L 20 AS 1254/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 16 AS 624/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 20 AS 1254/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 86 b Abs. 1 S 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist trotz des Standorts in Abs. 1 des § 86 b SGG auch für Vornahmesachen nach Abs. 2 anwendbar.
Zuständig für die Abänderung nach § 80 Abs. 1 S. 4 SGG ist das Gericht der Hauptsache.
Gericht der Hauptsache ist im Verfahren einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 3 SGG das Gericht des ersten Rechtszugs und, (nur) wenn die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, das Berufungsgericht
Das SG ist zuständiges Gericht der Hauptsache, auch wenn das Beschwerdegericht den Beschluss des SG geändert hatte
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 31. Mai 2019 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Neuruppin zurück verwiesen. Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bewilligt und Rechtsanwalt U G, K Straße, N, beigeordnet.

Gründe:

I.

Mit Beschluss vom 27. November 2018 im Rechtsstreit S 16 AS 1494/18 ER hatte das Sozialgericht Neuruppin einen Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Mit Beschluss vom 7. Februar 2019 (L 20 AS 2275/18 BER) hat der Senat als Beschwerdegericht diesen Beschluss aufgehoben und den Antragsgegner vorläufig verpflichtet, darlehnsweise Leistungen nach dem SGB II in Höhe von jeweils 60,36 Euro für die Zeit vom 7. Februar 2019 bis 28. Februar 2019 und in Höhe von jeweils 82,68 Euro monatlich für die Zeit vom 1. März bis 31. Juli 2019 zu gewähren.

Mit an das Landessozialgericht gerichtetem Antrag vom 1. April 2019 hatten die Antragsteller die Änderung der vom Senat getroffenen Regelungen verlangt, da die Bedarfe nicht korrekt ermittelt worden seien. Auf Anregung des Senats, diesen Antrag stattdessen beim Gericht der Hauptsache zu stellen, nahmen die Antragsteller den Antrag zurück (L 20 AS 584/19 B ER WA).

Am 24. April 2019 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Neuruppin die Abänderung der Entscheidung des Landessozialgerichts beantragt, mit dem Ziel der Einbeziehung weiterer Bedarfe in die Darlehensgewährung, insbesondere von Bedarfen für die Unterkunft und ohne die Anrechnung eines nach Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nicht mit zugeflossenen Erwerbseinkommens.

Das Sozialgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 31. Mai 2019 abgelehnt.

Der Antrag sei unzulässig, weil das angerufene Gericht nicht entscheidungsbefugt für die Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Beschwerdegerichts sei.

Das Gericht habe im Verfahren nach § 86b Abs. 1 S. 4 SGG die gleiche Prüfung wie bei einem originären Antrag nach § 86b Abs. 1 S. 1 SGG durchzuführen. Das Gericht der Hauptsache müsste danach eine im Instanzenzug ergangene einstweilige Anordnung mit identischem Streitgegenstand bereits dann aufheben, wenn es sie für nicht zutreffend hielte. Eine solche Befugnis zur Aufhebung obergerichtlicher Entscheidungen regle das Verfahrensrecht gerade nicht, vielmehr entscheide das Beschwerdegericht abschließend über den Beschwerdegegenstand.

Die Abänderungsbefugnis nach § 86b Absatz 1 S. 4 SGG beziehe sich im Übrigen unzweideutig nur auf das Verfahren nach § 86b Abs. 1 und nicht auf das Anordnungsverfahren nach Absatz 2. Auch fehle es im vorliegenden Fall an einer einstweiligen Anordnung des Sozialgerichts als Gericht der Hauptsache, die abgeändert werden könnte. Das erkennende Gericht habe eine Anordnung gerade nicht getroffen und dürfe auch in die Anordnung des Beschwerdegerichts nicht eingreifen. Hätte der Gesetzgeber eine Aufhebungsbefugnis etablieren wollen, wäre ihm dies ohne weiteres möglich gewesen. Dass dies nicht – auch nicht bei der Änderung des § 86b Abs. 2 S. 4 SGG mit Wirkung zum 25. Oktober 2013 – geschehen sei, dürfe nicht durch eine analoge Anwendung des § 86b Abs. 1 S. 4 SGG oder durch eine analoge Anwendung de § 927 Abs. 1 ZPO unterlaufen werden.

Die Antragsteller haben gegen dem ihrem Prozessbevollmächtigten am 5. Juni 2019 zugestellten Beschluss am 5. Juli 2019 Beschwerde eingelegt. Sie folgen der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts, dass eine Abänderung des Beschlusses des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. Februar 2019 durch das erstinstanzliche Gericht der Hauptsache zu erfolgen habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der der Gerichtsakte, sowie der beigezogenen Gerichtsakte zu den Verfahren S 16 AS 1494/18 ER / L 20 AS 2275/18 B ER, L 20 AS 584/19 B ER WA und des Verwaltungsvorgangs des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 31. Mai 2019 ist zulässig und begründet. Auf die Beschwerde war der Rechtsstreit an das zuständige Sozialgericht Neuruppin zur Entscheidung über den Abänderungsantrag vom 24. April 2019 zurückzuverweisen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist ein Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 7. Februar 2019 statthaft. Rechtsgrundlage ist eine analoge Anwendung des § 86 b Abs. 1 S. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Diese Vorschrift ist trotz ihres Standorts in Absatz 1 des § 86 b SGG nach herrschender Meinung auch für Vornahmesachen nach Abs. 2 anwendbar.

