L 1 KR 238/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 169 KR 948/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 238/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2019 wird abgeändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Antragstellerin vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens (Sozialgericht Berlin Az. S 169 KR 874/18) mit den Hörgeräten Phonak AB zu versorgen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das gesamte Verfahren zu erstatten.

Gründe:

I. Im Streit steht die vorläufige Versorgung mit Hörgeräten, die teurer sind als einschlägige Festbeträge. Die Antragstellerin ist nach Aktenlage derzeit mit Hörgeräten SE versorgt. Ein Rechtsstreit gegen die Antragsgegnerin auf Übernahme des den Freibetrag übersteigenden Betrages von 1.777 EUR endete mit einem Vergleich, in dem die Antragsgegnerin 890 EUR übernahm (Az. LSG Berlin-Brandenburg L 9 KR 69/16). Am 8. Februar 2016 wurde der Antragstellerin eine Neuversorgung verordnet, da sich das Hörvermögen deutlich verschlechtert hatte. Sie leidet an mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit und chronischem Tinnitus. Sie testete Hörgeräte und konnte nach ihren Angaben nur mit dem über dem Festbetrag liegenden Gerät AB bzw.V - zufriedenstellende Ergebnisse erzielen, insbesondere an ihrem Arbeitsplatz in einem Callcenter-Großraumbüro. Sie stellte am 27. Juni 2016 bei der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) einen Antrag auf Übernahme der Kosten dieser Geräte als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsplatz für Versicherte. Die DRV Bund hielt sich für unzuständig und leitete ihn laut Mitteilungsschreiben vom 29. Juni 2016 an die Antragsgegnerin weiter. Diese bestätigte den Eingang allerdings erst nach einer -nach den Angaben der DRV Bund- erneuten Übermittlung am 18. Januar 2017. Sie beschied die Antragstellerin mit Schreiben vom 3. Februar 2017 und 13. Februar 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2018, sich nur in Höhe des "Vertragspreises" an den Kosten für die Hörgeräteversorgung zu beteiligen und eine Kostentragung darüber hinaus abzulehnen: Wähle ein Versicherter eine Mehrausstattung, die nicht dem Ausgleich der Hörbehinderung im Sinne des maximalen Sprachverstehens diene, habe er die Mehrkosten zu tragen. Die Antragstellerin erhob Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG; Az. S 169 KR 874/18) und begehrt mittlerweile die Kostenübernahme für Hörgeräte des Nachfolgemodelles AM, hilfsweise –sofern noch lieferbar- das ursprünglich begehrte Modell A B SN.

Am 7. Mai 2019 hat die Antragstellerin zusätzlich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhoben mit dem Begehren erhoben, sie entsprechend vorläufig zu versorgen.

Das SG hat mit Beschluss vom 23. Mai 2019 (Zugang 24. Mai 2019) den Antrag abgelehnt.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 24. Juni 2019. Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Mai 2019 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Antragstellerin vorläufig bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit dem preislich über dem Festbetrag liegenden Hörgeräte A M , hilfsweise B zu versorgen

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie macht sich die Begründung des angegriffenen Beschlusses zu Eigen.

II. Der Senat hat im schriftlichen Verfahren entschieden, wie dies in Eilverfahren geboten und üblich ist. Die Antragstellerin hat ihre Gründe, sich nicht mit zuzahlungsfreien Hörgeräten zu begnügen, hinreichend dargelegt.

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und in der Sache überwiegend begründet.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte an den Erfolgsaussichten nur orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so hat es anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Ganz allgemein ist ein Zuwarten umso eher unzumutbar, je größer die Erfolgschancen in der Sache einzuschätzen sind (ständige Rechtsprechung des Senats, z. B. Beschluss vom 23.10.2008 - L 1 B 346/08 KR ER; Beschluss vom 23. Dezember 2010 – L 1 KR 368/10 B ER –, juris-Rdnr. 10)

Nach diesen Maßstäben besteht hier ein Anordnungsanspruch für eine einstweilige Verfügung im tenorierten Umfang. Es ist davon auszugehen, dass der im Hauptsacheverfahren verfolgte Antrag auf die zuzahlungsfreie Versorgung mit den Hörgeräten A B nach jetzigem Sachstand gute Erfolgschancen hat.

