordnet worden. Die Verordnungen betreffen verschiedene Zeiträume, so dass die Verordnungen nicht von einem einheitlichen Auftrag umfasst wurden, denn der Kläger hätte auch nur gegen eine Verordnung Widerspruch erheben können und bei Erhebung des Widerspruchs war noch völlig offen, ob eine erneute Verordnung durch die Beklagte genehmigt würde. Es bestand auch kein innerer Zusammenhang zwischen den einzelnen Verordnungen, denn bei jeder neuen Verordnung muss die medizinische Notwendigkeit erneut geprüft werden. Die Notwendigkeit der Maßnahme ist aber vom Gesundheitszustand, also vom Vorliegen des behandlungsbedürftigen Dekubitus abhängig. Eine Entscheidung über die Genehmigung der Verordnung kann daher ohne weiteres unterschiedlich ausfallen. Der Kläger hat folglich einen Anspruch auf die Erstattung seiner Rechtsanwaltskosten für das zweite Widerspruchsverfahren.

Für das weitere Widerspruchsverfahren ist jedoch kein Betrag von 380,80 EUR zu erstatten.

Der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit waren im zweiten Widerspruchsverfahren geringer. Die Widerspruchsbegründungen sind vorliegend identisch. Die Bearbeitung eines weiteren Verfahrens mit gleichgelagerter Problematik führt zu einer erheblichen Arbeitserleichterung, da wie hier die Schriftsätze identisch sein können und auch längere Besprechungen mit dem Auftraggeber entfallen. Im zweiten Widerspruchsverfahren tritt ein Synergieeffekt ein. Dieser Synergieeffekt ist bei der Höhe der Gebühr zu berücksichtigen. Die weitere Angelegenheit ist nicht mehr so umfangreich, da bereits der Sachverhalt erarbeitet worden ist und auch die rechtliche Bewertung ist bereits im anderen Verfahren erfolgt.

Die Tätigkeit im zweiten Widerspruchsverfahren ist daher wesentlich geringer. Gemäß Ziffer 2302 Anlage 1 zum RVG-Vergütungsverzeichnis in der ab 01.08.2013 geltenden Fassung beträgt die Geschäftsgebühr in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstehen (§ 3 RVG) 50,00 EUR bis 640,00 EUR. Aufgrund des Synergieeffektes ist nach Ansicht der Kammer die Hälfte der Mittelgebühr in Höhe von 172,50 EUR als angemessene Gebühr gerechtfertigt.

Der Kläger hat folglich einen Anspruch auf Zahlung der Rechtsanwaltskosten in Höhe von:

der Hälfte der Mittelgebühr der Geschäftsgebühr Ziffer 2302 VV RVG 172,50 EUR
Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikation Ziffer 7002 VV RVG 20,00 EUR
Mehrwertsteuer 36,58 EUR
insgesamt 229,08 EUR

Aus den vorgenannten Gründen war die Klage teilweise erfolgreich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

Die Berufung wird zugelassen, da es zu der Frage derselben Angelegenheit bei der Verordnung von häuslicher Krankenpflege eine Vielzahl von abweichenden Entscheidungen der Sozialgerichte gibt.
Rechtskraft
Aus
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