S 17 KA 476/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
17
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 476/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Bei der Bestimmung von Praxisbesonderheiten können im Rahmen des Schätzungsermessens Prävalenzwerte als Orientierungswert für die Quantifizierung der Praxisbesonderheit herangezogen werden. Eine rein statistische Betrachtung ist jedoch aufgrund der Unschärfe der Prävalenzwerte nicht geboten.

2. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist der Bezug allein auf Abrechnungsdiagnosen und Ausschluss jeden weiteren Tatsachenvortrages im Verfahren vor den Prüfgremien beurteilungsfehlerhaft (Anschluss an SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18).
1. Der Bescheid des Beklagten vom 7.6.2017 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

2. Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über Honorarkürzungen in Höhe von 21.432,40EUR netto für die Quartale I/2012-IV/2012 wegen eines offensichtlichen Missverhältnisses im Vergleich zur Fachgruppe im Bereich der Gebührenordnungsposition (GOP) 35110 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) (verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) im Rahmen einer Prüfung nach § 10 Abs. 2 der Prüfvereinbarung (Prüfung der Behandlungsweise nach Durchschnittswerten).

Die Klägerin ist seit dem 1. April 1998 als Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Praxissitz in A-Stadt niedergelassen und nimmt an der hausärztlichen Versorgung teil.

Mit Schreiben vom 30. Januar 2015 informierte die Prüfungsstelle (PS) die Klägerin über die von Amts wegen durchgeführte Überprüfung der Wirtschaftlichkeit. Die Klägerin trug daraufhin umfangreich vor, wobei sie insbesondere darauf hinwies, dass der besondere Schwerpunkt ihrer Praxis auf der psychosomatischen Medizin liege. Über Jahre hinweg habe sich eine besondere Patientenstruktur herausgebildet. Sie versorge besonders viele junge Menschen, insbesondere Schüler und Studenten mit psychosomatischen Krankheitsbildern. Die Lebenssituation von Studierenden mit den typischen Problemschwerpunkten (z.B. Identitätskrisen, Selbstwertzweifel, Ängste, Depressionen, Arbeitsstörungen und Prüfungsstress) seien häufig Auslöser für verschiedene psychosomatische Erkrankungen. Bei ausländischen Studenten kämen noch traumatische Erlebnisse infolge von Krieg und Flucht sowie Integrationsprobleme oder Heimweh hinzu. Aufgrund jahrelanger Zusammenarbeit mit der Aidshilfe in A-Stadt gehörten auch überproportional viele Angehörige sexueller Minderheiten zu ihrem Klientel. Homosexuelle Männer hätten im Vergleich zur Normalbevölkerung ein vierfach höheres Risiko für einen Suizidversuch, lesbische Frauen erkrankten viermal häufiger an einer Alkoholabhängigkeit. Ebenfalls eine große Patientengruppe bildeten die zahlreichen Opfer sexuellen Missbrauchs. Dieser Personenkreis leide überdurchschnittlich häufig an Angsterkrankungen, depressiven Störungen, sexuellen Störungen, Essstörungen und Suchterkrankungen. Sie sei hier häufig die erste Anlaufstation. Die Klägerin fügte zwei Stellungnahmen von Kolleg*innen bei. Prof. Dr. D., Leiter der Psychotherapie-Ambulanz der Philipps-Universität Marburg bescheinigte in einer Stellungnahme vom 19. Februar 2013 der Klägerin, dass diese Leistungen bei psychosomatischen Beschwerden in herausragender Qualität anbiete. Diese Patientengruppe erhalte eine hoch-kompetente und verständnisvolle Behandlung. Aus seiner Sicht habe die Klägerin in den letzten Jahren für Patienten mit psychosomatischen Beschwerden eine herausragende Versorgungsfunktion in der Region eingenommen. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E. attestierte der Klägerin mit Schreiben vom 22. Februar 2013, dass die Klägerin ihre Liste der Überweiser mit großem Abstand angeführt habe. Die Praxis der Klägerin sei auf jeden Fall als eine psychosomatische Schwerpunktpraxis zu betrachten.

