L 14 AL 225/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 120 AL 69/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AL 225/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Insolvenzgeld (Insg) für den Monat Februar 2012.

Der 1972 geborene Kläger war ab August 2006 bei der im Jahr 1998 gegründeten Firma P & Co GmbH in B als Angestellter im Verwaltungsbereich versicherungspflichtig beschäftigt und zuständig für die Fuhrparkverwaltung und KfZ-Überwachung. Gegenstand des Unternehmens war die "Ausführung und Vermittlung von Transportleistungen und sonstigen Dienstleistungen, insbesondere Paketdienstleistungen". Das monatliche Netto-Arbeitsentgelt des Klägers betrug zuletzt 2.090,89. Die P & Co GmbH hatte als Subunternehmer der Firma P & H Logistik AG Pakete der Firma U ausgeliefert. Die P & Co GmbH und die P & H Logistik AG waren unter derselben Anschrift in B ansässig. Das gesamte operative Geschäft der Arbeitgeberin und der überwiegende Teil der Mitarbeiter, insbesondere die Fahrer und Disponenten, waren in der Niederlassung in U bei F beschäftigt. Lediglich die Verwaltung, bestehend aus dem Kläger, vier weiteren Angestellten und dem Geschäftsführer waren in B tätig.

Ende Januar 2012 nahm die P & Co GmbH mit der Agentur für Arbeit in F wegen der beabsichtigten Kündigung aller Mitarbeiter und einer eventuellen Betriebsübernahme durch die Firma A GmbH Kontakt auf. Hintergrund der Betriebseinstellung war die vom einzigen Auftraggeber, der P & H Logistik AG, erfolgte Auftragskündigung. Sämtliche Arbeitsverhältnisse wurden zum Ende des Februar 2012 gekündigt. Die Gehälter für Februar 2012 erhielten die Arbeitnehmer nicht mehr. Der Großteil der Arbeitnehmer aus U und Umgebung stimmten der Betriebsübernahme bzw. dem Übergang ihrer Arbeitsverträge ab dem 01. März 2012 auf die Firma A GmbH zu. Der Kläger sowie die anderen vier in B tätigen Verwaltungsangestellten wurden ab dem 01. März 2012 nicht für die A GmbH tätig. Der Kläger arbeitete ab März 2012 weiter in B, nunmehr für die Firma P & H Logistik AG.

Am 08. März 2012 beantragte die P und Co. GmbH beim Amtsgericht Freiburg die Eröffnung des Ins-Verfahrens (Az. 8 IN 83/12). Das Amtsgericht setzte einen in Freiburg ansässigen Rechtsanwalt als Ins-Verwalter ein. Ende März 2012 übermittelte die Agentur für Arbeit in Freiburg der Agentur in Berlin einige Insg-Anträge, u.a. mit dem Hinweis, dass Arbeitnehmer, die nicht übernommen worden seien, beim Arbeitgeber wegen eines Vorschusses auf das Insg vorgesprochen und ihnen das Verfahren erläutert worden sei. Mit Schreiben vom 26. April 2012 informierte der Ins-Verwalter die Arbeitnehmer der P und Co. GmbH, auch den Kläger, vom Ins-Verfahren und dem Übergang der Arbeitsverhältnisse zum 01. März 2012 auf die A Logistik GmbH (Karlsruhe) und der Widerspruchsmöglichkeit des Arbeitnehmers. Das Schreiben schloss mit dem Hinweis, man möge sich bei bestehenden Unklarheiten hinsichtlich der Auswirkungen des Betriebsübergangs binnen Monatsfrist bei ihm melden. Als Auskunftspersonen stand dem Ins-Verwalter laut Gutachten vom 26. April 2012 u.a. der Zeuge F als Justiziar der P & H Logistik AG zur Verfügung.

