S 12 KA 34/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
12
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 12 KA 34/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Werden Regelungen aus dem Versorgungsausgleich bei der Festsetzung des EHV-Anspruchssatzes unzureichend berücksichtigt, ist davon auszugehen, dass bei großen Unterschieden zur EHV-Anwartschaft vor und nach dem Versorgungsausgleich (hier: bezogen auf den Zeitpunkt für den Versorgungsausgleich 31.12.2010 eine Verminderung der EHV-Anwartschaft von 2.293,48 € bzw. 14,8153 % auf 1.471,54 € bzw. 8,2073 %) der Fehler angesichts der Bedeutung der Alterssicherung erkennbar ist. Vertrauensschutz liegt dann nicht vor.
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die notwendigen Verfahrenskosten zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Neufestsetzung des Anspruchs aus der Teilnahme an der Erweiterten Honorarverteilung (EHV) der Beklagten für die Zukunft nach unzureichender Berücksichtigung eines Versorgungsausgleichs und hierbei insb. um die Frage, ob Vertrauensschutz des Klägers besteht.

Der 1951 geb. und jetzt 67-jährige Kläger war von 1984 bis zum 30.09.2016 als Facharzt für Allgemeinmedizin zur vertragsärztlichen Versorgung mit Praxissitz im Bezirk der Beklagten zugelassen. Seit dem 04.04.2017 ist er als angestellter Arzt in einer Einzelpraxis tätig, bis zum 30.06.2017 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von sechs Stunden, seit dem 01.07.2017 von elf Stunden. Mit Beschluss des Amtsgerichts Melsungen vom 25.10.2011 wurde seine Ehe geschieden. Im Rahmen des Versorgungsausgleichs wurde für ihn in der EHV zu Lasten seiner Ehefrau eine Anwartschaft in Höhe von 99,47 EUR, was einem Anspruchssatz von 0,7996 % entsprach, begründet. Für seine Ehefrau wurde zugleich in der EHV zu seinen Lasten eine Anwartschaft in Höhe von 921,41 EUR, was einem Anspruchssatz von 7,4076 % entsprach, begründet.

Die Beklagte teilte dem Kläger unter Datum vom 18.04.2016 mit der Betreffzeile "Erweiterte Honorarverteilung (EHV) - Information über EHV-Anspruch" verschiedene Hochrechnungen seines Anspruchs nach der EHV mit. Die Beklagte ging von einer Anwartschaft von 14.137,5 Punkten aus, wovon aber nur maximal 14.000 Punkte berücksichtigt werden könnten. Weiter heißt es in dem Schreiben: "Unter Berücksichtigung des rechtskräftigen Versorgungsausgleichs (VA) von 533,0661 Punkten (0,7996 %) verringert sich ihr Anspruch danach auf 13.466,9339 Punkte." Auf dieser irrtümlich fehlerhaften durch Vertauschen der Anwartschaftsübertragungen aus dem Versorgungsausgleich, auch war keine Saldierung der Anwartschaftsübertragungen erfolgt - Grundlage errechnete sie einen monatlichen EHV-Anspruch nach Erreichen der Regelaltersgrenze von 65 Jahren und vier Monaten ab 01.01.2017 von 3.089,31 EUR.

Der Kläger beantragte am 25.04.2016 die Teilnahme an der EHV ab 01.10.2016.

Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 21.10.2016 die Teilnahme an der EHV ab 01.10.2016. Sie setzte - unter Wiederholung des Fehlers wie in der Auskunft vom 18.04.2016 - den EHV-Anspruch auf 13.264,9299 Punkte fest, was bei einem Punktwert von 0,2341 EUR eine monatliche EHV-Zahlung von 3.105,32 EUR (brutto) ergab. Der Kläger habe bis zum 30.09.2016 insgesamt 14.018,75 Punkte erreicht. Maximal würden 14.000 Punkte berücksichtigt werden. Unter Berücksichtigung des Versorgungsausgleichs von 533,0661 Punkten verbleibe ein Anspruch von 13.466,9339 Punkten. Wegen Eintritts in die EHV vor Erreichen der Regelaltersgrenze verringere sich der Anspruch um 1,5 % auf 13.264,9299 Punkte.