Die Prüfungsstelle führte bezüglich der GOP 35110 EBM für das Quartal I/2012 eine Prävalenzprüfung durch, aus der sich anhand der dokumentierten Erkrankungen aus dem Bereich der psychischen Störungen und der Verhaltensstörungen nach Maßgabe bestimmter ICD-10 Verschlüsselungen (F32-F98) eine Mehrversorgung gegenüber der Fachgruppe von +104% errechnete.

Mit Bescheid vom 20. Juli 2015 stellte die Prüfungsstelle die folgenden Auffälligkeiten fest:

Quartal GO-NR. Anz.-GO-NR. je 100-Fälle-Praxis Durch. je Fall-Praxis Anz.-GO-NR. je 100-Fälle ausf. Praxen Durch. Je Fall ausf. Praxen-PG Abw. in %
2012/1 35110 55 8,30 10 1,47 464,63
2012/2 35110 57 8,59 10 1,43 500,70
2012/3 35110 69 10,41 10 1,46 613,01
2012/4 35110 58 8,80 10 1,45 506,90

Bei der Leistungen der GOP 35110 EBM handele es sich um eine fachgruppentypische Leistung. Es bestehe ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zur Fachgruppe, was einem Anscheinsbeweis für ein unwirtschaftliches Verhalten entspreche. Der Vergleich sei mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) vorgenommen worden. Aus der Prävalenzprüfung ergebe sich eine Praxisbesonderheit, die mit +110% gegenüber dem Fachgruppendurchschnitt bewertet werde. Die verbleibende Überschreitung sei nicht erklärbar. Sie habe nach weiteren Diagnosen recherchiert, die psychosomatische Grundversorgung rechtfertigen würden, wie Krebserkrankungen oder Schmerzpatienten. Unter den 20 in der Praxis der Klägerin am häufigsten gestellten Diagnosen kämen diese nicht vor. Im Rahmen der Ermessensausübung werde dennoch zusätzlich zum Fachgruppendurchschnitt ein weiteres Plus von 100% über die anerkannte Praxisbesonderheit hinaus belassen.

Gegen diesen Bescheid richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 19. August 2015. Die Prüfmethode nach Durchschnittswerten sei unzureichend. Es sei nicht erkennbar, inwieweit berücksichtigt worden sei, dass nur von einem Teil der Fachgruppe die GOP 35110 EBM überhaupt erbracht werde. Zudem werde unberücksichtigt gelassen, dass der Gesamtfallwert der Klägerin deutlich unter dem Durchschnitt (bis zu -12%) liege. Der Vorsitzende des Beschwerdeausschusses habe im Rahmen der Anhörung der Klägerin im Verfahren betreffend die Quartale I/09 bis IV/10 in der Sitzung vom 21. Mai 2014 zudem den Hinweis erteilt, "dass in Bezug auf die Praxis die gewählte Prüfmethode (Durchschnittswerte bei einer Abrechnungsziffer) bei dem hier vorhandenen Klientel möglicherweise nicht ausreichend sein dürfte." Der rein statistische Vergleich einer einzelnen Ziffer sei unangemessen. Auch der Vergleich der Spartenwerte begründe eine Atypik der klägerischen Praxis:

I/2012 II/2012 III/2012 IV/2012
LG 1 - 19 % - 12 % - 9 % - 13 %
LG 2 - 94 % - 94 % - 97 % - 81 %
LG 3 - 59 % + 4 % + 32 % - 81 %
LG 4 - 67 % - 91 % - 80 % - 89 %
LG 8 + 128 % + 103 % + 166 % + 124 %
LG 9 - 88 % - 91 % Ohne Angabe Ohne Angabe
LG 13 - 87 % - 8 % - 89 % - 82 %
Summe - 12 % - 18 % 0 - 6 %