Am 01. Mai 2012 wurde das Ins-Verfahren über das Vermögen der P und Co. GmbH eröffnet. Die A GmbH übermittelte mit Schreiben vom 02. Mai 2012 die Insg-Anträge den von ihr übernommenen Arbeitnehmern an die Beklagte. Am 11. Mai 2012 beauftragte der Ins-Verwalter die ebenfalls in Freiburg ansässige Firma J Personal Service GmbH mit der Erstellung der Insg-Bescheinigungen. Am selben Tag übermittelte eine Mitarbeiterin der Beklagten an die Firma J per Mail eine Arbeitnehmerliste, auf der der Kläger und auch die anderen Berliner Mitarbeiter nicht verzeichnet waren. Am 14. Mai 2012 nahm der Zeuge F telefonisch und per E-Mail Kontakt mit der Firma J wegen der Insg-Zahlungen auf. Es wurde ihm mitgeteilt, dass es nicht möglich sei, das InsG an den Arbeitgeber zu überweisen, einfacher sei es, wenn der Arbeitgeber die Beträge als Vorschuss abziehe, denn das Insg werde nächste Woche ausbezahlt. Am 21. Mai 2012 gingen die Insg-Bescheinigungen bei der Beklagten ein, auch diejenige für den Kläger. Der Zeuge F nahm Mitte Juni 2012 erneut telefonisch Kontakt mit der Firma J auf. Am 30. Juli 2012 rief der Kläger schließlich selbst bei der Beklagten an und erhielt die Auskunft, dass von ihm kein Antrag auf InsG vorliege. Die Beklagte vermerkte den 30. Juli 2012 als Antragsdatum und übersandte dem Kläger die Formularanträge.

Mit Bescheid vom 10. Oktober 2012 lehnte die Beklagte die Bewilligung von InsG ab. Der Antrag sei nicht innerhalb der Ausschlussfrist von zwei Monaten gestellt worden. Die Frist beginne am Tag nach dem Vorliegen des Ins-Ereignisses, hier der 01. Mai 2012, der Antrag datiere vom 30. Juli 2012 und sei damit verspätet. Eine Nachfrist könne nicht eingeräumt werden, denn der Kläger habe die Frist schuldhaft versäumt.

Mit seinem hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe die Fristversäumnis nicht zu vertreten, denn er habe insbesondere durch die Aussagen der Firma J davon ausgehen können, alle erforderlichen formellen Voraussetzungen zur Auszahlung des InsG erfüllt zu haben. Erst durch das Telefonat mit der Beklagten habe er erfahren, dass kein Antrag gestellt worden sei; er habe diesen dann unverzüglich gestellt. Der Kläger verwies auf eine eidesstattliche Versicherung des Zeugen F vom 05. November 2012 und legte Ausdrucke der e-mail-Korrespondenz vom 14. Mai 2012 zwischen dem Zeugen und der Firma J vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 06. Dezember 2012 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger habe innerhalb der bis zum 02. Juli 2012 laufenden Ausschlussfrist Kenntnis von der Insolvenz gehabt. Auch wenn er die gesetzliche Ausschlussfrist nicht gekannt habe, könne ihm keine Nachfrist eingeräumt werden.

Hiergegen hat der Kläger am 08. Januar 2013 Klage bei dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben und u.a. vorgetragen, er habe Ende März von seinem neuem Arbeitgeber einen Vorschuss von 2.000,00 EUR auf das Februargehalt mit Blick auf das auszuzahlende InsG erhalten, den er noch zurückzahlen müsse. Er habe zwar Kenntnis von dem vom Ins-Verwalter in U für die Mitarbeiter einberufenen Termins gehabt, habe aber wegen der Entfernung nicht teilnehmen können. Daher habe er sich mit dem Schreiben des Ins-Verwalters vom 26. April 2012 an den Personalsachbearbeiter bzw. Justiziar seines neuen Arbeitgebers - den Zeugen F - gewandt, weil dieser Ahnung von allem Rechtlichen habe. Der Zeuge habe sich beim Ins-Verwalter nach der weiteren Vorgehensweise erkundigt, sei von diesem an die Firma J verwiesen worden, die ihm am 14. Mai 2012 mitgeteilt habe, das InsG werde nächste Woche ausgezahlt. Im Juni habe der Zeuge dann die Information erhalten, alles sei nach B geschickt und man solle noch Geduld haben. Durch die Aussagen der Firma J habe er davon ausgehen dürfen, dass alles Erforderliche zur Auszahlung des InsG getan sei. Er habe von Allem keine Ahnung gehabt und Ende Juli bei der Beklagten angerufen, weil immer noch kein Geld da gewesen sei.

