S 22 P 2/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 22 P 2/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 P 52/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob der Kläger Anspruch gegen die Pflegekasse seiner Mutter auf Gewährung von Pflegeunterstützungsgeld für die Zeit vom 19.01.2015 bis 30.01.2015 hat.

Die Mutter des Klägers, geboren 1930, ist bei der Beklagten pflegeversichert. Sie ist pflegebedürftig und erhält von der Beklagten seit Februar 2014 Pflegeleistungen. Die Pflege erfolgt grundsätzlich durch die Ehefrau des Klägers, Frau C-A. Die Mutter des Klägers jedenfalls Anfang 2015 unter zahlreichen Erkrankungen. Im Vordergrund stand eine schwere chronische Schmerzproblematik.

Die Mutter des Klägers war am 15.01.2015 und am 22.01.2015 mit der Schwiegertochter bei der Hausärztin, Frau Dr. med. D., vorstellig. Am 15.01.2015 berichtete die Patientin der Ärztin über Schlafstörungen trotz Schlafmittelgebrauch. Daraufhin veranlasste Frau Dr. med. D. eine Blutuntersuchung. Am 22.01.2015 fand eine Befundbesprechung und ein grundsätzliches Gespräch über das Vorliegen einer Depression, Angststörung oder Somatisierungsstörung statt. Der Folgetermin am 26.01.2015 wurde von der Mutter des Klägers nicht wahrgenommen.

Der Kläger beantragte am 05.02.2015 Pflegeunterstützungsgeld zur Pflege seiner Mutter für den Zeitraum vom 19.01.2015 bis 30.01.2015. Dem Antrag war die Bescheinigung der Hausärztin der Mutter des Klägers vom 09.02.2015 beigefügt, dass die akut aufgetretene Pflegesituation die Organisation oder Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung in dem Zeitraum vom 19.01.2015 bis 30.01.2015 notwendig gemacht habe.

Der Kläger legte eine Entgeltbescheinigung zur Berechnung von Pflegeunterstützungsgeld seines Arbeitsgebers vor. Hiernach war der Kläger von seinem Arbeitgeber für den Zeitraum vom 19.01.2015 bis 30.01.2015 unbezahlt freigestellt. Der Verdienstausfall in diesem Zeitraum betrug 1.741,94 Euro brutto / 1.387,02 Euro netto.

Mit Bescheid vom 10.03.2015 lehnte die Beklagte den Antrag ab.

Mit Schreiben vom 22.04.2015 legte der Kläger Widerspruch ein. Die Mutter sei akut krank gewesen und von dem Kläger betreut worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.01.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, § 2 Abs. 1 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) eröffne Beschäftigten die Möglichkeit, bis zu zehn Arbeitstage bei akut auftretenden Pflegesituationen der Arbeit fernzubleiben, wenn dies erforderlich sei, um eine bedarfsgerechte Pflege eines nahen Angehörigen zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung eines nahen Angehörigen in dieser Zeit sicherzustellen. Das Recht, der Arbeit fernzubleiben, sei auf Akutfälle begrenzt und könne nur in Anspruch genommen werden, wenn im konkreten Fall die Notwendigkeit einer pflegerischen Versorgung bestehe. Eine akut aufgetretene Pflegesituation setze voraus, dass die Pflegebedürftigkeit plötzlich und unerwartet eingetreten sei und eine Pflege erst organisiert und / oder durch den Beschäftigten selbst sichergestellt werden müsse. Bestehe bereits Pflegebedürftigkeit und sei es zu einer Verschlimmerung gekommen, so müsse sich die Pflegesituation wesentlich geändert haben. Eine wesentliche Veränderung der Pflegesituation habe nicht stattgefunden. Die bedarfsgerechte Pflege der Mutter sei bereits seit Februar 2014 organisiert.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat daraufhin am 19.02.2016 Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt erhoben.

Mit Beschluss vom 28.12.2017 erklärte sich das Sozialgericht Frankfurt für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Sozialgericht Wiesbaden.

Zur Begründung trägt der Prozessbevollmächtigte des Klägers vor, der Kläger habe in der Zeit vom 19.01.2015 bis 30.01.2015 seine Mutter pflegen müssen. Dadurch sei ihm ein Verdienstausfall entstanden. Die Mutter des Klägers habe akut starke Schmerzen gehabt, obwohl sie ständig Schmerzmittel eingenommen habe. Aufgrund der Schmerzen habe sich eine Depression entwickelt und eine hohe Suizidgefahr bestanden. Hierüber sei die behandelnde Ärztin, Frau Dr. D., informiert gewesen, weshalb sie die entsprechende Bestätigung abgegeben habe. Frau Dr. D. habe auch gewusst, wie labil und schmerzempfindlich die Mutter des Klägers in dieser Zeit war. Der Kläger sei der einzige verbleibende Familienangehörige, der durch seinen pflegerischen Einsatz die Mutter von einem Suizid habe abhalten können.

