S 18 SO 56/19 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
18
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 SO 56/19 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 21.06.2019 längstens bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung auch für den Leistungszeitraum ab 01.07.2019 Leistungen nach dem SGB 12 unter Berücksichtigung von weiteren Bedarfen für die Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 210,00 EUR über die bereits seit 01.07.2018 gewährten 501,97 EUR zu zahlen.

2. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

3. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die zur Zweck entsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten.

Gründe:

Der zulässige Antrag hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Vorliegend richtet sich die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b Abs. 2 SGG, da in der Hauptsache die statthafte Klageart die Leistungsklage ist. Einstweiliger Rechtsschutz ist nicht nach § 86 b Abs. 1 SGG zu gewähren. Zwar hat die Klage des Antragstellers vom 04.10.2018 gegen den Widerspruchsbescheid des Antragsgegners vom 03.09.2018 aufschiebende Wirkung. Jedoch hilft die Feststellung der aufschiebenden Wirkung dem Antragsteller nicht, da es sich für den hier streitigen Zeitraum ab 21.06.2019 -Eingang bei Gericht- um einen Leistungszeitraum endet, der ausweislich des ursprünglichen Bewilligungsbescheides vom 15.06.2018 am 30.06.2019 endete. Eine Absenkung der Leistungen durch den Antragsgegner ist gerade nicht erfolgt, sodass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nicht bewirkt, dass die Regelungen eines vorherigen Leistungsbescheides wieder aufleben. Rechtsschutz intensiver ist dementsprechend der unter Beachtung des Meistbegünstigungsgrundsatzes anzunehmende Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach $ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentliche Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, das heißt eines materiellen Anspruchs für den vorläufiger Rechtsschutz begeht wird sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, das heißt, der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten voraus.

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2, 938, 294 ZPO. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System gegenseitiger Wechselbeziehung. Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund.

Alle Voraussetzungen des einstweiligen Rechtsschutzes sind unter Beachtung der Grundsätze der objektiven Beweislast glaubhaft zu machen, § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO; die richterliche Überzeugungsgewissheit in Bezug auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes erfordern insoweit lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit (Mayer-Ladewig, SGG, § 86 b Rn. 16b). Sind Grundrechte tangiert, ist die Sach- und Rechtslage allerdings nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen.

Vorliegend richtet sich der Eilantrag nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Der Antragsteller begehrt nicht die Sicherung einer bestehenden Rechtsposition, sondern die Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis.

Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes ist vorliegend zu bejahen, da es jedenfalls um die Absenkung der Kosten der Unterkunft um 399,06 EUR auf insgesamt 501,97 EUR monatlich geht. Zwar endet der Leistungszeitraum wie bereits ausgeführt am 30.06.2019. Nach Aktenlage sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass sich am Rechtsstandpunkt des Antragsgegners etwas ändert. Ebenso ist dem Gericht nicht bekannt, ob der Antragsgegner bereits eine Entscheidung für den Leistungszeitraum ab 01.07.2019 getroffen hat. Dementsprechend war -auch hier im Sinne des Meistbegünstigungsgrundsatzes- im Sinne des Antragstellers auch für die Zeit ab 01.07.2019 eine vorläufige Entscheidung zu treffen.

Das Gericht sieht einen Anordnungsanspruch aus § 19 Abs. 2, 41 Abs. 1, 42 Nr. 4a, 42a, 35 Abs. 1, 2 SGB 12 auf höhere Kosten der Unterkunft ab Antragseingang.

Die Kosten der Unterkunft sind nach § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB 12 grundsätzlich in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, sofern sie nicht nach § 35 Abs. 2 Sätze 1,2 SGB 12 die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen. In einem solchen Fall sind sie grundsätzlich als Bedarf der Personen, deren Einkommen und Vermögen nach § 27 Abs. 2 SGB 12 zu berücksichtigen sind, anzuerkennen, so lange es diesen Personen nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, regelmäßig jedoch längstens für 6 Monate.

Bei der von dem Antragsteller und seiner Ehefrau bewohnten Wohnung handelt es sich unstreitig um eine Unterkunft. Ein schlüssiges Konzept seitens des Antragsgegners liegt vor. Dieses schlüssige Konzept ist auch von der erkennenden Kammer (Beschluss vom 27.12.2013, S 18 SO 174/13 ER) sowie vom Hessischen Landessozialgericht (Beschluss vom 15.05.2014, L 4 SO 19/14 B ER) bestätigt worden. Das erkennende Gericht weist ausdrücklich darauf hin, dass es das schlüssige Konzept des Antragsgegners nach wie vor für rechtmäßig hält. Es steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG Urteil vom 22.09.2009, B 4 AS 70/08 R). Der Antragsgegner ist in Umsetzung dieser Rechtsprechung auch zutreffend davon ausgegangen, dass als angemessene Wohnungsgröße für einen Zweipersonenhaushalt eine Wohnfläche von 60 qm² jedenfalls grundsätzlich zu berücksichtigen ist. Des Weiteren ist es in Fortschreibung des schlüssigen Konzepts ebenfalls zutreffend, wenn der Antragsgegner für einen Zweipersonenhaushalt in A-Stadt eine Kaltmiete von 420,00 EUR zugrunde legt.