Das SG hat im Juni 2013 eine schriftliche Stellungnahme der Geschäftsführerin der Firma J eingeholt, in der diese u.a. angibt, die InsG-Bescheinigungen seien von ihr am 18. Mai 2012 ausgestellt und versandt worden. Die Arbeitnehmer seien auf einer Betriebsversammlung vom Ins-Verwalter über das Procedere informiert worden, seien aber selbst verantwortlich für die Beantragung von InsG; die Antragstellung werde auch nicht überprüft. In F und O schreibe normalerweise die Agentur für Arbeit die Arbeitnehmer an, wenn kein Antrag vorliege. Aus ihrer Sicht seien die Arbeitnehmer informiert gewesen und hätten Gelegenheit gehabt, sich bei offenen Fragen an den Ins-Verwalter zu wenden. Das SG hat des Weiteren eine schriftliche Stellungnahmen vom Sachbearbeiter der Agentur für Arbeit Freiburg eingeholt, der u.a. angegeben hat, eine Namensliste der Arbeitnehmer der insolventen Firma sei ihm nicht vorgelegt worden und er habe lediglich tabellarisch festgehalten, für welche Arbeitnehmer der eingereichte Antrag auf InsG nach B weitergeleitet worden sei. Ein Antrag des Klägers sei nicht dabei gewesen. Ihm sei nicht bekannt, ob und wie die Arbeitnehmer informiert wurden, die nicht am hiesigen Standort beschäftigt gewesen seien. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das SG den vom Kläger benannten Zeugen R F zu den Gesprächsinhalten und Auskünften im Zusammenhang mit der Beantragung von InsG durch ehemalige Arbeitnehmer der P & Co GmbH vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Kläger, der bereits am 26. April 2012 Kenntnis vom Ins-Ereignis gehabt habe, habe sich nicht darauf verlassen dürfen, dass Dritte für ihn den InsG-Antrag stellen würden.

