L 1 U 3225/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 15 U 4353/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 3225/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Eine progressive systemische Sklerodermie (PSS) bei einer Zahntechnikerin kann nicht als Quasi-Berufskrankheit anerkannt werden.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22. Juli 2003 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob eine progressive systemische Sklerodermie (PSS) als Folge einer Berufskrankheit (BK) anzuerkennen ist.

Die am 1959 geborene Klägerin war von August 1977 bis November 1996 als Zahntechnikerin beschäftigt; seitdem ist sie arbeitsunfähig krank. Im September 1994 stellte sie sich beim Arzt für Allgemeinmedizin Dr. E., P., vor, der aufgrund der geschilderten Beschwerden eine Laboruntersuchung veranlasste, die erstmals den Verdacht auf das Vorliegen einer PSS ergab; spätestens seit 1996 ist die Diagnose einer PSS gesichert. Aufgrund der Angaben der Klägerin ist allerdings davon auszugehen, dass sich die ersten Symptome dieser Krankheit bereits 1992 gezeigt haben. Seit 15.11.1996 steht die Klägerin unter regelmäßiger Kontrolle in der Sklerodermie-Spezialambulanz von Prof. Dr. L., M ...

Am 05.11.1998 erstattete Dr. K., Oberarzt am Rotkreuz-Krankenhaus in M., in dem sich die Klägerin wiederholt in stationärer Behandlung befand, bei der Beklagten eine Ärztliche Anzeige über eine BK. In dem daraufhin eingeleiteten Feststellungsverfahren ließ die Beklagte die Klägerin durch Dr. E., Chefarzt an der Klinik L., untersuchen und begutachten. Der Gutachter diagnostizierte in seinem Gutachten vom 21.01.2000 eine PSS mit fibrosierender Alveolitis sowie eine atope Konstitution (Ekzem, IgE-Erhöhung) und empfahl die PSS analog einer BK nach der Nr. 4101 (Quarzstaublungenerkrankung (Silikose)) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) anzuerkennen, wenn nachgewiesen werden könne, dass die Klägerin am Arbeitsplatz einer Staubbelastung mit einem Anteil an kristallinen Silikaten von mehr als 10% ausgesetzt gewesen ist. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde auf weniger als 20 vH eingeschätzt, weil die Volumenwerte nur gering vermindert waren und röntgenologisch kein Nachweis einer Lungenbeherdung erbracht werden konnte. Die Beklagte beauftragte anschließend ihre Präventionsabteilung mit der Durchführung von Messungen am früheren Arbeitsplatz der Klägerin. Bei den am 21.10.2000 durchgeführten Gefahrstoffmessungen konnte Feinstaub mit einem Anteil von 1,33% des Grenzwertes festgestellt werden, die anderen Stoffen wie Cristobalit und Quarz konnten in der Luft nicht nachgewiesen werden. Dr. E. räumte daraufhin in einer ergänzenden Stellungnahme vom 15.01.2001 ein, dass damit die Annahme der von ihm in seinem Gutachten unterstellten haftungsbegründenden Kausalität entfällt.

Mit Bescheid vom 09.05.2001 und Widerspruchsbescheid vom 23.11.2001 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK bei der Klägerin ab. Eine Lungenfibrose sei als BK nach der Nr. 4101 anzuerkennen, wenn es sich dabei um eine Silikose handelt und diese durch Quarzstaub verursacht worden sei. Eine Silikose sei aber nicht festgestellt worden. Die Sklerodermie sei nicht in der Liste der BK aufgeführt. Es handele sich dabei um eine Autoimmunerkrankung, deren Ursache bis heute unbekannt sei. Die Krankheit könne auch nicht wie eine BK anerkannt werden, weil keine medizinischen Erkenntnisse vorlägen, die einen Zusammenhang zwischen Quarzstaubexposition und Sklerodermie belegten.

Am 07.12.2001 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Auf Anfrage des SG hat das Bundesministerium für Gesundheit und Sozialordnung (BMG) mit Schreiben vom 20.02.2003 mitgeteilt, die PSS infolge Exposition gegenüber Quarzstaub sei in der geltenden Liste der BK nicht enthalten. Der das BMG beratende ärztliche Sachverständigenbeirat - Sektion "Berufskrankheiten" habe diese Fragestellung eingehend geprüft. Die Beratungen seien im Jahr 1999 mit dem Ergebnis abgeschlossen worden, dass für einen Ursachenzusammenhang zwischen Quarzstaub und dem Auftreten von PSS nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft keine hinreichenden Erkenntnisse im Sinne des § 9 SGB VII vorliegen. Seitdem habe sich der Verordnungsgeber nicht mehr mit der Fragestellung befasst. Mit Urteil vom 22.07.2003 hat des SG die Klage abgewiesen. Die für die Klägerin bestimmte Ausfertigung des Urteils ist ihrem Prozessbevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis am 01.08.2003 zugestellt worden.

Am 15.08.2003 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass die PSS als BK oder wie eine BK anzuerkennen und zu entschädigen ist.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22. Juli 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 09. Mai 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. November 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Sklerodermie als Berufskrankheit nach Nr. 4101 der Anlage zur BKVO, hilfsweise wie eine Berufskrankheit anzuerkennen und mit einer Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält das Urteil des SG für zutreffend.

Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Schreiben vom 24.02.2004 und 26.04.2004 darauf hingewiesen, dass der Senat nach § 153 Abs. 4 SGG die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückweisen kann, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Möglichkeit nach Aktenlage hier in Betracht kommt. Die Beteiligten haben Gelegenheit erhalten, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren Stellung zu nehmen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet. Das SG und die Beklagte haben zu Recht die Anerkennung einer BK abgelehnt.

Der Senat konnte die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss zurückweisen, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten haben Gelegenheit erhalten, sich zu der beabsichtigten Verfahrensweise zu äußern. Eine Stellungnahme zu der beabsichtigten Verfahrensweise ist nicht eingegangen.

Der von der Klägerin verfolgte Anspruch richtet sich noch nach den bis zum 31.12.1996 geltenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) und der BKVO, da die geltend gemachte BK vor dem In-Kraft-Treten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997 eingetreten sein soll (§ 212 SGB VII).

Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls Leistungen, bei Vorliegen eines Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um wenigstens 20 v.H. auch Verletztenrente in der dem Grad der Erwerbsminderung entsprechenden Höhe (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BK sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Eine solche Bezeichnung nimmt die BKVO mit den sogenannten Listenkrankheiten vor. Danach kann nach Nr. 4101 der Anlage 1 zur BKVO eine Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) als BK anerkannt werden.

Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht. Hinreichende Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, und ernstliche Zweifel an einer anderen Verursachung ausscheiden (BSGE 45, 285, 286). Lässt sich ein Zusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten.

Die Anerkennung einer BK nach der Anlage 1 zur BKVO scheidet von vornherein aus, weil eine Silikose (Nr. 4101) nicht nachgewiesen ist und die PSS, an der die Klägerin leidet, nicht als BK bezeichnet ist. Es ist auch nicht nachgewiesen, dass die Klägerin einer höheren Quarzstaubexposition als die übrige Bevölkerung ausgesetzt gewesen ist. Jedenfalls war am früheren Arbeitsplatz der Klägerin bei der Gefahrstoffmessung am 21.10.2000 in der Luft Quarzstaub nicht nachweisbar.

Die PSS kann auch nicht wie eine BK anerkannt werden, weil die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO nicht erfüllt sind. Erforderlich hierfür wäre, dass die Klägerin zu einer bestimmten Personengruppe gehört, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft eine PSS verursachen. Das Tatbestandsmerkmal der gruppentypischen Risikoerhöhung wäre hier dann als erfüllt anzusehen, wenn hinreichende Feststellungen in Form medizinischer Erkenntnisse dafür getroffen wären, dass die Personengruppe "Zahntechniker", zu der die Klägerin zu zählen ist, durch die Arbeit Einwirkungen ausgesetzt wäre, mit denen die übrige Bevölkerung nicht in diesem Maße in Kontakt käme (Einwirkungshäufigkeit) und die geeignet wäre, PSS hervorzurufen (generelle Geeignetheit). Das Erfordernis einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich auf das allgemeine Auftreten einer Krankheit innerhalb dieser Gruppe. Auf eine Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit im Einzelfall kommt es dabei nicht an. Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um dann daraus schließen zu können, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (BSGE 59, 250, 253 = SozR 3-2200 § 551 Nr 9 mwN; Brackmann/Krasney, SGB VII, § 9 RdNr 46 mwN).

Ist im Ausnahmefall - wie hier - die gruppenspezifische Risikoerhöhung nicht mit der im Allgemeinen notwendigen langfristigen zeitlichen Überwachung derartiger Krankheitsbilder zum Nachweis einer größeren Anzahl gleichartiger Gesundheitsstörungen zu belegen, da etwa aufgrund der Seltenheit der Erkrankung medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht erbracht werden können, kann zur Feststellung der generellen Geeignetheit der Einwirkung spezieller Noxen zur Verursachung der betreffenden Krankheit auch auf Einzelfallstudien, auf Erkenntnisse aus anderen Staaten, sowie auf frühere Anerkennungen entsprechender Krankheiten wie Berufskrankheiten nach § 551 Abs. 2 RVO und damit zusammenhängende medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen werden (BSG Urteil vom 4.6.2002 - B 2 U 20/01 R - mit weiteren Nachweisen). Auch das für einen Ausnahmefall (nur) erforderliche herabgestufte Maß an wissenschaftlicher Forschung ist für die Gruppe der Zahntechniker nicht erfüllt.

Die gruppenspezifische Risikoerhöhung muss sich darüber hinaus in jedem Fall letztlich aus "Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft" ergeben. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen, eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Solche Erkenntnisse liegen in der Regel dann vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es muss sich um gesicherte Erkenntnisse handeln; nicht erforderlich ist, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner sind. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich nicht aus (BSG Urteil vom 4.6.2002 - B 2 U 20/01 R - mit weiteren Nachweisen). Auch diese Voraussetzung sind hier nicht erfüllt.

Nach dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten des Dr. E., das der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwertet, lässt sich überdies im konkreten Fall kein Zusammenhang zwischen der Erkrankung der Klägerin und einer beruflich bedingten Schadstoffexposition begründen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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