S 14 SB 151/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
14
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 14 SB 151/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2018 verurteilt, den GdB des Klägers ab 27.07.2017 mit 50 festzustellen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger streitet um die Feststellung eines Grades der Behinderung -GbB- von 50; maßgebend ist, ob in den festgestellten gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verschlechterung eingetreten ist.

Bei dem am 00.00.1963 geborenen Kläger hatte die Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 29.12.2012 einen GdB von 40 festgestellt und dabei eine Blutbildungsstörung mit einem Einzel-GdB von 30 sowie eine Funktionsstörung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 20 berücksichtigt; beim Kläger war insoweit in 1992 eine genetisch bedingte Porphyrie, eine Stoffwechselerkrankung, einhergehend mit einer Störung der Biosynthese des roten Blutfarbstoffes im Sinne einer AIP (akute intermittierende Porphyrie) gesichert worden; im Übrigen litt der Kläger langjährig unter einer lumbalen Spinalstenose bei degenerativen Bandscheibenveränderungen in den Lendenwirbelsäulen(LWS)-Segmenten L 2/3 und L 3/4.

Auf seinen am 27.07.2017 gestellten Neufeststellungsantrag holte die Beklagte zur Überprüfung des aktuellen Status Befundberichte des Hausarztes Dr. H, C sowie des Orthopäden Dr. C1, C, ein; nach einem am 27.07.2017 erhobenen MRT stellte sich weiterhin eine Spinalstenose multisegmental dar, weshalb orthopädischerseits eine relative Operationsindikation gesehen wurde. Nach gutachterlicher Auswertung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11.10.2017 es ab, einen höheren GdB festzustellen. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, zwischenzeitlich operativ behandelt worden zu sein. Aus im Folgenden beigezogenen ärztlichen Berichten ergab sich, dass der Kläger im Klinikum Herford am 23.08.2017 operativ behandelt worden war; es wurde eine Bandscheibenentfernung in den LWS-Segmenten L 2/3 und L 3/4 vorgenommen, Bandscheibeninterponate (sog. Cages) eingebracht und eine interne Fixierung vom Segment L 2 bis 4 reichend vorgenommen. Anschließend durchlief der Kläger ein Anschlussheilverfahren in der N-Klinik C2 P (vom 04. bis 25.10.2017). Nach gutachterlicher Auswertung dieser Befundunterlagen durch Dr. X, welcher eine Änderung der Bewertung nicht sah, wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.02.2018 zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich die am 15.02.2018 erhobene Klage. Der Kläger macht geltend, die Bewertung der Funktionseinschränkung der Wirbelsäule weiterhin mit einem Einzel-GdB von 20 sei deutlich zu niedrig, weshalb der Gesamt-GdB auf 50 zu erhöhen sei.

Das Gericht hat nach Maßgabe der Beweisanordnungen vom 17.05.2018 und 29.08.2018 Beweis erhoben und ein fachorthopädisches Gutachten von Amts wegen von Prof. Dr. H1, Klinik N1 in C2 S sowie auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz -SGG- von Dr. T, N2, eingeholt. Prof. Dr. H1 gelangte zu dem Ergebnis, die deutlichen Funktionseinschränkungen nach Spondylodese der LWS bei degenerativen Veränderungen seien als mittelgradige bis schwere funktionelle Einschränkung zu bewerten, wegen Fehlens einer radikulären Symptomatik sei der Einzel-GdB hierfür mit 30 im unteren Bereich, der Gesamt-GdB weiterhin mit 40 festzustellen; demgegenüber vertrat Dr. T die Auffassung, durch den operativen Eingriff sei es nunmehr bei Anschlussdegenerationen in den benachbarten Segmenten zu einer Versteifung in 2 Wirbelsäulensegmenten mit funktionellen Einschränkungen und kyphotischer Fehlhaltung gekommen; im Hinblick auf eine anhaltende lumbale Schmerzsymptomatik und zunehmende Schmerzchronifizierung im Sinne eines Postdiscektomiesyndromes rechtfertige sich eine Bewertung des Wirbelsäulenleidens mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40, gesamt von 50. Auf den näheren Inhalt der Gutachten von Prof. Dr. H1 vom 27.06.2018 und Dr. T vom 01.12.2018 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2018 zu verurteilen, den GdB ab Änderungsantragstellung mit 50 festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie erachtet das Gutachten von Prof. Dr. H1 für überzeugender und weist im Übrigen darauf hin, der Einzel-GdB für die Stoffwechselstörung betrage sowohl heute als als früher 0; nur weil der Bescheid vom 29.12.2012 nicht zurückgenommen werden könne, müsse es bei einem Gesamt-GdB von 40 verbleiben; dabei stützt sie sich auf eine gutachterliche Stellungnahme von Dr. I vom 15.12.2018, welche darauf hinwies, bei latent angeborener Stoffwechselstörung sei ein GdB von 30 nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) erst für klinisch manifeste Erkrankungsausprägungen vorgesehen; der Kläger sei jedoch symptomfreier Genträger.

Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgängen der Beklagten verwiesen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 11.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 des 10. Buches Sozialgesetzbuch -SGB X- ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit sich in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft abzuändern. Die Änderung wird dabei nicht durch einen Vergleich mit dem Inhalt des früheren Bescheides ermittelt, sondern es kommt darauf an, ob in den tatsächlichen Verhältnissen gegenüber dem Zeitpunkt, zu dem der frühere Bescheid erteilt wurde, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Diese Voraussetzungen liegen vor. Eine wesentliche Änderung ist in den tatsächlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 29.10.2012 zugrunde lagen, eingetreten, weshalb der GdB ab Änderungsantragstellung zu erhöhen war. In der bewertungsrelevanten Funktionsstörung der Wirbelsäule ist es nämlich nach operativer Behandlung des Klägers im August 2017 zu einer deutlichen Verschlechterung gekommen.

Das Gericht schließt sich dabei dem überzeugenden Gutachten des auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG gehörten Sachverständigen Dr. T an. Dabei besteht Einigkeit zwischen den Beteiligten, dass der seinerzeitige, sich aus den Behandlungsunterlagen ergebende Funktionsbefund der Wirbelsäule im Sinne einer mittelgradigen Funktionseinschränkung eines Wirbelsäulenabschnittes, nämlich der Lendenwirbelsäule, mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten war. Nunmehr ist der erhobene Funktionsbefund mit einem Einzel-GdB von (knapp) 40 zu bemessen. Dies ergibt sich aus den von Dr. T erhobenen Befunden, wonach eine schwergradige Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule besteht. Wie nicht anders nach operativer Versteifung mehrerer Wirbelsäulensegmente zu erwarten war, stellte sich die Entfaltung der Lendenwirbelsäule (Messtrecke nach Schober) annähernd aufgehoben im Sinne einer Versteifung dar; ferner war die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule in Seitneigung und Rotation deutlich eingeschränkt; abweichend zu Prof. Dr. H1 war im Übrigen festzustellen, dass die Entfaltung der Brustwirbelsäule bei nunmehr aufgehobener Brustkyphose (Flachrücken) deutlich beeinträchtigt war (Messstrecke nach Ott), was Wiederspiegelung findet in gleichen, im Rahmen des Heilverfahrens in der N-Klinik erhobenen Befunden. Hinzu kommen auch gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. H1 geltend gemachte einschießende Schmerzen (Schlag in den Rücken) bei Inklination der Wirbelsäule, was sich im Sinne eines Postdiscektomiesyndromes begründet auf Vernarbungen postoperativ und muskulären Insuffizienzen bei statischer Fehlbelastung. Folge sind belastungsabhängig auftretende neurologische Störungen, wenn auch hier zu konstatieren ist, dass radikuläre Symptome weder in der gutachterlichen Untersuchung durch Prof. Dr. H1 als auch Dr. T, wie auch sensomotorische Defizite nicht nachweisbar waren. Hierfür ist ein GdB von 30 (stark) bzw. 40 (schwach) zu vergeben. Die maßgebenden Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung) bestimmen insoweit in Teil B Ziffer 18.9 das Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt einen Einzel-GdB von 30, mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in 2 Wirbelsäulenabschnitten einen GdB von 30 bis 40 rechtfertigen, wobei darauf hingewiesen wird, dass anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen oder auch intermittierende Störungen bei Spinalkanalstenose ebenso zusätzlich zu berücksichtigen sind wie auch bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen, insbesondere bei einem Postdiscektomiesyndrom, ein GdB über 30 in Betracht kommen kann. Ausgehend hiervon ist im Vergleich zum seinerzeitigen, dem Bescheid vom 29.10.2012 zugrundeliegenden Funktionsbefund, eine deutliche Veränderung eingetreten, die eine Höherbewertung des Einzel-GdB von 20, zumindest mit 30, eher mit 40 rechtfertigt. Dies wird zuletzt jedenfalls ausweislich der gutachterlichen Stellungnahmen von Dr. I, beklagtenseits offensichtlich auch nicht mehr in Abrede gestellt.

