L 2 R 999/16

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 48 R 4698/15
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 2 R 999/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein von einem unvertretenen prozessfähigen Versicherten trotz entsprechendem gerichtlichen Hinweis in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich gestellter (unstatthafter) Antrag kann nicht in einen sachdienlichen Antrag umgedeutet werden.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 06. Juli 2016 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben auch für das Berufungsverfahren einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt ausdrücklich die Feststellung von Verfahrensfehlern des vorangegangen sozialgerichtlichen Verfahrens. Die Beklagte bewilligte dem im Mai 1950 geborenen Kläger antragsgemäß mit Bescheid vom 04. August 2015 eine Altersrente für langjährige Versicherte ab dem 01. Februar 2014. Der Kläger erhob gegen den Rentenbescheid Widerspruch und begehrte insbesondere, dass die Beklagte die Rente bereits am 30. September 2015 an ihn auszahlt und die Rente ohne Abschläge berechnet würde. Zudem habe er die ausfallenden Beitragszeiten von Juni 1999 bis Oktober 2015 nicht zu vertreten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04. November 2015 zurück. Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Gotha mit Gerichtsbescheid vom 06. Juni 2016 abgewiesen. Der angefochtene Rentenbescheid sei nicht fehlerhaft. Bei der Berechnung seien alle nachgewiesenen bzw. glaubhaft gemachten versicherungsrechtlichen Zeiten berücksichtigt worden. Auch der Rentenabschlag sei zutreffend berechnet worden. Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger die Feststellung, dass das Sozialgericht bei seiner Entscheidungsfindung Fehler begangen habe. Erst wenn diese benannt worden seien, könne er sein Begehren in einem eigenständigen Berufungsverfahren weiter verfolgen.

Der Kläger beantragt ausdrücklich,

festzustellen, dass das Sozialgericht Gotha bei der Urteilsfindung gravierende Rechtsfehler zu seinen Ungunsten begangen hat; und zwar im Wege der Berufung und der Revision.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Ausführungen des Gerichtsbescheides. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen. Diese lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung mit dem ausdrücklichen Antrag des Klägers ist unzulässig. Eine Feststellung, "dass das Sozialgericht Gotha bei der Urteilsfindung gravierende Rechtsfehler zu seinen Ungunsten begangen hat", kommt prozessrechtlich nicht in Betracht. Eine derartige Feststellung ist im System des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), insbesondere im Rahmen der Feststellungsklage des § 55 SGG, nicht vorgesehen. Ob dem Sozialgericht bei der Urteilsfindung Rechtsfehler unterlaufen sind, wird inzident im Rahmen des geltend gemachten Anspruchs geprüft. Einen entsprechenden Antrag wollte der Kläger jedoch trotz Belehrung ausdrücklich nicht stellen.

Zu einer Auslegung seines Antrags gegen diesen ausdrücklich artikulierten Willen sieht sich das Gericht nicht befugt. Zwar entscheidet das Gericht nach § 123 SGG über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 Satz 2 SGG). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage bzw. der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen. In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass nach Maßgabe des Meistbegünstigungsprinzips alles begehrt wird, was dem Kläger aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht. Der Grundsatz, dass im Zweifel von einem umfassenden Rechtsschutzbe-gehren ausgegangen werden muss, ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die Auslegung von Anträgen richtet sich danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen; im Zweifel ist davon auszugehen, dass ein Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (vgl. BSG, B. v. 1. März 2018 - B 8 SO 52/17 B -).

Diese Grundsätze berechtigen den Senat jedoch nicht dazu, von einem Begehren entgegen dem ausdrücklich gewünschten Antrag auszugehen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass es ihm im vorliegenden Verfahren ausdrücklich nicht um die Gewährung einer höheren Altersrente durch die Beklagte geht. Er begehrt allein die Feststellung, dass das Sozialgericht Verfahrensfehler begangen habe, ohne eine für sich günstigere Entscheidung in der Sache anzustreben. Der Kläger hat erklärt, das Begehren einer höheren Altersrente nicht im vorliegenden, sondern in einem weiteren - erst noch später zu führenden Verfahren - verfolgen zu wollen. Auch auf einen entsprechenden Hinweis des Vorsitzenden ist er von seinem Begehren nicht abgerückt und hat ausdrücklich den protokollierten Antrag gestellt. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht prozessfähig ist, bestehen für den Senat nicht, zumal er in der Lage war, selbstständig Klage zu erheben, fristgemäß Rechtsmittel einzulegen und den Rechtsstreit zu führen.

Selbst wenn man nicht den ausdrücklichen Antrag des Klägers zu Grund legte, sondern im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips von einem Begehren auf Gewährung einer höheren Rente (ohne Minderung des Zugangsfaktors) ausginge, bliebe die Berufung ohne Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf ungekürzte Altersrente. Auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung wird Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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