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Rechtsauffassung der Antragstellerin gefolgt werden kann, dass für Leistungsanträge u. a. auf Hörgeräte vor dem 1. Januar 2018 noch § 13 Abs. 3a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Anwendung finde. Dass der Leistungsantrag hier bis zu diesem Datum bei der Antragsgegnerin eingegangen sein könnte, erscheint möglich, aber nicht überwiegend wahrscheinlich. Das Teilanerkenntnis der Antragstellerin im Untätigkeitsklageverfahren SG Berlin Az. S 211 KR 222/17, welches den Bescheidungen vom 3. Februar 2018 und vom 13. Februar 2018 vorangegangen ist, ist nur ein Indiz für einen Eingang noch 2017.

Nach derzeitiger Aktenlage spricht nämlich bereits viel für einen Anspruch auf die (hilfsweise) begehrten Hörgeräte aus § 33 SGB V. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen. Bei der Antragstellerin liegt unstreitig eine Hörbehinderung vor. Der Umfang des von der gesetzlichen Krankenversicherung durch Hilfsmittel zu gewährenden Behinderungsausgleichs bestimmt sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) danach, ob eine Leistung des unmittelbaren oder des mittelbaren Behinderungsausgleichs beansprucht wird. Bei Hörhilfen handelt es sich um Fälle des unmittelbaren Behinderungsausgleichs, da mit diesen die ausgefallene Körperfunktion "Hören" als solche wiederhergestellt werden soll und nicht nur die Kompensation der Folgen des Ausfalls in Frage steht. Im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs schuldet die gesetzliche Krankenversicherung einen möglichst vollständigen Ausgleich der Behinderung im Sinne eines Gleichziehens des behinderten Menschen mit den Fähigkeiten eines gesunden Menschen. Die Grenze der Leistungsverpflichtung wird erst erreicht, wenn weitere Gebrauchsvorteile zwar noch möglich sind, sie aber nicht mehr wesentlich erscheinen. In Bezug auf die Versorgung mit Hörhilfen haben Versicherte schon krankenversicherungsrechtlich danach Anspruch auf Hörgeräte, die ihnen im Rahmen des Möglichen auch in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen das Hören und Verstehen ermöglichen. Es reicht nicht aus, wenn die Hörgeräte nur eine Verständigung im Einzelgespräch mit direkter Ansprache ermöglichen (BSG, Urt. v. 14. Januar 2013 – B 3 KR 5/12 R – juris-Rdnr. 31 mit weiteren Nachweisen).

Nach derzeitigem vorläufigem Sachstand reichen die der Antragstellerin von der Hilfsmittellieferantin zum Festbetrag zur Verfügung gestellte Hilfsmittel zur Deckung ihres so zu bestimmenden krankenversicherungsrechtlichen Versorgungsbedarfs nicht aus. Auf die im Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin und die in den gerichtlichen Verfahren eingereichten Messberichte wird ergänzend verwiesen. Ganz allgemein reduziert sich der Anspruch entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch nicht auf das möglichst störungsfreie Verstehen von Sprache. Zum Hören gehören auch das räumliche Erkennen von Geräuschen und ein möglichst unverzerrtes Klangbild. Die Sicherstellung des Hörverstehens auch in Situationen, in denen es störende Nebengeräusche gibt und mehrere Personen gleichzeitig reden ist schon Gegenstand der nach § 33 SGB V geschuldeten Versorgung. Dass die Antragstellerin eine Hörsituation in diesem Sinne primär im Zusammenhang mit ihrem Arbeitsplatz in einem Callcenter geschildert hat, ändert daran nichts. Ihre Versorgungsansprüche werden somit nach summarischer Prüfung nicht durch die aktuellen Festbeträge eingeschränkt. Denn Festbeträge sind nicht geeignet, die gesetzlich begründeten Leistungsansprüche der Versicherten einzuschränken. Reicht ein festgesetzter Festbetrag objektiv nicht für den Ausgleich einer Behinderung aus, sind die Versicherten weiter auf Kosten der Krankenversicherung mit höherwertigen Hilfsmittel zu versorgen (BSG v. 17.Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R – juris-Rdnr. 28f). Nur wenn der Versicherte Hilfsmittel wählt, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, hat er die Mehrkosten selbst zu tragen. Dass möglicherweise andere Hörgeräte – unter Umständen je nach Einstellung durch den Akustiker – ein ähnliches Ergebnis erzielten wie die von der Antragstellerin gewünschten, vermag derzeit die Notwendigkeit der konkreten Beschaffung nicht aufzuheben. Eine entsprechende Beratung und Begutachtung durch die Antragsgegnerin ist hier nach Aktenlage nicht erfolgt.