Die Beklagte nahm mit Bescheid vom 20.12.2016 eine Anpassung des Punktwerts auf 0,2317 EUR vor und setzte die EHV-Zahlung ab 01.01.2017 auf monatlich 3.073,48 EUR fest.

Die Beklagte nahm mit Bescheid vom 04.09.2017 eine Korrektur der Bescheide vom 21.10.2016 und 20.12.2016 vor und setzte den EHV-Anspruch auf 9.450,7510 Punkte fest. Zur Begründung führte sie aus, seien beide Ehepartner anspruchsberechtigt, vollziehe sich der Ausgleich nur in der Höhe des Wertunterschieds der beiderseitigen Ausgleichswerte durch Verrechnung. Der Anteil der geschiedenen Ehefrau betrage somit 6,6080 %, entsprechend 4.405,3289 Punkte. Versehentlich sei ab 01.10.2016 nur ein Anspruch von 0,7996 % in Abzug gebracht worden. Der Anspruch des Klägers sei um den Versorgungsausgleich zu kürzen. Der verbleibende Anspruch betrage demnach nur 9.594,6711 Punkte, verringert um 1,5 % wegen Eintritts in die EHV vor Erreichen der Regelaltersgrenze noch 9.450,7510 Punkte. In Abwägung gegen das Interesse an dem Erhalt des Einbeziehungs- und Anpassungsbescheids überwiege das Interesse an der rechtmäßigen Verwaltungspraxis. Für den Kläger sei seit Rechtskraft des Scheidungsbeschlusses erkennbar gewesen, dass seine Versorgung um die dort angegebene Höhe gekürzt werden müsse. Es sei fälschlicherweise zunächst derjenige Betrag in Ansatz gebracht worden, hinsichtlich dessen er ausgleichsberechtigt sei (0,7996 %). Die von ihm auszugleichende Anwartschaft habe jedoch 7,4076 % betragen. Nach Verrechnung verbleibe noch eine Kürzung von 6,6080 %. Zu Gunsten des Klägers sei sein Interesse an der Kalkulierbarkeit der Einnahmen aus der EHV zu berücksichtigen, zu seinen Lasten jedoch, dass er seit seiner Scheidung positive Kenntnis von der Kürzung gehabt habe. Die Berechnung der Anspruchshöhe habe ab 01.10.2016 einen Betrag in Höhe von 2.212,42 EUR, ab 01.01.2017 von 2.189,74 EUR ergeben. Die Korrektur ergebe für den Zeitraum 01.10.2016 bis 31.08.2017 für den Kläger eine Überzahlung in Höhe von 9.458,47 EUR.

Hiergegen legte der Kläger am 05.10.2017 Widerspruch ein. Er trug vor, trotz seiner zahlreichen Anfragen sei es bei der Beklagten offenbar zu einem schweren Rechenfehler gekommen, den er sich nicht erklären könne. Durch die Kürzung der Auszahlungen und die völlig unerwartete Nachzahlung gerate er in große Not und hätte niemals seine Kassenpraxis aufgegeben. Wie hätte er die "Rechtswidrigkeit" des Bescheides erkennen sollen, wenn die Mitarbeiter der Beklagten dazu offenbar ein Jahr benötigten. Natürlich habe er auf den "Bestand des Verwaltungsaktes" vertraut. "Grobe Fahrlässigkeit" sei ihm nicht vorzuwerfen. Das Amtsgericht Melsungen habe mit Schreiben vom 02.03.2012 den Versorgungsausgleich an die Beklagte gemeldet und diese mithin über den Versorgungsausgleich in Kenntnis gesetzt. Somit sei zum Zeitpunkt der Information über die zu erwartende EHV-Zahlung sowie der Berechnung der EHV-Zahlung durch Bescheid vom 21.12.2016 die Beklagte in Kenntnis des Versorgungsausgleichs gewesen. Gleichwohl habe sie bei der Messung der Punkte den Versorgungsausgleich nicht berücksichtigt und ihn daher erst zur Beendigung seiner vertragsärztlichen Tätigkeit motiviert, da er sich für die Phase des Ruhestandes auf entsprechende Zahlungen aus der EHV eingestellt habe. Der angefochtene Bescheid stelle mithin einen Widerruf nach § 47 SGB X dar, der unter Maßgabe der Vertrauensschutzgesichtspunkte einer Ermessensausübung voraussetze. Der Verzicht auf die vertragsärztliche Zulassung sei eine nicht rückgängig zu machende Vermögungsdisposition. Mithin komme ein Widerruf nicht in Betracht. Auch unter Maßgabe der strengeren Regelungen zur Rücknahme sei das Vertrauen schutzwürdig.