Mit Urteil vom 29. September 2015 hat das SG den Bescheid vom 10. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06. Dezember 2012 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger InsG für Februar 2012 zu gewähren. Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Gewährung von InsG nach § 183 Abs. 1 S. 1 SGB III in der bis zum 31. März 2012 geltenden Fassung zu. Ins-Ereignis sei hier die Eröffnung des Ins-Verfahrens am 01. Mai 2012 gewesen. Das Arbeitsverhältnis des Klägers sei bereits zum 29. Februar 2012 beendet gewesen und es habe noch ein offener Anspruch auf Arbeitsentgelt gegen die insolvente Arbeitgeberin für den Februar 2012 bestanden. Der Umstand, dass der Kläger von seinem neuen Arbeitgeber einen Vorschuss auf das zu erwartende Insg erhalten habe, habe keinen Einfluss auf den Anspruch des Klägers gegen die Beklagte, da dieser Vorschuss nicht mit einer Forderungsabtretung verbunden und mit einer Rückzahlungspflicht des Klägers belastet gewesen sei. Zwar habe der Kläger den Antrag auf Insg nicht innerhalb der Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Ins-Ereignis gestellt (§ 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III), denn die Frist habe im Hinblick auf das Ins-Ereignis am 01. Mai 2012 am Montag, dem 02. Juli 2012, geendet. Der Kläger habe seinen Antrag jedoch erst am 30. Juli 2012 gestellt. Dem Kläger sei jedoch die Nachfrist nach § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III einzuräumen. Er habe seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt, also das Ablaufen der Ausschlussfrist nicht zu vertreten, denn er habe sich bis zu seinem Anruf Ende Juli 2012 in der Sicherheit wähnen dürfen, alles Erforderlich getan zu haben. Zwar habe er Kenntnis vom Ins-Ereignis gehabt, jedoch habe das Schreiben des Ins-Verwalters von Ende April 2012 viele Informationen enthalten, jedoch keinen einzigen Hinweis auf eine Antragsmöglichkeit auf Insg oder konkrete Hinweise für die Berliner Arbeitnehmer enthalten. Der Kläger habe sich auch zeitnah an den Zeugen F gewandt, sei aber weder von diesem noch von der vom Zeugen kontaktierten J GmbH auf das Erfordernis einer fristgemäßen Antragstellung hingewiesen worden. Der Kläger habe berechtigterweise aufgrund der Position bzw. Funktion von der Kompetenz und Sachkunde des Zeugen F und der von diesem angefragten Stelle ausgehen dürfen. Bei dem Zeugen habe es sich nicht nur um den Personalzuständigen des neuen Arbeitgebers des Klägers, sondern um einen Personalreferenten mehrerer kooperierender Firmen, zudem mit juristischer Ausbildung, gehandelt. Dass der Zeuge tatsächlich, wie er eingeräumt habe, eigentlich keine Ahnung vom "Ins-Ausfallgeld" gehabt habe, habe er gegenüber dem Kläger nicht offenbart. Dies habe vom Kläger auch nicht erkannt werden können und müssen, zumal er auch davon ausgehen durfte, dass sein neuer Arbeitgeber bedingt durch die Vorschusszahlung ein eigenes Interesse an der baldigen Auszahlung des InsG gehabt habe. Der e-mail-Verkehr des Zeugen F mit der Firma J belege darüber hinaus, dass der Zeuge tatsächlich auch Kontakt Richtung Ins-Verwalter aufgenommen und alle betroffenen Berliner Arbeitnehmer namentlich benannt habe, um eine Zahlung des InsG auf das Konto des neuen Arbeitgebers zu ermöglichen, was auf dementsprechender vorheriger telefonischer Absprache beruht habe. Die nachfolgende und wohl zunächst falsche Auskunft der Firma J habe gelautet, dass das InsG nächste Woche ausbezahlt werde. Diese Auskunft sei von einer von einem Ins-Verwalter beauftragten Firma, die Bescheinigungen nach dem SGB III zu erstellen, gekommen, so dass von dort Sachkunde habe erwartet werden können. Der Zeuge habe den Kläger bzw. die betroffenen Mitarbeiter zeitnah entsprechend informiert und sich noch im Juni auf Bitten der betroffenen Mitarbeiter, erneut bei der Firma J nach dem Bearbeitungsstand erkundigt. Dort sei die Auskunft erteilt worden, dass alles nach B geschickt sei, es aber bis zur Zahlung noch dauern könne. Der Zeuge habe offensichtlich nicht in Betracht gezogen, dass der Kläger bei der Beklagten noch einen Antrag zu stellen habe. Es stelle auch keine ungewöhnliche Bearbeitungszeit dar, wenn Ende Mai bei der Beklagten eingegangene Unterlagen im Juni noch nicht zu einer abschließenden Bearbeitung geführt hätten, zumal es sich um rund 100 betroffene Arbeitnehmer gehandelt habe. Schließlich habe sich der Kläger unter angemessener Beachtung der ihm mitgeteilten Bearbeitungszeiten jeweils nach dem Sachstand erkundigt und schließlich zeitnah direkten Kontakt zur Beklagten gesucht. Die Anforderungen an die erforderlichen Sorgfaltspflichten dürften gerade im Lichte der europäischen Normen nicht übermäßig streng beurteilt werden, es müssten die individuellen Möglichkeiten und Erkenntnisse des betroffenen Arbeitnehmers und die Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden.