Eine Abänderungsmöglichkeit von Eilentscheidungen ist im SGG ausdrücklich zwar nur in § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG für Anfechtungssachen vorgesehen; in § 86b Abs. 2 SGG, der den einstweiligen Rechtsschutz in Vornahmesachen regelt, fehlt dagegen eine entsprechende Bestimmung. Dennoch besteht in Rechtsprechung und Schrifttum Einigkeit darüber, dass auch bei einstweiligen Anordnungen, die der formellen und materiellen Rechtskraft fähig sind, dem im Einzelfall bestehenden Bedürfnis nach Aufhebung oder Abänderung aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG) Rechnung zu tragen ist und ein Abänderungsverfahren statthaft sein muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. März 1995 – 2 BvR 492/95 –, BVerfGE 92, 245-261 mit Verweis auf die Möglichkeit eines Abänderungsverfahrens gem. VwGO § 123 i.V.m. § 80 Abs. 7). Nach herrschender Meinung findet insoweit § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG für einstweilige Anordnungen entsprechende Anwendung (vgl. nur LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Juli 2018 – L 4 KR 4901/17 ER –, Rn. 17, juris m.w.N.; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 16. Juli 2009 – L 8 SO 85/09 B ER –, Rn. 4, juris m.w.N.; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 86b Rn. 45 m.w.N.; BeckOK SozR/Krodel, SGG, § 86b Rn 147 m.w.N.; Hintz/Lowe, SGG, § 86b Rn 151; vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 489 ff, 492 m.w.N.; Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rn. 174 ff. zu § 123; a.A.: Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 86b SGG, Rn. 457 ff, der eine Abänderung einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG nur nach Maßgabe von § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 939 Zivilprozessordnung - ZPO – mithin auch ohne Antrag - für möglich hält).

Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die Maßnahmen jederzeit ändern oder aufheben (§ 86b Abs. 1 Satz 4 SGG).

Die Argumentation des Sozialgerichts, ihm stehe keine allgemeine Befugnis zur Aufhebung obergerichtlicher Entscheidungen zu, verkennt im Übrigen auch, dass § 86 b Abs. 1 Satz 4 SGG in bewusster Abgrenzung zu § 80 Abs. 7 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung einen Antrag erfordert. Dies führt dazu, dass das Gericht eine Überprüfung einer vorangegangenen rechtskräftigen Entscheidung nicht etwa von Amts wegen vornehmen kann (Keller a.a.O., § 86b Rn. 20a m.w.N.). Ob zudem eine Änderung nur bei Änderung der Sach- und Rechtslage möglich ist (so Lowe in Hintz/Lowe, SGG, § 86b Rn 81; anders wohl die h.M., vgl. Keller a.a.O. § 86b Rn 20 m.w.N.), wofür spricht, dass die Vorschrift dazu dienen soll, die gerichtliche Entscheidung einer seit Rechtskraft veränderten Situation anzupassen, wird das Sozialgericht zu prüfen haben.

Im Übrigen hätte das Sozialgericht, wenn es sich für unzuständig hält, den Antrag nicht lediglich ablehnen, sondern gemäß § 98 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 17a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) nach Anhörung der Beteiligten an das seiner Auffassung nach zuständige Gericht verweisen müssen.

Das Sozialgericht ist jedoch das für die Abänderung zuständige Gericht.

Zuständig für die Abänderung nach § 86b Abs. 1 S. 4 SGG ist das Gericht der Hauptsache. Gericht der Hauptsache ist im Verfahren einer einstweiligen Anordnung nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes gemäß § 86b Abs. 2 Satz 3 SGG das Gericht des ersten Rechtszugs und, [nur] wenn die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, das Berufungsgericht. Das Sozialgericht ist zuständiges Gericht der Hauptsache, auch wenn das Beschwerdegericht den Beschluss des Sozialgerichts geändert hatte (Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O. Rn. 492; Kopp/Schenke, VwGO § 80 Rn 200; Keller a.a.O. vgl. auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10. Oktober 2013 – L 7 AS 1144/13 ER –, Rn. 22, juris).

Der Rechtsstreit war danach in entsprechender Anwendung des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Denn der Senat war auch nicht etwa im Rahmen des Beschwerdeverfahrens befugt, erstmals in der Sache über den Abänderungsantrag zu entscheiden, da er nicht Gericht der Hauptsache im Sinne des § 86 b Abs. 2 S. 3 SGG ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten.

Den Antragstellern war Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren antragsgemäß zu bewilligen (§ 73 a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz SGG, § 114 Abs. 1 ZPO).
Rechtskraft
Aus
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