Insgesamt blieben diese Werte so erheblich hinter den Ergebnissen der Vergleichsgruppe zurück, dass von einem unwirtschaftlichen Behandlungsverhalten von vornherein keine Rede sein könne. Darüber hinaus komme in Betracht, die Überschreitungen bei der GOP 35110 EBM mit den Unterschreitungen bei der – gleichwertigen – GOP 35100 EBM zu kompensieren. Im Bereich der 10 häufigsten ICD-Verschlüsselungen ergebe sich ein Zahlenverhältnis von 46,58% in ihrer Praxis zu 13,97% in der Fachgruppe. In diesem Verhältnis hätten Praxisbesonderheiten zuerkannt werden müssen. Zu Unrecht seien auch keine kompensatorischen Einsparungen berücksichtigt worden. Die mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung verbundene Honorarkürzung würde im Ergebnis dazu führen, dass das Gesamthonorar auf -11% bis -19,5% gegenüber der Fachgruppe sinke. Schließlich bestehe ein Vorrang der sachlich-rechnerischen Berichtigung. Der Vorwurf, dass die Leistungslegende nicht erfüllt sei, sei im Wege der sachlich-rechnerischen Richtigstellung zu korrigieren.

Im Termin des Beklagten am 18. Januar 2017 erschien die Klägerin nicht.

Der Beklagte wies sodann den Widerspruch der Klägerin mit Beschluss vom 7. Juni 2017 zurück. Der Vergleich sei nur mit den Praxen der Vergleichsgruppe erfolgt, die die GOP 35110 EBM auch tatsächlich abrechneten. Er gehe nach einer orientierenden Durchsicht und Bewertung eines Teils der Behandlungsunterlagen davon aus, dass bzgl. der Häufung von abgerechneten Leistungen bei psychosomatischen Krankheitszuständen sich deren Notwendigkeit oftmals nicht aus den Behandlungsunterlagen ergebe. Es sei zudem unstimmig, dass bei einem psychosomatisch orientierten Praxisschwerpunkt die Diagnostikziffer der GOP 35100 EBM so weit unterdurchschnittlich abgerechnet würde. Der Gesamtfallwert sei mit max. -12% als nur leicht unterdurchschnittlich einzustufen. Kompensatorische Einsparungen seien nicht substantiiert dargelegt worden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die am 10. Juli 2017 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage, zu deren Begründung die Klägerin im Wesentlichen ihren umfangreichen Vortrag aus dem vorangegangenen Verwaltungsverfahren vertieft. Ergänzend führt sie aus, dass auch bei den Arzneimittelverordnungen (-19%, -32%, -14%, -15%) und physikalisch-therapeutischen Leistungen (-51%, -58%, -71%, -51%) erhebliche Abweichungen gegenüber der Fachgruppe bestünden. Das Minderhonorar gegenüber dem Fachgruppendurchschnitt liege bei ca. 20.000EUR/Quartal. Es sei nicht sachlich gerechtfertigt, die GOP 35110 und 35100 EBM getrennt voneinander zu betrachten, da in der Psychotherapie Diagnostik und Therapie derart miteinander verwoben seien, dass eine Trennung künstlich erscheine. Es sei insgesamt auf die Wirtschaftlichkeit in der Sparte psychosomatische Grundversorgung abzustellen. Für die Jahre 2009 und 2010 sei ein Vergleich abgeschlossen worden, der im Rahmen einer repräsentativen Einzelfallprüfung die Praxisbesonderheiten bei 300-400% angesetzt habe. Praxisbesonderheiten schlügen sich gerade nicht 1:1 in Prävalenzen nieder.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 7.6.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er verweist auf die Gründe des Widerspruchsbescheides und ergänzt seinen Vortrag dahingehend, dass Ergebnisse, die die Prüfgremien für vorangegangene Zeiträume gefunden hätten, nicht Entscheidungen für die Zukunft präjudizierten. Der Beklagte sei seiner Verpflichtung zur intellektuellen Prüfung nachgekommen, indem gründlich die Behandlungsunterlagen durchgesehen worden seien. Es handele sich bei der GOP 35110 EBM um eine fachgruppentypische Leistung, die von ca. 69% der Fachärzte für Allgemeinmedizin in ca. 10% der Behandlungsfälle abgerechnet worden sei. Die Klägerin habe ihren Vortrag zu einem besonderen Patientenklientel nicht hinreichend substantiiert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Beklagten, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer hat in der Besetzung mit einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Sie konnte dies trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen worden sind.

Die Klage ist zulässig.

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Beschluss des Beklagten, nicht auch der der PS. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.

Die Klage ist auch begründet.

Der Beschluss des Beklagten vom 7. Juni 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Im System der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt – Vertragsarzt – die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (§ 12 Abs. 1 SGB V) nicht erbringen.

Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung gemäß § 106 Abs. 3 SGB V, gültig ab 1. Januar 2008 (PV).

Der Beklagte hat vorliegend – entgegen der Auffassung der Klägerin – im Rahmen seiner Zuständigkeit auch eine Wirtschaftlichkeitsprüfung und keine Abrechnungsprüfung durchgeführt.

Die durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) durchzuführende Abrechnungsprüfung beziehungsweise sachlich rechnerische Richtigstellung ist auf die Übereinstimmung der vertragsärztlichen Abrechnung mit dem Regelwerk des EBM und der Honorarverteilungsregelungen sowie auf die Korrektheit der Abrechnung bezogen auf die Leistungserbringung und ihrer Zuordnung zu den Leistungspositionen des EBM gerichtet. Ein Unterfall der Abrechnungsprüfung ist auch die fehlende ICD Kodierung. Die Abrechnungsprüfung unterscheidet sich von der Wirtschaftlichkeitsprüfung, die für korrekt erbrachte und zugeordnete Leistungen deren medizinische Notwendigkeit und Effizienz auch im Verhältnis zu alternativen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden prüft (Hess: in Kasseler Kommentar, 80. EL 2013 § 106a, Rn. 4). Die Wirtschaftlichkeitsprüfung beinhaltet die Prüfung, ob die abgerechneten Leistungen ausreichend, zweckmäßig, für die Erzielung des Heilerfolgs notwendig und wirtschaftlich waren und ob das Maß des Notwendigen überschritten wird (Hess: in Kasseler Kommentar 101. EL 2018 § 106, Rn. 3). Regelmäßig ist die sachlich-rechnerische Richtigstellung durch die KVen vorrangig. Denn eine Honorarforderung eines Arztes kann nur dann sinnvoller Weise auf ihre Wirtschaftlichkeit geprüft werden, wenn sie sachlich-rechnerisch richtig und rechtmäßig ist. Honorarforderungen für fehlerhaft erbrachte Leistungen unterfallen nicht der Wirtschaftlichkeitsprüfung (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 6. September 2006, B 6 KA 40/05 R). Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind die Prüfgremien, die Prüfungsstelle und dann der Beklagte zuständig. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung erkennt das BSG eine so genannte Annexkompetenz der Prüfgremien zur Durchführung von sachlich-rechnerischen Honorarberichtigungen an. Diese ist nach der Rechtsprechung aber nur dann gegeben, wenn sich die Notwendigkeit der sachlich-rechnerischen Richtigstellung im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nachträglich ergibt und der Frage der Berechnungsfähigkeit einer Leistung im Verhältnis zur Wirtschaftlichkeit keine so überragende Bedeutung zukommt, dass eine Abgabe an die KV geboten wäre (vgl. BSG, Urteil vom 27. April 2005, B 6 KA 39/04 R). Wenn der Schwerpunkt der Beanstandungen bei einer fehlerhaften Anwendung der Gebührenordnung liegt, müssten die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung das Prüfverfahren abschließen und der KV Gelegenheit geben, eine sachlich-rechnerische Richtigstellung durchzuführen (BSG, Urteil vom 6. September 2006, B 6 KA 40/05 R). Die Prüfungseinrichtungen müssen im Umkehrschluss bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung davon ausgehen, dass der Vertrags(zahn)arzt die abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht hat, und diese Leistungen ihrer Beurteilung zugrunde legen (vgl. BSG, Urt. v. 28. Oktober 1992 - 6 RKa 3/92). Eine sachlich-rechnerische Berichtigung der Honorarabrechnung hat der Wirtschaftlichkeitsprüfung nur dann zwingend vorauszugehen, wenn es sich um Abrechnungsunrichtigkeiten handelt, die offenkundig und aus den Behandlungsunterlagen ohne weiteres zu ersehen sind. Eine scharfe Trennung zwischen Wirtschaftlichkeitsprüfung und Abrechnungskontrolle ist weder praktisch durchführbar noch rechtlich geboten (vgl. BSG, Urt. v. 9. März 1994, 6 RKa 18/92; so auch SG Marburg, Urteil vom 27. März 2019, S 17 KA 71/18). Im Einzelfall können sich daher Überlappungen bzw. konkurrierende Zuständigkeiten der Prüfgremien und der KV ergeben, je nachdem, ob aus der fehlenden oder unzureichenden Dokumentation auf den fehlenden Nachweis der Leistungserbringung oder auf die Unwirtschaftlichkeit geschlossen wird. Dies gilt auch für Qualitätsmängel der Leistung, die jedenfalls auch zur sachlich-rechnerischen Berichtigung berechtigen (vgl. Clemens in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 106d SGB V, Rdnr. 169 ff.). Im Rückgriff auf die genannte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Grenze der Prüfgremien für die Annahme einer vollständigen Leistungserbringung in den Fällen zu ziehen, in denen es sich um offenkundige, aus den Behandlungsunterlagen ohne weiteres zu ersehende Abrechnungsunrichtigkeiten handelt, die keines vertiefenden Prüfaufwands bedürfen. In diesen Fällen ist eine ausschließliche Zuständigkeit der KV gegeben, soweit sich die Prüfgremien nicht auf eine Randzuständigkeit (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 18. August 2010, B 6 KA 14/09 R) berufen können.