Gegen das am 03. November 2015 zugestellte Urteil richtet sich die am 23. November 2015 bei dem Landessozialgericht (LSG) eingegangene Berufung der Beklagten, mit der diese geltend macht, dass der Kläger das Fristversäumnis der am 02. Juli 2012 endenden Ausschlussfrist zu vertreten habe. Hier schade bereits einfache Fahrlässigkeit. Kenne ein Rechtsunkundiger die Antragsfristen nicht, gehöre es zu seinen Sorgfaltspflichten, sich rechtzeitig sachkundigen Rechtsrat zu verschaffen. Beratungsfehler Dritter, um deren Rechtsrat der Betroffene nachgesucht habe, habe auch der nicht rechtskundige Arbeitnehmer zu vertreten (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. September1990, 10 Rar 14/89, juris). Der Kläger habe durch ein Schreiben des Ins-Verwalters vom 26. April 2012 Kenntnis von einem Ins-Ereignis gehabt. Er habe sich dann an den Personalreferenten seines neuen Arbeitgebers, den Zeugen F, gewandt, damit dieser beim Ins-Verwalter nachfragen solle wie das Procedere der Arbeitsentgeltzahlung für den Monat Februar 2012 stattfinden solle. Hierin könne aber weder die Einholung eines sachkundigen Rechtsrates gesehen werden, noch die erforderliche Sorgfalt um die Durchsetzung der gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber bestehenden Arbeitsentgeltansprüche. Dem Kläger müsse klar gewesen sein, dass der neue Arbeitgeber bzw. dessen Vertreter schon aufgrund ihrer Rechtsstellung nicht für die Durchsetzung seiner Entgeltansprüche vor dem 01. März 2012 zuständig gewesen sein könne. Auch wenn der Zeuge im Gutachten des Ins-Verwalters als Justiziar bezeichnet worden sei, weise ihn dies noch nicht als rechtskundige Person aus. Der Kläger dürfte von dem Gutachten des Ins-Verwalters seinerzeit keine Kenntnis gehabt haben, und der Zeuge habe – wie er eingeräumt habe - auch keine Kenntnisse im Zusammenhang mit der Beantragung von Insg. Insoweit könne weder davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich rechtzeitig um sachkundigen Rechtsrat bemüht habe, noch sei erklärlich, warum er sich mit seinen Fragen an den Personalreferenten seines neuen Arbeitgebers und nicht direkt an den Ins-Verwalter gewandt oder diesbezüglich einen Rechtsanwalt beauftragt habe. Bereits Mitte Juni 2012 habe der Zeuge F dann Kenntnis gehabt, dass die Auszahlung des Insg der Agentur für Arbeit Berlin Nord obliege. Auch hier habe der Kläger durchaus die Möglichkeit gehabt, sich noch innerhalb der Ausschlussfrist von zwei Monaten an die Agentur für Arbeit zu wenden. Eine Nachfrist gemäß § 324 Abs. 3 S. 2 SGB III könne dem Kläger daher nicht eingeräumt werden, weil er sich gerade nicht mit der hinreichenden Sorgfalt um seinen Anspruch auf InsG bemüht, sondern sich vielmehr darauf verlassen habe, Dritte - hier der neue Arbeitgeber bzw. dessen Vertreter - würden das für ihn regeln.

Die Berichterstatterin hat am 01. Dezember 2016 einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem die Sach- und Rechtslage mit dem Kläger und der Beklagtenvertreterin eingehend erörtert und der Kläger darauf hingewiesen worden ist, dass die Berufung der Beklagten erfolgreich sein dürfte. Die Beklagtenvertreterin hat Abschrift eines Urteils des SG Freiburg betreffend die Klage eines ehemaligen Berliner Mitarbeiters überreicht, von dem der Kläger ein Doppel erhalten hat.

