L 9 AS 2376/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AS 2110/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 2376/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 18. Juli 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen eine Anhörung zur beabsichtigten Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1968 geborene Klägerin bezieht seit dem 01.06.2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von der Beklagten. Sie bewohnt eine 64,89 m² große Wohnung, für die eine Gesamtmiete einschließlich Nebenkosten in Höhe von monatlich 440,00 EUR zu entrichten ist. Bis zum 30.11.2018 stand sie in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis bei dem Sozialen Netzwerk S., ab dem 17.09.2018 bezog sie Krankengeld.

Mit Bescheid vom 15.05.2018 wurden ihr vorläufig für die Zeit vom 01.06.2018 bis 30.11.2018 monatlich 398,54 EUR bewilligt, wobei neben dem Regelbedarf von 416,00 EUR ein Mietanteil von 380,00 EUR und ein Heizkostenanteil von 42,54 EUR berücksichtigt und nach Abzug der Freibeträge Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit in Höhe von 440,00 EUR angerechnet wurde. Nach Vorlage von Gehaltsbescheinigungen wurden mit Änderungsbescheid vom 12.06.2018 für Juni 2018 450,79 EUR und mit Änderungsbescheid vom 05.10.2018 für die Monate Juli und August 2018 454,25 EUR und für September 2018 672,51 EUR bewilligt. Mit Bescheid vom 24.10.2018 gewährte die Beklagte der Klägerin vorläufig für die Zeit vom 01.12.2018 bis 31.05.2019 Leistungen in Höhe von monatlich 462,00 EUR unter Berücksichtigung des Regelbedarfs von 416,00 EUR, eines Mietanteils vom 355,00 EUR, Nebenkosten von 85,00 EUR und Heizkosten in Höhe von 46,00 EUR sowie Anrechnung von Einkommen in Höhe von 440,00 EUR. Nachdem die Klägerin mitgeteilt hatte, dass ihr befristeter Arbeitsvertrag nicht über den 30.11.2018 hinaus verlängert worden sei, gewährte die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 01.03.2019 für die Monate März bis Mai 2019 (weiterhin vorläufig) monatlich 910,00 EUR.

Mit ihrem Folgeantrag vom 05.03.2019 legte die Klägerin eine Mitteilung der A. vom 11.10.2018 vor, aus der hervorgeht, dass die Klägerin seit 17.09.2018 Krankengeld in Höhe von kalendertäglich 15,95 EUR erhält.

Mit Schreiben vom 04.06.2019 ("Anhörung nach § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch" [SGB X]) teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie nach ihren Erkenntnissen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in den Monaten September 2018 bis Mai 2019 in Höhe von 1.611,30 EUR zu Unrecht bezogen habe. Grund für die Überzahlung sei der Bezug von Krankengeld im Zeitraum ab dem 17.09.2018 gewesen. Im September 2018 sei nur der Septemberlohn berücksichtigt worden, ab Oktober 2018 bis Februar 2019 ein fiktives Nettoeinkommen in Höhe von 700,00 EUR. Unter Berücksichtigung des täglichen Krankengeldes in Höhe von 15,95 EUR ab dem 17.09.2018 sei bis zum 31.05.2019 eine Überzahlung entstanden. Die überzahlten Leistungen in Höhe von insgesamt 1.611,30 EUR seien zu erstatten; bevor eine abschließende Entscheidung getroffen werde, erhalte die Klägerin Gelegenheit, sich zu dem Sachverhalt zu äußern.

Mit Schreiben vom 17.06.2019 widersprach die Klägerin "dem Schreiben vom 04.06.2019 - Anhörung -". Sie habe immer zutreffende Angaben gemacht und auch alle Unterlagen vollständig übersandt. Auch der zuständige Sachbearbeiter habe sich dahingehend geäußert, dass sie sich immer korrekt verhalten habe und ein internes Problem vorgelegen habe. Demnach trage sie für das Entstehen der Erstattungsforderung keine Verantwortung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.06.2019 verwarf die Beklagte den Widerspruch als unzulässig. Bei dem Schreiben vom 04.06.2019 handle es sich um eine Anhörung, mit der der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Geltendmachung einer Erstattungsforderung eingeräumt worden sei. Ein Verwaltungsakt liege nicht vor, da eine Entscheidung über den Erstattungsanspruch mit der "Anfrage" vom 04.06.2019 noch nicht getroffen worden sei.

Am 21.06.2019 hat die Klägerin beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) "gegen den Bescheid vom 17.06.19 Widerspruch" eingelegt und zur Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen für die Geltendmachung einer Erstattungsforderung lägen nicht vor. Der in dieser Sache ebenfalls beim SG gestellte Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (S 4 AS 2080/19) ist mit Beschluss vom 25.06.2019 abgelehnt worden.

Nach vorheriger Anhörung hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.07.2019 abgewiesen. Die Klage sei bereits unzulässig. Das mit "Widerspruch" bezeichnete Schreiben der Klägerin sei nach dem Meistbegünstigungsprinzip als Klage gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 17.06.2019 auszulegen. Die Klage habe aber aus den im Widerspruchsbescheid genannten Gründen keinen Erfolg, da eine die Klägerin belastende Regelung in Form eines Verwaltungsaktes bisher nicht vorliege. Es fehle daher an einem Rechtsschutzbedürfnis. Dies sei für die Klägerin ohne Schwierigkeiten erkennbar, da das Schreiben vom 04.06.2019 mit "Anhörung" überschrieben sei und mit der Formel ende, dass vor einer abschließenden Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werde. Die Klägerin habe dies auch erkannt, da sie ihren Widerspruch ausdrücklich gegen das "Schreiben vom 04.06.2019 - Anhörung -" gerichtet habe. Zudem habe die Beklagte in dem angegriffenen Widerspruchsbescheid unmissverständlich klargestellt, dass eine bindende Entscheidung über die Geltendmachung der Erstattungsforderung noch nicht getroffen worden sei und es sich insoweit bei dem Schreiben vom 04.06.2019 lediglich um eine - nicht mit dem Widerspruch angreifbare - Anhörungsmitteilung handle. Sofern Anlass für Missverständnisse etwa in der Formulierung "Die aufgeführten Leistungen sind gemäß § 50 SGB X zu erstatten" gesehen werden sollte, sei darauf zu verweisen, dass das Schreiben vom 04.06.2019 seine abschließende Fassung durch den Widerspruchsbescheid erhalten habe, der das Vorliegen einer bloßen Anhörung klarstelle.

Gegen den ihr am 20.07.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 21.07.2019 Berufung eingelegt. Sie widerspreche allen Bescheiden des SG und der Beklagten. Ihr sei geschrieben worden, dass sie zu viel Geld bekommen habe und dieses zurückgefordert werde. Dies weise sie entschieden zurück. Sie habe immer mitgewirkt und fristgerecht widersprochen. Dem Bescheid vom 04.06.2019, mit dem ihr Leistungen für die Monate Juni 2019 bis Mai 2020 in Höhe von 461,50 EUR bewilligt worden seien, habe sie widersprochen, da die Leistungen zu niedrig seien. Das Existenzminimum liege bei 1.180,00 EUR. Sie könne sich davon lediglich Lebensmittel kaufen, aber keine Krankengymnastik, keine Fahrkarten für Vorstellungsgespräche und keine Kleider. Eine Räumungsklage habe sie wegen der niedrigen Leistungen schon gehabt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 18. Juli 2019 sowie das Schreiben der Beklagten vom 4. Juni 2019 und den Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid und im Gerichtsbescheid des SG. Soweit die Klägerin nun den Bewilligungsbescheid vom 04.06.2019 vorlege und vortrage, die bewilligten Leistungen seien nicht ausreichend, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, werde darauf hingewiesen, dass der hiergegen erhobene Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.07.2019 als unbegründet zurückgewiesen worden sei. Klage hiergegen sei noch nicht erhoben worden. Das Berufungsverfahren sei diesbezüglich unzulässig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung der Klägerin ist zulässig; Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung ist aber nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 18.07.2019 ist nicht zu beanstanden; das SG hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen.

Das SG hat das am 21.06.2019 als "Widerspruch" bezeichnete Schreiben zu Recht als Klage ausgelegt, da die Klägerin allein dadurch, dass sie das Schreiben an das SG gesandt hat, hinreichend deutlich gemacht hat, gerichtliche Überprüfung und Rechtsschutz und keine erneute Überprüfung durch die Behörde geltend zu machen (vgl. zur Auslegung B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 90 Rdnr. 4a, m.w.N.).

Die Klage ist unzulässig. Gemäß § 54 Abs. 1 SGG kann durch Klage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsaktes beschwert zu sein. Die Anfechtungsklage ist hier unzulässig, da das Anhörungsschreiben vom 04.06.2019 keinen Verwaltungsakt darstellt. Verwaltungsakt ist gemäß § 31 SGB X jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Vorbereitungshandlungen, wie etwa Anhörungen, die Erteilung von rechtlichen Hinweisen oder die Aufforderung bestimmte Mitwirkungshandlungen vorzunehmen, bewirken regelmäßig noch keine Veränderungen der Rechtsposition. Sie sind als sog. Realakte darauf gerichtet, lediglich einen tatsächlichen Erfolg und (noch) keinen "Rechtserfolg" herbeizuführen. Ihr Ziel beschränkt sich darauf, die möglichen Voraussetzungen für eine Regelung und damit für einen Verwaltungsakt erst zu schaffen. Bei der hier vorliegenden Anhörung nach § 24 SGB X handelt es sich um eine solche vorbereitende Handlung, die keine selbstständig durchsetzbare oder mit Sanktion verbundene Anordnung enthält (Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 31 Rdnr. 26, Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 54 Rdnr. 23).

Sowohl aus der Betreffzeile ("Anhörung nach § 24 SGB X") als auch aus dem weiteren Text des Schreibens vom 04.06.2019 ist unmissverständlich zu entnehmen, dass die Beklagte mit dem Schreiben noch keine abschließende Regelung treffen, sondern der Klägerin die Möglichkeit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Entscheidung einräumen wollte. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Satz: "Bevor wir eine abschließende Entscheidung treffen, geben wir Ihnen hiermit Gelegenheit, sich zu dem Sachverhalt zu äußern" und folgt auch aus den Hinweisen zur Rückzahlung ("für den Fall, dass die Leistungen zu erstatten sind"). Eine Entscheidung über die Aufhebung und Erstattung von Leistungen ist nicht getroffen worden und die Klägerin durch die Anhörung nicht beschwert.

Die Beklagte hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.06.2019 daher zu Recht nach § 62 SGB X i.V.m. § 78 Abs. 1 SGG als unzulässig verworfen und damit auch nicht aus einer schlichten Willenserklärung einen Verwaltungsakt gemacht (vgl. dazu B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 85 Rdnr. 7a, m.w.N.).

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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