Diese Vorgaben beachtet, hat der Beklagte eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchgeführt, da er die Honorarkürzung auf die, seiner Ansicht nach fehlende Indikation nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie in der Fassung vom 19. Februar 2009 (PT-RL) stützt. Insoweit ist auch in der Rechtsprechung zur Wirtschaftlichkeitsprüfung in der zahnärztlichen Versorgung anerkannt, dass die Prüfung der Übereinstimmung der Leistungen mit den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) der Wirtschaftlichkeitsprüfung unterliegt (vgl. Hess: in Kasseler Kommentar, 80. EL 2013 § 106, Rn. 5f, LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 31. August 2011, L 7 KA 157/07). Dies gilt auch für die Prüfung der Voraussetzungen der PT-RL (SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18).

Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt, hier § 10 PV (Auffälligkeitsprüfung). Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt.

Vorliegend hat der Beklagte die Klägerin ausweislich des streitgegenständlichen Beschlusses mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) vorgenommen worden, soweit diese die GOP 35110 EBM auch tatsächlich abrechneten. Dies ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden.

Auch bestand keine vorrangige Beratungspflicht (vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 2010, B 6 KA 37/08 R).

Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02). Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (BSG, Urteil vom 15. März 1995, 6 RKa 37/93). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es – unter bestimmten Voraussetzungen – auch niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen.

Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte den Vergleichsgruppendurchschnitt als Bezugswert ansetzt. Diese Bezugswerte hat die Klägerin in den streitgegenständlichen Quartalen jeweils um mehrere hundert Prozent überschritten, so dass der Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit rein statistisch geführt ist.

Das BSG stellt jedoch in ständiger Rechtsprechung klar, dass die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine sog. intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muss, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten lässt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Missverhältnisses und damit den Schluss auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.

Denn auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der statistischen Aussagen wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsweise oder der Angaben des Arztes erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen lässt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Missverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Die Wirtschaftlichkeit einzelner Leistungen darf also nicht losgelöst von der Gesamttätigkeit und den Gesamtfallkosten des Vertragsarztes beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02 R).

Nach diesen Maßstäben hat die Klägerin bereits im Verwaltungsverfahren hinreichende Anhaltspunkte vorgetragen, die den Beklagten dazu hätten veranlassen müssen, das Ergebnis seiner rein statistischen Betrachtung zu hinterfragen. Es bestehen erhebliche Indizien dafür, dass die rein statistische Betrachtung im vorliegenden Einzelfall keine valide Aussage über die Wirtschaftlichkeit des Abrechnungsverhaltens der Klägerin trifft. Diese Indizien sind:

- Die Klägerin hat Stellungnahmen von zwei ausgewiesenen Fachkollegen vorgelegt, die die Besonderheit der Praxis der Klägerin in der psychosomatischen Grundversorgung aus persönlicher Anschauung und der Zusammenarbeit mit der Klägerin bestätigen.
- Die Klägerin hat ausführlich ihr besonderes Patientenklientel beschrieben.
- Das Abrechnungsverhalten der Klägerin weist erhebliche Unterschreitungen in allen anderen Leistungsgruppen und bei den Arznei- und Heilmittelkosten auf und eine erhebliche Überschreitung in der Leistungsgruppe 8, zu der auch die GOP 35110 EBM gehört.
- Der Gesamtfallwert und das Gesamthonorar der Klägerin sind bei durchschnittlicher Fallzahl deutlich unterdurchschnittlich.
- Die Einzelfallbetrachtung in den Jahren 2009 und 2010 hat einen deutlich höheren Anteil für die Praxisbesonderheit ergeben.