Die Beklagte half dem Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.01.2018, dem Kläger am 12.01.2018 zugestellt, insoweit ab, als sie die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit aufhob. Im Übrigen wies sie den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X lägen lediglich mit Wirkung für die Zukunft vor. Hinsichtlich der Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit lägen die Voraussetzungen nach § 45 Abs. 4 und Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X, wonach der Kläger sich nicht auf Vertrauen berufen könne, nicht vor. Zu seinen Gunsten sei zu berücksichtigen, dass der Beschluss des Amtsgerichts Melsungen bereits über vier Jahre alt gewesen sei, als er mit Bescheid vom 21.10.2016 in die EHV einbezogen worden sei. Insoweit könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Berechnungsfehler für den Kläger ohne weiteres erkennbar gewesen sei. Vielmehr hätte es einer Überprüfung des Bescheides unter Zuhilfenahme der GEHV sowie des Beschlusses des Amtsgerichts Melsungen und damit einer intensiveren Recherche seitens des Klägers bedurft, um den Fehler in dem Bescheid vom 21.10.2016 zu erkennen. Es sei zwar von einer Fahrlässigkeit des Klägers auszugehen, da ihm aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Melsungen bekannt gewesen sei, dass eine deutliche Differenz hinsichtlich der eigenständigen Anrechte vorliege. Eine grobe Fahrlässigkeit seitens des Klägers könne allerdings nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden. Die Wendung "in der Regel" bedeute nicht, dass bei der Erfüllung eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X eine Rücknahme schlechthin ausgeschlossen sei. Es handele sich um eine gesetzliche Vermutung, die bei Vorliegen einer atypischen Fallgestaltung wiederlegt werden könne. Stünden den Regeltatbeständen gewichtige Gründe gegenüber, die für eine Rücknahme sprächen, so seien Rücknahmeinteresse und Vertrauen unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles gegeneinander abzuwägen. Der Kläger habe zwar auf die vertragsärztliche Zulassung verzichtet. Es sei allerdings zu berücksichtigen, dass er seit dem 04.04.2017 weiterhin als angestellter Arzt tätig sei und somit eine anderweitige Einnahmequelle habe. Anhaltspunkte für eine wirtschaftliche Härte und gar einen existenzvernichtenden Eingriff lägen nach alledem nicht vor. Unzumutbare Folgen seien nicht ersichtlich. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Fehlerhaftigkeit des Ausgangsbescheides ausschließlich in ihren Verantwortungsbereich falle und nicht bloß ein einfaches Verschulden ihrerseits vorliege, überwiege das Interesse der Allgemeinheit an der Herstellung rechtmäßiger Zustände und somit an der Rücknahme der Bescheide mit Wirkung für die Zukunft das Interesse des Klägers an dem Erhalt des Einbeziehungs- und Anpassungsbescheides. Das Interesse an den Fortbestand der Begünstigung und an der Kalkulierbarkeit der Einnahmen aus der EHV sei hier einerseits zu berücksichtigen. Andererseits sei zu berücksichtigen, dass es sich um eine zu gewährende Dauerleistung handele, sodass ein starkes Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände bestehe. Dabei hinaus sei festzustellen, dass eine nicht unerhebliche Differenz zwischen dem mit Bescheid vom 20.12.2016 mitgeteilten EHV-Anspruchssatz und den korrekt ermittelten Punkten bestehe. Da es sich um eine Dauerleistung handele, würde die zukünftige Anwendung der höheren Punktezahl zu erheblichen Zahlungsverpflichtungen führen, die bei einer korrekten Anwendung der GEHV dem Kläger nicht zustünden. Selbst grobes Verschulden des Leistungsträgers führe nicht schlechthin zu einem Überwiegen des Vertrauensschutzes, sondern sei nur ein in die Interessenabwägung einzustellender Gesichtspunkt. Weiterhin könne bei (grobem) Verschulden des Leistungsträgers Vertrauensschutz hinter dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes zurücktreten, wenn ausschließlich eine Rücknahme für die Zukunft betroffen sei.