§ 2 Abs. 1 PflegeZG fordere nicht eine plötzlich und erwartet eingetretene Pflegebedürftigkeit, sondern eine akut aufgetreten Pflegesituation. Hier sei akut eine Depression aufgetreten, die von der behandelnden Ärztin auch bestätigt werde. Die depressive Phase sei so stark gewesen, dass aus Sicht der Familie das Risiko eines Suizids bestand.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 10.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Pflegeunterstützungsgeld zu gewähren.
Hilfsweise die Anhörung der Frau C. C-A. als Zeugin zum Beweis dafür, dass im Januar 2015 die Depression sich sehr verstärkte und Suizidgedanken bestanden.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist zur Begründung auf die Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid vom 28.01.2016. Ergänzend führt sie aus, dass die Pflegesituation während der Termine bei der Hausärztin am 15.01.2015 und 22.01.2015 nicht thematisiert worden sei. Am 09.02.2015 sei die Praxis von Frau Dr. D. lediglich informiert worden, dass der Kläger in der Zeit vom 19.01.2015 bis 30.01.2015 nicht gearbeitet habe, eine ärztliche Prüfung und Feststellung, ob eine akute Pflegesituation vorgelegen habe, sei demnach nicht durchgeführt worden.

Im Rahmen des Gerichtsverfahrens hat das Gericht Befundberichte der Ärztin Dr. med. D. sowie des Hospitals zum heiligen Geist eingeholt.

Das Gericht hat die Beteiligten am 19.09.2018 über die Möglichkeit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid angehört.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 SGG entscheiden, da die Angelegenheit keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört worden.

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid vom 10.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2016 ist nicht zu beanstanden. Die Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Das Gericht ist aufgrund des eingeholten Befundberichtes der Frau Dr. med. D. zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegeunterstützungsgeld für die Erbringung von Pflegeleistungen in dem Zeitraum vom 19.01.2015 bis 30.01.2015 hat und der Antrag deshalb von der Beklagten zu Recht abgelehnt worden ist.

Gemäß § 44 a Abs. 3 S. 1 SGB XI hat ein Beschäftigter im Sinne des § 7 Abs. 1 des Pflegezeitgesetzes (PflegeZG) für kurzzeitige Arbeitsverhinderung nach § 2 des PflegeZG, für die er in diesem Zeitraum keine Entgeltfortzahlung vom Arbeitgeber und kein Kranken- oder Verletztengeld bei Erkrankung oder Unfall eines Kindes nach § 45 des SGB V oder nach § 45 Abs. 4 SGB VII beanspruchen kann, Anspruch auf einen Ausgleich für entgangenes Arbeitsentgelt (Pflegeunterstützungsgeld) für bis zu insgesamt zehn Arbeitstage. Gemäß S. 3 wird das Pflegeunterstützungsgeld auf Antrag, der unverzüglich zu stellen ist, unter Vorlage der ärztlichen Bescheinigung nach § 2 Abs. 2 S. 2 des PflegeZG von der Pflegekasse des pflegebedürftigen nahen Angehörigen gewährt.

Der Kläger erfüllt unstreitig die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung eines Anspruches auf Pflegeunterstützungsgeld. Der Kläger ist als Arbeitnehmer ein Beschäftigter i.S.d. § 7 Abs. 1 Nr. 1 PflegeZG.

Er beantragte Pflegeunterstützungsgeld für die Pflege seiner Mutter, die gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 1 PflegeZG eine nahe Angehörige darstellt.

Allerdings ist nach Ansicht des Gerichts vorliegend keine kurzzeitige Arbeitsverhinderung i.S.d. § 2 PflegeZG gegeben.

Gemäß § 2 Abs. 1 PflegeZG haben Beschäftigte das Recht, bis zu zehn Arbeitstage der Arbeit fernzubleiben, wenn dies erforderlich ist, um für einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen in einer akut aufgetretenen Pflegesituation eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen.

Eine akute Pflegesituation ist anzunehmen, wenn der Pflegebedarf plötzlich, also unerwartet und unvermittelt auftritt. Nur in diesen Fällen besteht für die nahen Angehörigen das rechtlich anzuerkennende Bedürfnis, ihrer Tätigkeit fernzubleiben, ohne dies zuvor dem Arbeitgeber anzukündigen. Ist die Person, die der Arbeitnehmer pflegen will, bereits pflegebedürftig und ändert sich die Pflegesituation nicht wesentlich, greift § 2 Abs. 1 PflegeZG nicht ein (BAG, Urteil vom 15.11.2011, Az. 9 AZR 348/10). Von einer akut aufgetretenen Pflegesituation kann insofern nicht ausgegangen werden, wenn der Pflege- oder Organisationsbedarf sich aufgrund eines Krankheits- oder Behandlungsverlaufes oder eines längeren Krankenhausaufenthaltes erkennbar abzeichnet und dem Beschäftigten damit ausreichend Zeit und Gelegenheit verblieb, die erforderlichen organisatorischen Maßnahmen zu treffen (Feichtinger/Malkmus, Entgeltfortzahlungsrecht, PflegeZG § 2 Rn. 12 - 16, beck-online).