Der in der Folge für den Kläger tätig gewordene Prozessbevollmächtigte hat ergänzend vorgetragen (Schriftsatz vom 18. Februar 2019), dass die Freiburger Kollegen in U bei einer Veranstaltung über das Procedere der Insg-Antragstellung und über ihre eigene Verantwortung für die Antragstellung bei der Beklagten in Kenntnis gesetzt worden seien. Im Gegensatz dazu hätten der Kläger sowie die wenigen anderen Berliner Mitarbeiter diese Informationsquelle nicht gehabt. Soweit im Erörterungstermin ausgeführt worden sei, dass sich der Kläger dennoch habe erkundigen müssen, sei dieser Hinweis vor dem Hintergrund der dem Kläger zugeleiteten Informationen nicht nachvollziehbar. Der Kläger habe keinen Grund gehabt, an den Auskünften des seinerzeit als Justitiar tätigen Zeugen F zu zweifeln. Dessen Auskünfte seien - jedenfalls zur Frage, dass die Unterlagen beim Arbeitsamt seien - zutreffend erteilt worden. Auch könne davon ausgegangen werden, dass in Freiburg und Offenburg die Agentur für Arbeit die Arbeitnehmer anschreibe, wenn trotz bekannter Insolvenz eines Arbeitgebers kein Antrag auf InsG eingehe. Es sei der Beklagten in Berlin möglich gewesen, die wenigen Berliner Arbeitnehmer auf die laufende Ausschlussfrist hinzuweisen, zumal die Beklagte die maßgebliche Insg-Bescheinigung während der laufenden Frist erhalten und außerdem gewusst habe, dass ein örtlich bestimmter Personenkreis keinen Antrag gestellt habe. Schließlich sei dem Kläger nicht vorzuwerfen, dass er es versäumt habe, sich beim Ins-Verwalter zu erkundigen. Der Kläger habe nicht erkennen müssen, dass das umfangreiche, mit vielen Informationen versehene Schreiben ausgerechnet hinsichtlich der Beantragung von InsG lückenhaft und unvollständig gewesen sei und deswegen Anlass zu weitergehenden Erkundigungen hätte geben müssen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. November 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, dass die Berichterstatterin anstelle des Senats gemäß § 155 Abs.3, 4 SGG mit mündlicher Verhandlung entscheiden dürfe (der Kläger durch Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 18. Februar 2019, die Beklagte mit Schreiben vom 21. März 2019), wobei beide Beteiligte dieses Einverständnis in der mündlichen Verhandlung vom 16. Mai 2019 nochmals bekräftigt haben.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Vorbringen der Beteiligten und wegen des Verfahrens wird zunächst auf die Protokolle vom 01. Dezember 2016 und vom 16. Mai 2019 verwiesen, die den Beteiligten bekannt sind, des Weiteren wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie den Inhalt der Gerichtsakten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hat in seinem Urteil vom 29. September 2015 zu Unrecht die Beklagte verurteilt, dem Kläger Insg für Februar 2012 zu gewähren, denn der Bescheid vom 10. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06. Dezember 2012 ist rechtmäßig.

Nach § 183 Abs. 1 S. 1 SGB III in der bis zum 31. März 2012 geltenden Fassung haben Arbeitnehmer Anspruch auf Insgeld, wenn sie bei

1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers,

2. Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder

3. vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben.

Ein Ins-Ereignis nach § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III liegt mit der Eröffnung des Ins-Verfahrens über das Vermögen der Paul und Co. GmbH am 01. Mai 2012 vor. Der Kläger war bis zur Auflösung am 29. Februar 2012 Arbeitnehmer der P und Co. GmbH und hatte noch einen offenen Anspruch auf Arbeitsentgelt für Februar 2012.

Der geltend gemachte Anspruch scheitert jedoch an der Versäumung der Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 S. 1 SGB III. Gemäß § 324 Abs. 1 SGB III werden Leistungen der Arbeitsförderung nur erbracht, wenn sie vor Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses beantragt worden sind, wobei die Agentur für Arbeit zur Vermeidung unbilliger Härten eine verspätete Antragstellung zulassen kann. InsG ist nach § 324 Abs. 3 S. 1 SGB III abweichend von Absatz 1 S. 1 innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Ins-Ereignis zu beantragen. Hat der Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt, die er nicht zu vertreten hat, so wird InsG geleistet, wenn der Antrag innerhalb von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses gestellt wird (§ 324 Abs. 1 SGB III). Der Arbeitnehmer hat die Versäumung der Frist zu vertreten, wenn er sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat (§ 324 Abs. 1 SGB III). Hierbei ist der Verschuldensmaßstab des § 276 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) heranzuziehen.