Der Beklagte hat zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass Ergebnisse für vorausgegangene Quartale keine Entscheidungen der Prüfgremien für die Zukunft präjudizieren. In der Gesamtschau der o.g. Indizien hätten die hinsichtlich vorausgegangener Quartale gewonnenen Erkenntnisse – zumal bei einer Einzelfallprüfung – jedoch den Beklagten zumindest dahingehend sensibilisieren müssen, dass es Anhaltspunkte dafür geben könnte, dass die Praxis der Klägerin tatsächlich Besonderheiten aufweist. Diese Erkenntnisse hätten jedenfalls hinreichenden Anlass für eine fundierte "intellektuelle Betrachtung" und Analyse des Abrechnungsverhaltens geboten, die vorliegend unterblieb und im Rahmen der Neubescheidung nachzuholen ist. Der Beklagte hat in seinem Beschluss vom 7. Juni 2017 dargelegt, dass er einen Teil der Behandlungsunterlagen orientierend durchgesehen und bewertet habe. Diese Feststellung lässt sich mit dem übrigen Akteninhalt nicht in Einklang bringen. In der Verwaltungsakte befinden sich weder Behandlungsscheine noch sonstige Patientendokumentationen. Auch aus dem Sitzungsprotokoll über den Termin des Beklagten am 18. Januar 2017 ergibt sich nicht, dass dort eine Sichtung von Patientenunterlagen erfolgt ist. Insofern geht die Kammer davon aus, dass der Beklagte sich im vorliegenden Verfahren nicht die Mühe gemacht hat, dem klägerischen Vortrag auch nur ansatzweise nachzugehen. Entgegen dem Vortrag des Beklagten gibt es nach dem Akteninhalt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er eine intellektuelle Prüfung durchgeführt hat, indem er gründlich die Behandlungsunterlagen durchgesehen hätte. Der Vortrag des Beklagten ist auch nicht in Einklang zu bringen mit den Feststellungen der Prüfungsstelle, die in ihrem Bescheid feststellte, dass bei einer orientierenden Durchsicht von 50 Behandlungsscheinen bei fast jedem Patienten eine Diagnose aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen festzustellen gewesen sei, was den Bedarf an psychosomatischer Versorgung begründe.

Der Beklagte hat zutreffend eine Praxisbesonderheit der Klägerin anerkannt.

Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, 6 RKa 35/94). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patienten und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (BSG, Urteil vom 23. Februar 2005, B 6 KA 79/03 R). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R). Es muss sich um Besonderheiten bei der Patientenversorgung handeln, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patientenschaft des geprüften Arztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Ein Tätigkeitsschwerpunkt allein stellt nicht schon eine Praxisbesonderheit dar (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Bescheid hinsichtlich des "Ob" der Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht zu beanstanden.

Die Kammer beanstandet hingegen den streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten insoweit, als der Beklagte das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Praxisbesonderheit nicht in hinreichend präziser Weise ausgeübt hat.

Grundsätzlich ist dem Beklagten einzuräumen, hinsichtlich des durch Besonderheiten erhöhten Abrechnungsvolumens den verursachten Mehraufwand zu schätzen (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R). Bei dieser Schätzung und Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen hat der Beklagte einen weiten Beurteilungsspielraum, der eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes ermöglicht (BSG, Urteil vom 2. November 2005, B 6 KA 53/04 R). Auch eine Schätzung muss jedoch die vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten zur Quantifizierung der Praxisbesonderheit nutzen.