Das Gericht konnte sich nicht davon überzeugen, dass in dem Zeitraum vom 19.01.2015 bis 30.01.2015 eine solche akute Pflegesituation entstand.

Die Mutter des Klägers erhält seit Februar 2014 Leistungen der Pflegekasse. Ausweislich des eingeholten Befundberichtes der Hausärztin litt sie bereits vor dem streitgegenständlichen Zeitraum unter einer Vielzahl von Erkrankungen und war multimorbide. Sie litt bereits vor dem 19.01.2015 unter einer schweren chronischen Schmerzproblematik. Eine Zunahme der Schmerzen und ein zunehmender Betreuungsbedarf Anfang des Jahres 2015 wird seitens des Gerichtes nicht angezweifelt. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein akut aufgetretenes Krankheitsbild, das zu einem plötzlich und unerwarteten Pflegeaufwand führte.

Die von dem Kläger vorgetragene hohe Suizidgefahr in dem streitgegenständlichen Zeitraum, die eine Akutsituation hervorrufen könnte, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Die Mutter des Klägers stellte sich in dem streitgegenständlichen Zeitraum bei der Hausärztin am 22.01.2015 vor. Für das Gericht wäre es naheliegend und in einer solchen Akutsituation einzig schlüssig, wenn die in den Augen der Angehörigen hoch suizidgefährdete Mutter des Klägers bzw. die begleitende Schwiegertochter im Rahmen dieses Arzttermins die behandelnde Ärztin um medizinische Unterstützung zur Behandlung der angenommenen hohen Suizidgefahr sowie der ursächlichen akut starken Schmerzen, welche von der Hausärztin jedenfalls ärztlich mitbetreut wurden, gebeten hätte. Gegenstand der Besprechung war in dieser, als dramatisch geschilderten Phase, dann allerdings laut Befundbericht ausschließlich die Befundbesprechung der Blutuntersuchung sowie ein grundsätzliches Gespräch über das Vorliegen einer Depression, Angststörung oder Somatisierungsstörung. Die Ärztin führt aus, dass eine mögliche Suizidgefahr nicht Gegenstand der Besprechung gewesen sein kann. Sie hätte sonst diesbezüglich einen Vermerk verfasst und zudem eine unmittelbare psychiatrische Vorstellung zur Krisenintervention bzw. eine stationäre Einweisung veranlasst. Ein Folgetermin, ebenfalls in dem streitgegenständlichen Zeitraum, wurde von der Mutter des Klägers nicht mehr wahrgenommen.

Der Kläger hat sodann erst im Nachhinein, am 09.02.2015 die Ärztin telefonisch über seine kurzzeitige Arbeitsverhinderung zur Pflege seiner Mutter in Kenntnis gesetzt. Weshalb dies nicht im Rahmen des Behandlungstermins am 22.01.2015 angesprochen und um Ausstellung der Bescheinigung gebeten wurde, in welchem die Ärztin sich persönlich von der Akutsituation der Mutter des Klägerin hätte überzeugen können, ist ebenfalls für das Gericht nicht nachvollziehbar. Entgegen des Vortrages des Klägers ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass die behandelnde Ärztin im streitgegenständlichen Zeitraum Kenntnis von der vorgetragenen akuten Pflegesituation hatte, obwohl durchaus ohne Aufwand die Möglichkeit bestanden hätte, die Ärztin im Rahmen der Besprechungstermins am 22.01.2015 hierüber in Kenntnis zu setzen.

Das Gericht konnte sich anhand der ausführlichen, schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen in den Befundberichten der behandelnden Ärztin davon überzeugen, dass im streitgegenständlichen Zeitraum keine akute Pflegesituation im Sinne des §3 PflegeZG vorlag.

Dem hilfsweise gestellten Antrag, die Ehefrau des Klägers, Frau C-A., als Zeugin zu hören, war nicht stattzugeben. Das Gericht hält die Vernehmung der Ehefrau des Klägers sowie der Nachbarinnen Frau E. und Frau F. nicht für sachdienlich. Die Frage des Vorliegens einer Suizidgefahr, die zu einer akut auftretenden Pflegesituation führen kann, kann lediglich von Fachärzten getroffen werden.

Im Ergebnis liegen somit zur Überzeugung des Gerichts die Voraussetzungen § 44 a Abs. 3 S. 1 SGB XI nicht vor. Daher steht dem Kläger kein Pflegeunterstützungsgeld zu.

Die Klage war aus den dargelegten Gründen abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
Saved