Im vorliegenden Fall hat der Kläger seinen Antrag auf Gewährung von Insg bei der Beklagten erst am 30. Juli 2012 und damit nach Ablauf der zweimonatigen Ausschlussfrist gestellt. Für den Beginn der Ausschlussfrist ist der Eintritt des jeweiligen Ins-Ereignisses, hier also die Eröffnung des Ins-Verfahrens am 01. Mai 2012 maßgebend. Die Ausschlussfrist endete mithin am 30. Juni 2012. Das Ins- Ereignis war dem Kläger auch spätestens durch Schreiben des Ins-Verwalters am 26. April 2012 bekannt, wenn nicht - aufgrund des ausstehenden Gehalts für Februar 2012 - bereits vor diesem Zeitpunkt.

Im Fall des Klägers liegen die Voraussetzungen für die Anwendung der Nachfrist (§ 324 Abs. 3 S. 2 SGB III) nicht vor, denn es liegt Verschulden hinsichtlich der Versäumung der Antragsfrist des § 324 Abs. 3 S. 1 SGB III jedenfalls im Sinne von Fahrlässigkeit vor. Nach dem maßgeblichen Verschuldensmaßstab des § 276 BGB ist jede Fahrlässigkeit zu vertreten. Ein gemäß § 324 Abs. 3 S. 3 SGB III zu vertretender Grund liegt bereits dann vor, wenn sich der Arbeitnehmer nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht hat.

Angesichts der langen Vorlaufzeit hatte der Kläger nach seiner Kenntnisnahme vom Ins-Ereignis genügend Zeit, sich um die Geltendmachung seines Anspruchs zu kümmern. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich die Betriebseinstellung und die Übernahme durch die Firma A GmbH bereits zuvor abgezeichnet hatte, nachdem der einzige Auftraggeber, die P & H Logistik AG, den Auftrag gekündigt hatte. Sämtliche Arbeitsverhältnisse, auch das des Klägers als Berliner Mitarbeiter, wurden zum Ende des Februar 2012 gekündigt, das Februar-Gehalt erhielt der Kläger nicht mehr. Bereits zu diesem Zeitpunkt war erhöhte Achtsamkeit erforderlich. Auch wenn der Kläger wegen der weiten Entfernung nicht zu der Mitarbeiterversammlung in U anreisen konnte, musste er damit rechnen, dass auf dieser Versammlung auch wichtige Umstände bezüglich der Beantragung von Insg, etwa die erforderliche Antragstellung durch den Arbeitnehmer, mitgeteilt würden. Hierfür spricht auch, dass die A GmbH als Betriebsübernehmerin am 02. Mai 2012 die Insg-Anträge der von ihr übernommenen Arbeitnehmer an die Beklagte übermittelte. Der Kläger hätte sich bei der Leitung der Mitarbeiterversammlung hiernach erkundigen müssen. Auch das Schreiben des Ins-Verwalters vom 26. April 2012 enthielt den Passus, man möge sich bei bestehenden Unklarheiten bei ihm melden.

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass es nicht Aufgabe der jeweils befassten Arbeitsagenturen ist, nach einem Ins-Ereignis die einzelnen Arbeitnehmer anzuschreiben und sie auf die Notwendigkeit einer individuellen Antragstellung hinzuweisen. Derartiges ergibt sich auch nicht aus der Auskunft der Agentur für Arbeit Freiburg vom 26. Juni 2013. Dort wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Agentur nicht offensiv, d.h. auf eigene Veranlassung, die Beratungsgespräche durchgeführt habe, sondern lediglich anlässlich persönlicher Vorsprachen der Arbeitnehmer.