Der Beklagte geht zwar vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der von der Prüfungsstelle im Rahmen der Prävalenzprüfung festgestellten Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen beim Patientenklientel der Klägerin aus, unterlässt sodann jedoch im Rahmen der Schätzung eine quartalsweise Betrachtung. Vielmehr schließt er von den ermittelten Prävalenzwerten für das erste Quartal des Jahres auf die übrigen drei Quartale des Jahres. Dies widerspricht der im Vertragsarztrecht elementaren quartalsweisen Betrachtung. Es ist allgemein bekannt, dass die Quartalsabrechnungen eines Vertragsarztes sowohl hinsichtlich der Patientenzahl als auch des Leistungsverhaltens Schwankungen unterliegen. Insoweit ist auch im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung eine quartalsweise Betrachtung notwendig, die der Beklagte im Rahmen der Neubescheidung vorlegen muss.

Grundsätzlich hält die Kammer die Vorgehensweise des Beklagten, Prävalenzen zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf die Quantität der Praxisbesonderheit zu ziehen für sehr geeignet, um Praxisbesonderheiten festzustellen. Dies ist jedoch – worauf die Klägerin völlig zu Recht hinweist – nicht 1:1 möglich. Soweit der Beklagte die Praxisbesonderheit ausschließlich in Bezug auf eine im Rahmen der Prävalenzprüfung ermittelte Diagnosehäufung bei der GOP 35110 EBM stützt, ist dies zur Überzeugung der Kammer zu beanstanden.

Die Kammer hat bereits entschieden, dass der im Rahmen der Prävalenzprüfung ermittelte diagnosebasierte Mehrversorgungsanteil einen Orientierungswert für das zuzugestehende Abrechnungsvolumen im Hinblick auf die GOP 35100 und 35110 EBM bietet (vgl. Urteil vom 17. Dezember 2018 – S 17 KA 223/17). Dieser Orientierungswert ist der Berechnung der Praxisbesonderheit zugrunde zu legen.

Soweit die Kammer darüber hinaus bereits entschieden hat, dass bei der Bemessung der Höhe der Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist – richtet, so wird diese Feststellung nach den Erkenntnissen in einem am selben Tag entschiedenen Parallelverfahren (zum Aktenzeichen S 17 KA 346/15) wie folgt präzisiert:

Die Prävalenzen werden nach der Häufigkeit der Diagnoseerfassung ermittelt. Da alle Diagnosen erfasst werden, fließen Patienten mehrfach in die Bewertung ein, bei denen mehrere der relevanten Diagnosen parallel kodiert wurden. Nicht berücksichtigt wird hingegen die Anzahl der pro Diagnose abgerechneten GOP. Dies führt dazu, dass die Prävalenzwerte in zwei Richtungen eine Unschärfe aufweisen. Einerseits werden Patienten mit einer Diagnosehäufung (von zwei und mehr F-Diagnosen) mehrfach erfasst. Andererseits werden Mehrfachabrechnungen der Ziffer – bei nur einer Diagnose – nicht erfasst. Es ist davon auszugehen, dass diese Streubreite grundsätzlich in der gesamten Vergleichsgruppe vertreten ist, wobei jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass gerade in Praxen mit psychosomatischem Schwerpunkt – aufgrund der Schwere der dort behandelten Erkrankungen eine überdurchschnittliche Häufung der Abrechnungsziffern auftritt, die bei der Prävalenzermittlung nicht berücksichtigt ist. Insofern hält die Kammer an der Auffassung fest, dass der Wert der Prävalenzen ein bedeutender Orientierungswert für das Ausmaß einer Praxisbesonderheit ist, keinesfalls aber für die betroffenen Kläger*innen der Weg verschlossen ist, darüber hinausgehend eine überdurchschnittliche Abrechnungshäufigkeit zu belegen. Denn soweit der Beklagte allein prüft, ob eine von ihm für zutreffend erachtete Abrechnungsdiagnose angegeben wurde und weder den Vortrag der Ärztin im Rahmen des Anhörungsverfahrens beachtet noch Patientendokumentationen anfordert und prüft, verstößt er gegen den Amtsermittlungsgrundsatz nach § 20 SGB X. Darüber hinaus würde die Ansicht des Beklagten, dass allein die vom Arzt in der Honorarabrechnung angegebenen Abrechnungsdiagnosen ausschlaggebend sein sollen, zu einer Präklusion jeden weiteren Tatsachenvortrages sogar schon vor Beginn des Verwaltungsverfahrens führen. Diese ist aber im Verfahren der Wirtschaftlichkeit nicht vorgesehen und es fehlt auch einer Rechtsvorschrift, aus der diese hergeleitet werden könnte. (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18).