Hinzu kommt im Fall der Antragstellerin, dass es die Antragsgegnerin voraussichtlich zu Unrecht abgelehnt hat, ergänzend eine volle Kostenübernahme als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß § 49 Abs. 1, Abs. 8 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX), § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) zu prüfen. Dazu bestand –unter der Prämisse, aus eigener Zuständigkeit sei ein (voller) Kostenübernahmeanspruch nicht gegeben- sowohl bei unterstellter rechtzeitiger Weiterleitung des Antrages durch die DRV Bund Anlass, aber auch dann, wenn von einer verspäteten Weiterleitung ausgegangen wird. Denn sie hat den Antrag nicht zurückgegeben. Jedenfalls nach dem Vortrag der Antragstellerin bedarf diese der begehrten Hörgeräte, um ihrer Hörbehinderung entgegenzuwirken und damit ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI.

Nicht hinreichend ersichtlich ist allerdings, dass sie die primär begehrten Hörgeräte AM benötigt. Denn nach ihrem eigenen Vortrag ist ihr ein zufriedenstellendes Hören am Arbeitsplatz auch mit den etwas preisgünstigeren Geräten AB möglich. Nach Aktenlage und dem Vortrag der Beteiligten sind diese Hörgeräte auch aktuell noch erhältlich. Eilantrag und Beschwerde können deshalb im Hauptantrag keinen Erfolg haben.

Es liegt hinsichtlich des Hilfsantrages auch ein Anordnungsgrund vor. Die Antragstellerin hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie die begehrten Hörgeräte dringend benötigt und ihr auch eine noch längere vorübergehende insuffiziente Versorgung unzumutbar ist. Von einer (völligen) Hauptsachenvorwegnahme ist dabei nicht auszugehen: Eine finanzielle Rückabwicklung wäre möglich. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin einen etwaigen Erstattungsanspruch von vornherein ganz oder auch nur teilweise abschreiben müsste: Die Antragstellerin ist beschäftigt und könnte den Erstattungsbetrag (ca. 3.000 EUR) voraussichtlich jedenfalls in Raten begleichen.

Zum selben Ergebnis käme auch –bei unterstellt offenen Erfolgschancen- eine reine Folgenabwägung: Eine vorläufige Versorgung mit den hilfsweise begehrten Geräten ist zur Deckung eines akuten Bedarfes der Antragstellerin an ausreichender Hilfsmittelversorgung erforderlich. Damit wird zudem der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes entgegengewirkt. Auf der anderen Seite entstünde im Falle einer späteren Rückabwicklung der Antragsgegnerin in erster Linie nur ein Verwaltungsmehraufwand und daneben ein gewisses Risikos, den Erstattungsanspruch ganz oder teilweise nicht realisieren zu können.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG entsprechend. Es entspricht billigem Ermessen, der Antragsgegnerin die Kosten voll aufzuerlegen, weil der Antrag im Wesentlichen Erfolg hat.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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