Schließlich kann sich der Kläger auch nicht erfolgreich auf die Auskünfte des Zeugen Fichtler berufen. Zwar ist aktenkundig, dass sich der als Justitiar der die Berliner Mitarbeiter der P und Co. GmbH übernehmenden Firma, der P & H Logistik AG, telefonisch und per e-mail Kontakt am 14. Mai 2012 mit der vom Ins-Verwalter beauftragten Firma J aufgenommen hatte. Es mag auch sein, dass es bei dieser ersten Kontaktaufnahme zu einem Missverständnis dergestalt gekommen ist, dass die Firma J bei ihrer Auskunft, das Insg werde nächste Woche ausbezahlt, von einer Antragstellung des Klägers und der Berliner Mitarbeiter ausgegangen war, der Zeuge F hingegen diese Auskunft so verstanden hat, dass alles Notwendige veranlasst wäre. Möglich ist auch, dass der Zeuge unter Berücksichtigung der ihm fremden Materie des Ins-Rechts nicht wusste, dass ein persönlicher Antrag auf Insg des einzelnen Arbeitnehmers notwendig sei und daher nicht weiter nachgefragt hat. Dass die Firma J selbst einem Irrtum hinsichtlich der Notwendigkeit persönlicher Antragstellung unterlegen war, kann schon aufgrund ihrer Funktion, im Auftrag des Ins-Verwalters für die Arbeitnehmer die Insg-Bescheinigungen auszustellen, nicht angenommen werden. Dies bestätigt auch die vom SG eingeholte schriftliche Auskunft der Firma J vom 09. Juli 2013, dass für die Antragstellung jeder Arbeitnehmer selbstverantwortlich sei und die entsprechenden Anträge von den Arbeitnehmern selbst ausgefüllt werden müssten. Auch dem Kläger musste klar sein, dass sein neuer Arbeitgeber, für den der Zeuge F tätig war, nicht für die Durchsetzung seiner Entgeltansprüche vor dem 01. März 2012 zuständig war, auch wenn der Arbeitgeber einen Vorschuss geleistet hatte. Der Kläger hätte auch nachfragen müssen, warum die im Gespräch mit dem Zeugen F vom 14. Mai 2012 für die nächste Woche angekündigte Auszahlung des Insg ausblieb. Unverständlich ist, weshalb der Kläger nach der erneuten telefonischen Kontaktaufnahme mit der Firma J durch den Zeugen F Mitte Juni 2012 noch etwa sechs Wochen verstreichen ließ, bis er sich am 30. Juli 2012 schließlich selbst bei der Beklagten nach dem Sachstand erkundigte.

Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass er aufgrund der Rechtsstellung des Zeugen F als Justiziar des übernehmenden Betriebs von dessen umfassender Rechtskenntnis habe ausgehen und darauf vertrauen können, dass der Zeuge im Rahmen seiner Kontaktaufnahme "Richtung Ins-Verwalter" auch dezidiert nachfragen würde, ob Insg-Anträge der Berliner Arbeitnehmer vorlägen. Selbst wenn hier bei der ersten Kontaktaufnahme ein Informationsversäumnis seitens der Firma J vorgelegen haben oder der Zeuge F einem Irrtum über die Reichweite der Erklärung der dortigen Mitarbeiterin unterlegen sein sollte, entlastet dies den Kläger nicht vom Vorwurf der (leichten) Fahrlässigkeit. Bei Rechtsunklarheit im Zusammenhang mit der Durchsetzung seiner Ansprüche hätte der Kläger sich von fachkundiger Stelle beraten lassen müssen, entweder durch Anruf direkt bei der Arbeitsagentur, oder durch Anfrage beim Ins-Verwalter oder einem mit der Materie vertrauten Rechtsberater. Wird noch während des Laufs der Ausschlussfrist ein Vertreter mit der Wahrnehmung der Interessen beauftragt - ein derartiger verbindlicher Auftrag des Klägers ist allerdings anhand der Akten nicht feststellbar - und wäre der Kläger nicht oder unzutreffend über das Erfordernis der Antragstellung und den drohenden Fristablauf unterrichtet worden, müsste der Kläger allerdings ein Handeln, Unterlassen oder auch einen Rechtsirrtum des Beauftragten, der zur Fristversäumnis führt, sich als Verschulden des von ihm beauftragten Vertreters zurechnen lassen (§ 27 Abs. 1 S. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), § 85 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 202 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 18. September1990, 10 Rar 14/89, juris). Dies gilt unbeschadet eines ev. Schadenersatzanspruches wegen möglicherweise falscher Auskünfte, für dessen Durchsetzung das Sozialgericht aber nicht zuständig ist.

Hiernach ist davon auszugehen, dass der Kläger seinen Antrag auf Insg nicht rechtzeitig gestellt hat und ihm eine Nachfrist wegen Verschuldens nicht gewährt werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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