Die PS stellt vorliegend fest, dass im Quartal I/2012 die GOP 35110 EBM bei 352 Patient*innen 701-mal angesetzt worden. Dies ergibt einen durchschnittlichen Ansatz von 2x/Patient*in im Quartal. Im Rahmen der Neubescheidung sollte der Beklagte diese durchschnittliche Ansatzhäufigkeit auch für die übrigen Quartale ermitteln und diese sodann ins Verhältnis setzen zur durchschnittlichen Ansatzhäufigkeit in der Vergleichsgruppe. Da die GOP 35110 EBM in der Vergleichsgruppe der Klägerin ausweislich der Frequenzstatistik eine deutlich geringere Bedeutung hat, als in der klägerischen Praxis, hält es die Kammer für naheliegend, dass die Ansatzhäufigkeit/Patient*in/Quartal im Vergleichsgruppendurchschnitt deutlich geringer sein dürfte. Die Kammer geht deshalb davon aus, dass nach dieser Betrachtung der im Rahmen der Prävalenzprüfung gewonnene Orientierungswert – und damit auch das Ausmaß der anzuerkennenden Praxisbesonderheit – auch bei einer statistischen Betrachtung weiter nach oben zu verschieben ist.

Grundsätzlich fehlt es zudem an einer Vorschrift, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen GOP 35110 EBM vorsieht und deshalb den Ausschluss weiteren Tatsachenvortrages im Ansatz rechtfertigen könnte. Aus den EBM Ziffern ergibt sich keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose, es sind auch keine bestimmten Diagnosen aufgezählt, die Voraussetzung für die Leistungserbringung wären. Die GOP 35110 EBM sieht allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor.

Die PT-RL lautet in § 22 Abs. 1 wie folgt:

"(1) Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der Psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:

1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie;
2. Angststörungen und Zwangsstörungen;
3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen);
4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen;
5. Essstörungen;
6. Nichtorganische Schlafstörungen;
7. Sexuelle Funktionsstörungen;
8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen;
9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend."

Die hier streitige Leistung der GOP 35110 ist im Kapitel 35 EBM genannt, das überschrieben ist mit: Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien). Sie fallen also unter die PT-RL und sind daher nur bei Vorliegen der in § 22 Abs. 1 PT-RL genannten Indikationen wirtschaftlich. Jedoch folgt daraus nicht, dass diese Indikationen nur dann gegeben sind, wenn sie als F-Diagnosen in der Abrechnung benannt sind. Vielmehr ist insoweit die Patientendokumentation des Arztes zu prüfen. Die PT-RL selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Diagnosen als Abrechnungsdiagnosen anzugeben sind, vielmehr ist eine entsprechende Patientendokumentation in den Unterlagen des Vertragsarztes vorgesehen, die dann auch vom Beklagten zu prüfen ist (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18). Die PS hat vorliegend im Ausgangsbescheid zudem selber dargelegt, dass es denkbar ist, dass die GOP 35110 EBM auch bei anderen Diagnosen, z.B. Krebserkrankungen oder Schmerzpatienten angesetzt werde und dies auch geprüft. Allein diese Feststellung untermauert die Tatsache, dass eine rein statistische Betrachtung nach Prävalenzen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht ausreichend ist, sofern Anhaltspunkte für eine Besonderheit bestehen.

Jedoch können den Prüfgremien insoweit keine Ermittlungen ins Blaue hinein zugemutet werden, sondern es obliegt dem Vertragsarzt, die Behandlungsfälle, bei denen keine F-Diagnose angesetzt wurde und dennoch Anlass für eine psychosomatische Grundversorgung bestand, substantiiert darzulegen.

Es steht der Klägerin frei, dies im Rahmen des neuen Verwaltungsverfahrens nachzuholen.

Nach alledem musste die Klage Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Buchst. a SGG i.V.m. § 154 VwGO.
Rechtskraft
Aus
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