Hiergegen hat der Kläger am 25.01.2018 die Klage erhoben. Er weist daraufhin, dass die Beklagte bereits im Schreiben vom 18.04.2016 Auskunft über die Höhe des EHV-Anspruchs erteilt und dabei die Punkte zugrunde gelegt habe, die letztlich auch in der Festsetzung des EHV-Anspruchs maßgebend gewesen seien. Diese Information der Beklagten sei für ihn Ausgangsgrundlage auch für die Planung des Ruhestandes gewesen, da für die Finanzplanung natürlich maßgeblich gewesen sei, mit welchen Einkünften aus der EHV zu rechnen sei. Nach der Festsetzung habe er im Vertrauen hierauf die Zahlung entgegengenommen, darauf auch seine weitere finanzielle Planung für die Zukunft ausgerichtet. Er habe seinen Praxisanteil an der Berufsausübungsgemeinschaft, in der er tätig gewesen sei, veräußert. Seine jetzigen Einkunftsmöglichkeiten als angestellter Arzt seien aufgrund des begrenzten Versorgungsauftrags entsprechend begrenzt, sodass auch das Einstellungsverhältnis keine Kompensation darstelle. Er habe vielmehr durch die Beendigung der selbstständigen, vertragsärztlichen Tätigkeit und dem Ausscheiden aus der langjährigen Berufsausübungsgemeinschaft eine nachhaltige vermögensrechtliche Disposition getroffen, die auch nicht mehr umkehrbar sei. Die Beklagte habe bei der Berechnung des EHV–Anspruchs grob fahrlässig gehandelt. Dies sei aufgrund der Komplexität dieser Berechnungen und der damit einhergehende Bescheide für ihn nicht nachvollziehbar gewesen. Gehe man davon aus, dass ein Widerruf für die Zukunft zulässig sei, habe die Beklagte jedenfalls einen Versorgungsausgleich nicht zutreffend ermittelt. Bei der Ermittlung des Versorgungsausgleichs habe man nicht die Zeiträume bis zur Auflösung der Ehen und damit den Zeitpunkt des Versorgungsausgleichs sowie im Folgezeitraum adäquat differenziert. Bei dem Versorgungsausgleich hätte unter Berücksichtigung der Punkte auf den 31.12.2010 abgestellt werden müssen. Der Abzug hätte auf die damals erzielten Punkte in Höhe von 12.100,2643 erfolgen müssen. Zwischen dem Beschluss des Amtsgerichts Melsungen und dem Anpassungsbescheid hätten sechs Jahre gelegen. Er sei jetzt 66 Jahre alt und habe nicht geplant gehabt, dass er seine Angestelltentätigkeit noch aufstocke, um so die Differenzen zu kompensieren. Hätte er rechtzeitig erfahren, dass die EHV-Leistungen nur in der nunmehr reduzierten Form erbracht würden, hätte er bereits zum jetzigen Zeitpunkt zwei weitere Jahre Rentenbezüge aus der Ärzteversorgung im bisherigen Umfang steigern und sich nun auch nach und nach zurückziehen können. Auf das Vorliegen einer existenzvernichtenden Härte komme es nicht an. Das Interesse der Allgemeinheit und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung könne nicht deswegen schwerer wiegen, weil es sich bei den EHV-Leistungen um ein Umlagesystem handele. Das grobe Verschulden der Beklagten müsse in die Abwägung miteinbezogen werden. Nach der Berechnung des Versorgungswerks der Landesärztekammer Hessen hätte die Altersrente mit Vollendung des 66. Lebensjahres 2.488,95 EUR, des 67. Lebensjahres 2.690,48 EUR, des 68. Lebensjahres 2.908,64 EUR, des 69. Lebensjahres 3.145,43 EUR und des 70. Lebensjahres 3.403,17 EUR betragen. Er erhalte lediglich eine Altersrente von 2.366,02 EUR. Daneben habe er auf einen jährlichen Gewinn aus der Praxis verzichtet, der durchschnittlich bei 145.000 EUR gelegen habe. Diese Verluste könne er mit seiner Angestelltentätigkeit nicht ausgleichen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 04.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.01.2018 aufzuheben,
hilfsweise
den Bescheid der Beklagten vom 04.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.01.2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie ist weiterhin der Auffassung, die tatbestandliche Formulierung nach § 45 Abs.2 Satz 2 SGB X stelle eine gesetzliche Vermutung dar, die bei Vorlegen einer atypischen Fallgestaltung wiederlegt werden könne. Vor dem Hintergrund der seit April 2017 bestehenden Tätigkeit als angestellter Arzt könne zumindest nicht von einer existenzvernichtenden Härte gesprochen werden. Zudem sei eine Unumkehrbarkeit der vermögensrechtlichen Dispositionen nicht anzunehmen. Zumindest müssten klägerseits die konkrete Einbußen genau beziffert und dargelegt werden, auch dass die bereits erfolgte stundenmäßige Aufstockung der ärztlichen Angestelltentätigkeit nicht weiter möglich sei. Unter weitgehender Wiederholung ihrer Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid hält sie ihre Abwägungsüberlegungen für rechtmäßig. Das Schreiben vom 18.04.2016 sei ein Informationsschreiben gewesen. Es sei auch als solches gekennzeichnet gewesen. Der Kläger könne sich nicht auf einen abschließend verbindlichen Regelungsgehalt berufen. Bei den vom Kläger angeführten möglichen Versorgungsbezügen des Versorgungswerks handele es sich um bloße Anwartschaften. Bei der fehlerhaften Berechnung sei ihr schlicht eine Verwechslung der Versorgungsausgleichsanteile unterlaufen. Anstatt die in der gerichtlichen Entscheidung genannten Ansprüche aufzurechnen, sei fälschlicherweise derjenige Anspruchssatz in Abzug gebracht worden, hinsichtlich dessen der Kläger ausgleichsberechtigt sei. Der Fehler sei bereits in der unverbindlichen Auskunft vom 18.04.2016 enthalten gewesen. Es habe nicht zwei Berechnungen und damit zwei Fehler gegeben.