Während im Rahmen der beschriebenen abstrakten Angemessenheit der Bedarf von Leistungsberechtigten "ohne persönliche Besonderheiten" anhand abstrakter Kriterien (Wohnungsmarkt bezogen) ermittelt wird, finden im Rahmen der konkreten Angemessenheit personenbezogene Umstände des Einzelfalls Berücksichtigung. Relevante persönliche Besonderheiten des Leistungsberechtigten können den abstrakt angemessenen Unterkunftsbedarf modifizieren (BSG Urteil vom 11.12.2012, B 4 AS 44/12 R) Im Rahmen der konkreten Angemessenheit sind die personenbezogenen Umstände bei den jeweiligen mietpreisbildenden Faktoren zu berücksichtigen. Dies betrifft den Wohnflächenbedarf, den Vergleichsraum und den Wohnungsstandard sowie die Referenzgruppe. Zu berücksichtigen sind besondere Umstände wir Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, Rücksichtnahme auf Schulpflichtige Kinder und Alleinerziehung, soweit diese Faktoren nach den Umständen des Einzelfalls Auswirkung auf den Unterkunftsbedarf haben. Ein Wohnflächenmehrbedarf oder besonderer unterkunftsbezogener Bedarf hinsichtlich der Wohnungsausstattung ist bei Gehbehinderungen naheliegend.

Den Leistungsberechtigten trifft zwar bei unangemessenen Aufwendungen eine Kostensenkungsobliegenheit bei Möglichkeit und Zumutbarkeit der Kostensenkung. Als Kostensenkungsmaßnahmen kommen ein Wohnungswechsel und eine Untervermietung in Betracht.

Diese Möglichkeit schließt das erkennende Gericht im Hinblick auf das fortgeschrittene Alter des Antragstellers sowie seiner Ehefrau und den bei ihm objektiv vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen (vgl. Bescheid des Versorgungsamtes Gießen vom 16.05.2018) aus. Weitere Ausführungen hierzu dürften entbehrlich sein.

Im Ergebnis hält das erkennende Gericht die Mietobergrenze für eine Wohnung, die von 5 Personen bewohnt wird im Vergleichsraum A-Stadt (Stand 01.01. 2018) für angemessen, aber auch ausreichend. Das Gericht ist der Auffassung, dass eine Veränderung des unmittelbaren sozialen Umfeldes des Antragstellers und seiner Ehefrau hier nicht zumutbar ist. Der Antragsteller und seine Ehefrau sind auf eine besondere Infrastruktur angewiesen, die auch bei einem Wohnungswechsel möglicherweise verloren gingen und im neuen Wohnumfeld nicht ersetzt werden könnte. Weiter sieht das Gericht besondere Umstände darin, dass der Antragsteller in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt ist (vgl. den Bescheid des Versorgungsamtes Gießen vom 16.05.2018). Der festgestellte Grad der Behinderung beträgt 100. Beim Kläger liegt ein Restless-Legs-Syndrom, Hirnabbau, Bluthochdruck, Gewebeneubildung des Dickdarms in Heilungsbewährung sowie ein Hüftgelenksersatz links vor. Zu berücksichtigen ist auch, dass die lange Wohndauer bei älteren Menschen, die in Relation zu unangemessenen Mehrkosten stehen hier in gewissem Rahmen zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigen sind.

Im Ergebnis bestätigt das erkennende Gericht also zum einen das schlüssige Konzept des Antragsgegners, vertritt aber zum anderen angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalles die Auffassung, dass der Antragsgegner nicht die Werte für eine Zweipersonenunterkunft (420,00 EUR Kaltmiete) sondern für eine Fünfpersonenunterkunft (630,00 EUR) zugrunde zu legen hat.

Der Anordnungsgrund liegt darin, dass es sich im vorliegenden Fall für den Antragsteller um existenzsichernde Leistungen handelt. Das Gericht kann eine Zumutbarkeit, dass Hauptsacheverfahren abzuwarten nicht erkennen.

Zur Berechnung der ausgeurteilten Leistung ist folgendes auszuführen: Die derzeitige mietvertraglich geschuldete Bruttomiete des Antragstellers und seiner Ehefrau beträgt 900,03 EUR. Diese wurde vom Antragsgegner auf 501,97 EUR, also um 399,06 EUR monatlich abgesenkt. Nach Ansicht des erkennenden Gerichts hat der Antragsgegner jedoch nicht 420,00 EUR sondern 630,00 EUR zugrunde zu legen. Hinzu kommen 81,97 EUR Nebenkosten, sodass der Antragsteller einen Anspruch auf insgesamt 711,97 EUR Gesamtleistungen für Kosten und Unterkunft gegen den Antragsgegner hat. Hieraus ergibt sich eine monatliche Differenz von 210,00 EUR zugunsten des Antragstellers.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved