S 31 R 766/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
31
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 31 R 766/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 36/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 74/18 B
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid
Der Bescheid der Beklagten vom 03.12.2014 und der Widerspruchsbescheid vom 29.10.2015 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Halbwaisenrente im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für die Zeit vom 01.11.2010 bis 28.10.2012 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Das beklagte Land hat 3/4 der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Halbwaisenrente vom 05.02.2010 bis 28.10.2012. Am 09.03.2010 beantragte die Mutter des Klägers die Gewährung einer Witwenrente aus der Versicherung des am xx.xx.2010 verstorbenen Dr. C. A. Sie gab auf Seite 6 des Antrages an, dass sie den 1995 geborenen Kläger als leibliches Kind habe. Die entsprechende Rente wurde bewilligt.

Am 18.11.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Halbwaisenrente. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 03.12.2014 abgelehnt mit der Begründung, dass der Kläger das Höchstalter von 27 Jahren bereits überschritten habe. Hiergegen wandte sich der Kläger mit Widerspruch vom 27.12.2014. Er legte dar, dass ihm ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zustehe, eine Pflichtverletzung seitens der Beklagten liege nicht vor, sie müsse sich aber die Pflichtverletzung der D. AG zurechnen lassen. Er habe dort seinen Rentenanspruch bereits im April 2010 angemeldet. Dabei sei nicht nur sein Antrag dort jahrelang verzögert und nicht bearbeitet worden. Er sei auch nicht darauf hingewiesen worden, dass ihm ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung zustehe. Es habe eine Spontanberatungspflicht vorgelegen, die von den Mitarbeitern der D. AG nicht wahrgenommen worden sei. Auch anlässlich der Rentenberatungen bei der Stadtverwaltung hätte seine Mutter auf die Ansprüche der Kinder des verstorbenen Ehemannes, also seine und die seiner Schwester hinweisen müssen. Die Beklagte holte Auskünfte bei der Stadtverwaltung E-Stadt ein, die jedoch keine Aufzeichnungen zur Antragstellung vorlegen konnte. Am 29.10.2015 erging zurückweisender Widerspruchsbescheid. Es wurde zur Begründung auf den Beginn der Waisenrente nach § 99 Abs. 2 SGB VI hingewiesen und dargelegt, dass die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht erfüllt seien. Der von der Rechtsprechung entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch sei auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder eines konkreten Sozialrechtsverhältnisses dem Versicherten gegenüber erwachsene Pflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung ordnungsgemäß wahrgenommen hätte. Des Weiteren wurden die Voraussetzungen für den Rechtsanspruch auf Wiedereinsetzung referiert. Es wurde dargelegt, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur möglich sei, wenn der Kläger ohne sein Verschulden verhindert gewesen sei, die gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Hierfür habe er keine ausreichenden Gründe geltend gemacht. Grundsätzlich müsse sich die Deutsche Rentenversicherung Bund eine fehlerhafte Beratung des Stadt E-Stadt zurechnen lassen, in einen solchen Fall könne durchaus ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bestehen. Der Kläger sei im Jahre 2010 bereits volljährig gewesen. Es sei weder nachgewiesen noch behauptet, dass er seiner Mutter eine Vollmacht für die Einholung von Auskünften erteilt habe. Beratungspflichten der Mutter gegenüber hinsichtlich eines möglichen Waisenrentenanspruchs hätten daher zu keinem Zeitpunkt bestanden. Aus diesem Grund liege kein zurechenbares Fehlverhalten der Stadt E-Stadt mit der Folge eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vor.