Die Kammer hat die Scheidungsakte des Amtsgericht Melsungen als pdf-Datei beigezogen und einen Aktenauszug gefertigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichts- und beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

Die Klage ist zulässig, denn sie ist insb. form- und fristgerecht bei dem zuständigen Sozialgericht erhoben worden.

Die Klage ist aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 04.09.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.01.2018 ist rechtmäßig. Er war daher nicht aufzuheben. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Die Klage war insgesamt abzuweisen.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 21.10.2016 ist § 45 SGB X.

Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit
1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Nach § 45 Abs. 4 SGB X wird nur in den Fällen von Absatz 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Der Bewilligungsbescheid vom 21.10.2016 war von Anfang an rechtswidrig. Bei der Berechnung des Anspruchs des Klägers auf Teilnahme an der EHV hat die Beklagte die Versorgungsausgleichsanteile verwechselt. Sie hat lediglich den Teil in Abzug gebracht, der den Versorgungsausgleichsanteil des Klägers betraf, nicht aber den Versorgungsausgleichsanteil, der der geschiedenen Ehefrau zustand. Richtigerweise hätte sie beide Versorgungsausgleichsanteile verrechnen müssen, was sie erst im angefochtenen Berichtigungsbescheid vom 04.09.2017 getan hat. Dies wird von den Beteiligten nicht bestritten.