Dementsprechend ist der seinerzeit -bindend- mit 40 festgestellte GdB auf 50 zu erhöhen. Dabei ist durchaus zutreffend der Hinweis der Beklagten, dass sich die Blutbildungsstörung des Klägers (besser: Stoffwechselstörung) weder heute noch seinerzeit funktionell auswirkt, d.h. eine klinisch manifeste Erkrankungsausprägung der angeborenen Stoffwechselstörung weder jetzt noch in der Vergangenheit vorlag, aus den maßgebenden Befundunterlagen, die in die seinerzeitige Bewertung der Stoffwechselstörung mit einem Einzel-GdB von 30 einflossen, sind typische Erkrankungssymptome einer wie beim Kläger vorliegenden hepatischen AIP, etwa einhergehend mit Attacken plötzlich starker Bauchschmerzen, nicht zu sichern; soweit seinerzeit Unterbauchbeschwerden beklagt wurden, waren diese auf Darmverwachsungen zurückzuführen, weshalb in 2010 ein Teil des Dickdarmes entfernt wurde. Hieraus folgt, dass der seinerzeitige Bescheid, da wesentliche berücksichtigungsfähige Gesundheitsstörung lediglich die Funktionsstörung der Wirbelsäule war, rechtswidrig war. Der hierauf gestützten Argumentation der Beklagten, ausgehend hiervon, müsse es bei der Feststellung eines Gesamt-GdB von 40 verbleiben, ist jedoch nicht zu folgen, da es sich hierbei um eine kalte bzw. stille Abschmelzung handelt. Der Bescheid vom 29.10.2012 ist wegen Ablaufs der maßgebenden Fristen nicht rücknehmbar; auch hat nach Kenntnis des Bewertungsfehlers bislang die Beklagte einen sog. Abschmelzungsbescheid nach § 48 Abs. 3 SGB X nicht erlassen. Mit einem solchen kann unter Feststellung der Rechtswidrigkeit eines nicht rücknehmbaren früheren Verwaltungsaktes eine Festschreibung des zu hohen Behinderungsgrades vorgenommen werden, und zwar solange, bis der tatsächliche Gesundheitszustand diesen Behinderungsgrad rechtfertigt. Macht die Behörde jedoch hiervon keinen Gebrauch, kann nicht eine stille Abschmelzung in der Weise vorgenommen werden, dass nunmehr ein Bescheid erteilt wird, nachdem eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen nicht eingetreten ist und entweder weitere, neu hinzugetretene Gesundheitsstörungen bzw. Verschlimmerungen solange nicht berücksichtigt werden, bis dass nunmehr für gerechtfertigt erachtete Ausmaß der Beeinträchtigung dem seinerzeit festgestellten GdB entspricht. Dies hat das Bundessozialgericht -BSG- mit Urteil vom 17.04.2013 (B 9 SB 6/12 R) ihm folgend dann das Sozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21.05.2014 - L 11 SB 235/12- vorgehend bereits das Sozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 08.09.2004 - Az.: L 10 SB 82/03 -, konstatiert und ausgeführt, dass bei Bindung an die frühere Feststellung diese ursprünglich unrichtige Entscheidung unter Berücksichtigung ihrer Bestandskraft nicht korrigiert werden darf, vielmehr die Vorschriften der §§ 48 und 45 SGB X maßgeblich sind, dabei hat es hervorgehoben, wird weder die Möglichkeit einer Rücknahme der früheren Feststellung auch die Möglichkeit einer Abschmelzung wahrgenommen, eine unterbliebene Abschmelzung nicht bei einer zukünftigen Änderung der Verhältnisse nachgeholt werden kann. Übertragen auf den vorliegenden Fall folgt hieraus, dass die Beklagte an die Feststellung eines GdB von 40 (für die allein GdB-bestimmende Gesundheitsstörung der Wirbelsäule) gebunden ist und es hier zu einer eine Erhöhung rechtfertigenden wesentlichen Verschlimmerung gekommen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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