Am 24.11.2015 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben, mit der er die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Halbwaisenrente für die Zeit vom 05.02.2010 bis 28.10.2012 begehrt. Er ist weiterhin der Ansicht, dass die Beklagte ihn nach seinen Anspruch hätte hinweisen müssen. Aus den Akten heraus habe die Beklagte gewusst, dass der verstorbene Vater zwei Kinder gehabt habe und zum anderen, dass von die von seiner Mutter zur Beratung angefragte Stadt E-Stadt es unterlassen habe, seine Mutter auf etwaige Rentenansprüche der Kinder hinzuweisen, obwohl diese ausdrücklich auch für die Kinder nachgefragt habe. In der Beantragung eigener Rechtsansprüche durch die Mutter liege gleichzeitig auch das Ansinnen, für die Kinder dieses nachzuvollziehen. Der Hinweis auf eine angebliche Vollmacht gehe fehl. Seine Mutter sei bei der Stadt natürlich im Einverständnis der Kinder erschienen und damit mit deren Vollmacht. Natürlich hätte sie eine solche Vollmacht auch nachreichen können, so sie denn aus der Sicht der Stadt E-Stadt erforderlich gewesen wäre.

Der Kläger beantragt,
den Widerspruchsbescheid vom 29.10.2015 und dem Bescheid vom 03.12.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Halbwaisenrente gemäß § 99 Abs. 2 SGB VI vom 05.02.2010 bis 28.10.2012 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Nach wie vor ist sie der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine Bevollmächtigung der Mutter nicht vorgelegen hätten, da die elterliche Sorge über ein minderjähriges Kind auch die gesetzliche Vertretung desselben umfasse. Mit Eintritt der Volljährigkeit erlösche das elterliche Sorgerecht. Die Eltern seien von diesem Zeitpunkt an zur gesetzlichen Vertretung des Kindes nicht mehr berechtigt. Sie können rechtswirksam für das Kind nur noch handeln und Leistungen entgegennehmen, wenn sie dazu bevollmächtigt seien. Der Kläger sei 1985 geboren worden und habe das 18. Lebensjahr 2003 vollendet. Der Kläger hat Studienbescheinigungen für den Zeitraum vom 01.10.2009 bis 31.03.2013 vorgelegt.

Die Verwaltungsakte wurde dem Verfahren beigezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sachverhaltsaufklärung und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte, die Gegenstand der Entscheidung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte vorliegend durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil der Rechtsstreit keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist und das Gericht den Sachverhalt als geklärt ansieht.

Der Klageanspruch ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Nach § 48 SGB VI (Sozialgesetzbuch, 6. Buch) wird Waisen- bzw. Halbwaisenrente gewährt an Kinder, die nach dem Tod eines Elternteils noch ein Elternteil haben, der unbeschadet der wirtschaftlichen Verhältnisse unterhaltspflichtig ist und der verstorbene Elternteil die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Nach § 48 Abs. 4 besteht der Anspruch auf Halbwaisenrente längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wenn der Waise sich in der Schul- oder Berufsausbildung befindet. Vorliegend ist der Vater des Klägers 2010 verstorben, der Kläger ist Halbwaise. Der verstorbene Vater hat die allgemeine Wartezeit erfüllt. In der hier streitigen Zeit vom Februar 2010 bis Oktober 2012 befand sich der Kläger in einer Schulausbildung bzw. in einem Studium. Er vollendete, da am xx.xx.1995 geboren, im Oktober 2012 sein 27. Lebensjahr.

Damit sind die tatbestandlichen Voraussetzungen zu Gewährung einer Halbwaisenrente für die hier streitige Zeit bei dem Kläger erfüllt. Es mangelt jedoch an einem Antrag, der hier erst am 18.11.2014 gestellt wurde. Grundsätzlich wird nach § 99 SGB VI Rente nur auf Antrag geleistet.

Vorliegend sind jedoch die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gegeben. Der Herstellungsanspruch hat einen dreigliedrigen Tatbestand. Er fordert das Vorliegen einer Pflichtverletzung, die dem zuständigen Sozialleistungsträger zuzurechnen ist. Dadurch muss beim Berechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden eingetreten sein. Schließlich muss durch Vornahme einer Amtshandlung des Trägers der Zustand wiederhergestellt werden können, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre (Ständige Rechtsprechung; z.B. BSG, Urteil vom 03.04.2014-B 5 R 5/13 R).