Der Kläger kann sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Eine grob fahrlässige Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des begünstigenden Verwaltungsakts liegt vor, wenn es dem Betroffenen aufgrund der ihm bekannten Umstände möglich war, die fehlende Übereinstimmung des Verwaltungsakts mit dem geltenden Recht zu erkennen (vgl. Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 45 SGB X, Rn. 87). Für die Erfüllung der groben Fahrlässigkeit reicht es nicht aus, dass der Betroffene Zweifel an der Rechtmäßigkeit hat, sondern die Zweifel müssen so ausgestaltet sein, dass es für jeden erkennbar wäre, dass hier wenigstens eine Nachfrage notwendig wäre. Vom Begünstigten wird dabei nicht verlangt, dass er den Bescheid in allen Einzelheiten rechtlich überprüft, um alle möglichen Fehler zu finden. Allerdings soll er den ihm bekannt gegebenen Bescheid wenigstens von vorne bis hinten lesen und zur Kenntnis nehmen (vgl. Padé, a.a.O. Rn. 90). Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss; dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insb. nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff). Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können "Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung", auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grobfahrlässigen Nichtwissens sind, Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind (vgl. (BSG, Urt. v. 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R - SozR 3-1300 § 45 Nr. 45, juris Rdnr. 23 m.w.N.). Nimmt die Behörde einen fehlerhaften Sachverhalt an, ist die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis davon dann relevant, wenn der Begünstigte daraus erkennen musste, dass die Behörde aufgrund des falschen Sachverhalts auch eine rechtswidrige Schlussfolgerung gezogen hat, ihm mithin die Begünstigung nicht zusteht. Insofern genügt eine Parallelwertung in der Laiensphäre (vgl. Padé, a.a.O., Rn. 94).

Es war für den Kläger erkennbar, dass die Auskunft vom 18.04.2016 und der Bescheid vom 21.10.2016 offensichtlich völlig unzureichend die Regelungen aus dem Versorgungsausgleich berücksichtigten. Angesichts der Bedeutung der Alterssicherung und der großen Unterschiede zur EHV-Anwartschaft vor und nach dem Versorgungsausgleich hätte dem Kläger die fehlerhafte Berechnung der Beklagten auffallen müssen.

Bereits im Scheidungsverfahren vor dem Amtsgericht Melsungen war der Versorgungsausgleich und damit die Höhe bestehender Anwartschaften und evtl. Ausgleichsansprüche Gegenstand des Verfahrens. Nach dem Beschluss des Amtsgerichts Melsungen vom 25.10.2011 war dem Kläger von der seinerzeit bestehenden EHV-Anwartschaft in Höhe von 2.293,48 EUR bzw. 14,8153 % ein Betrag in Höhe von 921,41 EUR bzw. ein Anspruchssatz von 7,4076 % abzuziehen. Im Gegenzug waren ihm vom EHV-Konto seiner Ehefrau lediglich 99,47 EUR bzw. 0,7996 % zu übertragen. Im Ergebnis bedeutete dies einen Verlust aufgrund des Versorgungsausgleichs von 821,94 EUR bzw. bzgl. des Anspruchssatzes von 6,6080 %. Die ihm verbliebene EHV-Anwartschaft bestand - zum Zeitpunkt für den Versorgungsausgleich 31.12.2010 - noch in Höhe von 1.471,54 EUR bzw. 8,2073 %. Der Euro-Betrag drückt dabei die reale Größe der EHV-Anwartschaft aus. Der Verlust der realen Anwartschaft in Euro betrug damit annähernd 36 %. Von daher hätte bereits die Diskrepanz zur Höhe der in Euro genannten EHV-Anwartschaft in der Auskunft vom 18.04.2016 und des EHV-Anspruchs im Bescheid vom 21.10.2016 auffallen müssen, da die Steigerung von 1.471,54 EUR auf - nach der Auskunft vom 18.04.2016 - 3.089,31 EUR zum Januar 2017, innerhalb von sechs Jahren also um 1.617,77 EUR bzw. 110 %, keinesfalls allein auf die weitere vertragsärztliche Tätigkeit des Klägers und allgemeinen Steigerungen der EHV beruhen konnte. In der Auskunft wird zudem der Prozentsatz zur Verringerung des EHV-Anspruchs des Klägers mit 0,7996 % angegeben, was der im Scheidungsurteil angegebene Ausgleichsanspruch des Klägers gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau ist. Auch dies fällt ohne genauere Kenntnis der EHV-Berechnung auf. Lediglich im Bescheid vom 21.10.2016 wird der Abzug durch den Versorgungsausgleich aufgrund der Berechnungsumstellung auf Punktebasis angegeben, was im Detail nur mit Kenntnis der Umrechnungsgrößen nachvollziehbar ist. Auffallend ist jedoch, dass für den Kläger der Höchstanspruchssatz von 14.000 Punkten gilt, der nur um 533,0661 Punkte, also um 3,8 % vermindert wird. Es hätte daher bereits nach der Erteilung der Auskunft nahegelegen nachzufragen, ob der Versorgungsausgleich durch die Beklagte ausreichend berücksichtigt worden sei.

Soweit der Kläger sich nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, konnte die Beklagte den Bescheid vom 21.10.2016 jedenfalls für die Zukunft abändern.

Die Rücknahme eines Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann innerhalb von zwei Jahren erfolgen (§ 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X). Die Beklagte hat den Bescheid vom 21.10.2016 mit dem angefochtenen Bescheid vom 04.09.2017 und damit bereits innerhalb eines Jahres aufgehoben.

Eine Anhörung (§ 24 SGB X) des Klägers ist jedenfalls durch die Möglichkeit zur Widerspruchseinlegung erfolgt.

Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.

Die Rücknahme von Verwaltungsakten eröffnet der Behörde Ermessen. Die Beklagte hat ausführlich dargelegt, dass und wie sie die Interessen der Allgemeinheit und des Begünstigten miteinander abwägt. Soweit dem Kläger kein Vertrauensschutz zusteht, kann er sich nicht darauf berufen, er habe im Vertrauen auf die Auskunft und den EHV-Bescheid seine Praxis aufgegeben.

Eine wirtschaftliche Härte für den Adressaten des Rücknahmebescheides allein führt nicht zur Fehlerhaftigkeit der Rücknahme. Anders aber, wenn die Rückforderung einen existenzvernichtenden Eingriff für den Betroffenen bedeutet. Hieran sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. Merten in: Hauck/Noftz, SGB, 04/18, § 45 SGB X, Rn. 111). Der Kläger hat lediglich auf Vermögenseinbußen aufgrund des Verzichts auf die Zulassung hingewiesen. Eine wirtschaftliche Härte wird damit nicht dargelegt.

Im Rahmen der Ermessenserwägungen ist zu berücksichtigen, ob die Unrichtigkeit des Bewilligungsbescheides allein in den Verantwortungsbereich der Beklagten fällt (vgl. BSG, Urt. v. 05.11.1997 - 9 RV 20/96 - BSGE 81, 156-161 = SozR 3-1300 § 45 Nr. 37, juris Rdnr. 22). Die Beklagte hat selbst insb. bereits im angefochtenen Widerspruchsbescheid ihren Fehler eingeräumt und innerhalb ihrer Ermessensüberlegungen berücksichtigt. Von daher kann hier dahinstehen, ob es sich bei dem Verwaltungsfehler um einen "normalen" Verwaltungsfehler ohne abwägungsrelevanten Belang handelt, da Fehler der Verwaltung den Regelfall der Anwendung des § 45 SGB X darstellen. Jedenfalls kann ein "normaler" Verwaltungsfehler die Annahme schutzwürdigen Vertrauens des Begünstigten in den Fortbestand eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nicht rechtfertigen, wenn in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zu der Verantwortlichkeit der Behörde für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts eine solche des Begünstigten hinzutritt (vgl. BSG, Urt. v. 30.10.2013 - B 12 R 14/11 R - SozR 4-1300 § 45 Nr. 15, Rdnr. 32 ff.).

Soweit die Beklagte von einer Aufhebung für die Vergangenheit absieht, obwohl mit § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X insoweit dieselben Voraussetzungen gelten, wird der Kläger begünstigt. Dies ist zwar widersprüchlich, eine zur Aufhebung führende Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids folgt hieraus nicht.

Im Ergebnis war die Klage daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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