Zunächst ist also zu prüfen, ob eine Pflichtverletzung der Beklagten vorliegt. Die erkennende Kammer geht davon aus, dass anlässlich der Antragstellung der Mutter des Klägers die Voraussetzung für eine Spontanberatung hinsichtlich einer Halbwaisenrente des Klägers gegeben war. Der Argumentation der Beklagten, dass die Mutter keine Vollmacht für die Einholung von Auskünften betreffend den Kläger gehabt habe, vermag die erkennende Kammer nicht zu folgen. Wie bereits § 73 Abs. 2 Satz 2 SGG regelt, dass bei Ehegatten oder Lebenspartnern und Verwandten in gerader Linie die Bevollmächtigung unterstellt werden kann, gilt dies auch für das Verwaltungsverfahren (siehe BT Drucksache 8/2034, Seite 31 und § 73 Abs. 2 SGG). Auch im Text mit Erläuterung zum SGB X, neu herausgegeben von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Landesversicherungsanstalten, Bundesknappschaft und Verband deutscher Rentenversicherungsträger ist in § 13 SGB X Randnummer 3 nachzulesen, dass bei Ehegatten und Verwandten in gerader Linie vermutet werden kann, dass sie bei einem Auftreten für den anderen bevollmächtigt sind, so dass es in der Regel bei diesem keines schriftlichen Vollmachtsnachweises bedarf. Wie sich aus dem Antrag auf Hinterbliebenenrente der Mutter des Klägers vom 09.03.2010 ergibt, wurde dort als Kind der Kläger benannt unter Angabe des Geburtsdatums, die Elterneigenschaft wurde von der Stadt E-Stadt am 08.03.2010 bestätigt. Damit war spätestens bei Antragstellung klar, dass noch ein anspruchsberechtigter Hinterbliebener, nämlich der Kläger existierte. Spätestens hier ergab sich für die Beklagte eine spontane Beratungspflicht hinsichtlich des Anspruchs des Klägers auf Halbwaisenrente. Möglicherweise, was hier nicht weiter ausgeführt werden muss, bestand diese Beratungspflicht schon durch die Stadt E-Stadt. In jedem Fall war bei Antragstellung in Kenntnis des noch lebenden hinterbliebenen Kindes, des Klägers, Anlass für eine spontane Beratung gegeben. Diese ist nicht erfolgt, darin besteht die von dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geforderte Pflichtverletzung, die der Beklagten auch zuzurechnen ist, da sie den Antrag bearbeitet hat. Der Kläger hätte bei rechtzeitiger Antragstellung Halbwaisenrente erhalten, folglich ist durch die Pflichtverletzung ein Schaden eingetreten. Durch die nachträgliche Bewilligung der Halbwaisenrente kann der Zustand wiederhergestellt werden, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre.

Beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ist rückwirkende Leistungserbringen auf vier Jahre begrenzt. Die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB VI ist insoweit entsprechend anzuwenden (BSG, Urteil vom 27.03.2007 Az.: B 13 R 58/06 R). Zur Begründung hat das BSG darauf abgestellt, dass sowohl bei der nachträglichen Korrektur eines bindendem belastenden Verwaltungsaktes (§ 44 SGB X) als auch beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch eine vergleichbare Interessenlage besteht. In beiden Fällen wird vom Leistungsträger das Recht unrichtig angewandt und in beiden Fällen hat dies zur Folge, dass der Leistungsberechtigte nicht die ihm zustehende Leistung erhält. Auf Verschulden des Leistungsträgers kommt es nicht an. Aus diesem Gründen kann es für den zeitlichen Umfang der rückwirkenden Leistungen nicht wesentlich sein, ob der Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagt oder er aus anderen ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss hat kommen lassen. Die beiden Fallgruppen erfordern daher die Gleichbehandlung, so das BSG. Die erkennende Kammer schließt sich dieser Rechtsprechung an. Der Antrag des Klägers wurde am 18.11.2014 gestellt, unter Rückrechnung von vier Jahren steht ihm daher im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs Halbwaisenrente von November 2010 bis Oktober 2012, dem Monat der Vollendung des 27. Lebensjahres zu.

Nach Vorstehendem war zu entscheiden wie folgt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt den Anteil von Obsiegen und Verlieren.
Rechtskraft
Aus
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