S 1 U 107/10

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 1 U 107/10
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 175/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

3. Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin einen Betrag von 300,00 EUR zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung einer Verletztenrente aufgrund der Folgen eines Arbeitsunfalls nach den Vorschriften des Siebten Buches Sozialgesetzbuch Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII).

Die 1952 geborene Klägerin arbeitete im Reinigungsdienst des Universitätsklinikums (UK), Standort A-Stadt, und war in dieser Tätigkeit bei der Beklagten im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Bei ihrer versicherten Tätigkeit stürzte sie am 01.11.2008 einige Treppenstufen hinunter. Der Durchgangsarzt Prof. C., UK, diagnostizierte eine Fraktur des 2. Lendenwirbelkörpers bei degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule. Die Beklagte zog im Verwaltungsverfahren sämtliche Behandlungsunterlagen bei und forderte Befunde über die unfallunabhängigen Erkrankungen der Klägerin an. Daraus ergibt sich, dass bei der Klägerin neben den Unfallfolgen Behandlungen stattgefunden haben mit den Diagnosen einer Fibromyalgie und insbesondere wegen einer chronischen Schmerzerkrankung. Weiterhin ergibt sich aus diesen Krankenunterlagen, dass die Klägerin schon vor dem streitigen Arbeitsunfall ein Stützkorsett der Lendenwirbelsäule getragen hatte. Nach Auswertung der Krankenunterlagen erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 15.03.2010 das Ereignis als Arbeitsunfall an, lehnte die Zahlung von Verletztenrente mit der Begründung ab, es sei mehr als vier Monate nach dem Unfall zu einem guten Ausheilungsergebnis gekommen. Bereits vor dem Unfall hätten massive Vorerkrankungen im Wirbelsäulenbereich vorgelegen, die für die jetzigen Beschwerden verantwortlich seien. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 17.03.2010 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 31.05.2010 zurückgewiesen wurde.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 06.09.2010 beim Sozialgericht Gießen eingegangenen Klage. Zwar treffe es zu, dass sie schon vor dem streitigen Unfall Gesundheitsbeeinträchtigungen im Wirbelsäulenbereich gehabt habe. Entgegen der Auffassung der Beklagten dauerten jedoch die Beschwerden, die auf die Verletzungen am Unfalltag zurückzuführen seien, an. Sie habe Probleme beim Bücken, Heben, langen Sitzen und beim langen Stehen.

Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des Bescheids vom 15.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.05.2010 die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf den angegriffenen Bescheid und Widerspruchsbescheid.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung der Schwerbehindertenakte der Klägerin bei dem Hessischen Amt für Versorgung und Soziales in Gießen. Des Weiteren hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung zweier Gutachten von Amts wegen auf orthopädischem und psychiatrischem Fachgebiet. Dr. D., UK, kommt hierbei in seinem orthopädischen Zusammenhangsgutachten vom 27.05.2011 zu dem Ergebnis, wegen des durch den Arbeitsunfall eingetretenen Bruchs am zweiten Lendenwirbel sei eine MdE von 10 v. H. festzustellen. Ein Anspruch auf Verletztenrente bestehe hier nicht. Die aktenkundige Beendigung der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit zum 05.03.2009 sei schadensangemessen gewesen. Seither bestehe keine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit mehr. Hiervon abzugrenzen seien Arbeitsunfähigkeitszeiten durch die unfallunabhängigen und altbekannten degenerativen Veränderungen an der Hals- und an der Rumpfwirbelsäule der Klägerin und durch das sich durch körperliche Beschwerden ausdrückende psychiatrische Krankheitsbild der somatisierten Depression. Der Sachverständige Dr. E., E-Stadt, kommt in seinem psychiatrischen Zusammenhangsgutachten vom 29.09.2012 zu dem Ergebnis, auch nach der Theorie der wesentlichen Bedingung im Sinne der konkurrierenden Kausalität sei das Unfallereignis nicht unersetzlich gewesen. Es handele sich hierbei um eine sogenannte Gelegenheitsursache. Bereits im Vorfeld des Arbeitsunfalls bestand bei der Klägerin eine psychische Erkrankung. Die Beschwerdeeinschätzung entspreche vor dem Unfall, z. B. 2007, derjenigen aktuell und nach dem Unfall. Eine MdE auf seinem Fachgebiet sei nicht festzustellen.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Klage- und Verwaltungsakten der Beklagten über den klägerischen Arbeitsunfall Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die form- und insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.

Sachlich ist die Klage nicht begründet. Zu Recht hat die Beklagte mit ihrem angegriffenen Bescheid vom 15.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2010 die Gewährung weiterer Entschädigungsleistungen, insbesondere die Gewährung von Verletztenrente, abgelehnt, denn die Unfallfolgen sind ausgeheilt.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII) erhalten Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, eine Rente. Dabei gilt im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ein zweistufiges Rentenprinzip. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII soll der Unfallversicherungsträger während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit noch nicht abschließend festgestellt werden kann. Nach § 62 Abs. 3 SGB VII wird dann spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Nach § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII kann bei der erstmaligen Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit nach der vorläufigen Entschädigung von dem Vom-Hundert-Satz der Minderung der Erwerbsfähigkeit der vorläufigen Entschädigung eine abweichende Feststellung getroffen werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Damit soll gewährleistet werden, dass etwaige körperliche Anpassungs- und Gewöhnungsprozesse bei der Feststellung einer Dauerrente berücksichtigt werden können. Letztlich kommt es bei Feststellung der Dauerrente somit einzig auf den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Gesundheitszustand an.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich gemäß § 56 Abs. 2 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Um die MdE in Folge eines Versicherungsfalles festzustellen, ist die vor dem Versicherungsfall bestehende individuelle Erwerbsfähigkeit eines Versicherten (Ausgangswert) mit demjenigen danach zu vergleichen (Beziehungswert). Dabei hängt der Grad der MdE nicht nur von der medizinischen Beurteilung ab, welche körperlichen Schäden und Funktionsausfälle vorliegen, sondern auch davon, welche Arbeiten der Verletzte bei seinem Gesundheitszustand noch verrichten kann. Die Frage nach dem Grad der unfallbedingten MdE ist deshalb in erster Linie eine Rechtsfrage. Eine Bindung des Unfallversicherungsträgers oder des Gerichts an die ärztlichen Gutachten besteht nicht (BSGE 4, 147). Hat ein Arbeitsunfall Schäden an mehreren Körperteilen oder/und Funktionssystemen hinterlassen, so ist die MdE im Ganzen zu würdigen. Eine schematische Zusammenrechnung, der für die einzelnen Leiden in Ansatz gebrachten Sätze darf nicht erfolgen. Die Gesamt-MdE ist deshalb nicht rechnerisch aus einzelnen MdE-Graden zu ermitteln, sondern auf einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes unter Berücksichtigung des Zusammenwirkens der verschiedenen Minderungen zu bemessen (BSGE 48, 22).

Für die Messung der MdE haben sich in der Rechtssprechung und Praxis der Unfallversicherungsträger Grundlagen gebildet, die im einschlägigen Schrifttum (vgl. Mehrhoff/Muhr, Unfallbegutachtung; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit) zusammengefasst sind. Diese Grundlagen sind zu beachten, weil sie sich aufgrund ihrer immer wiederkehrenden Bestätigung durch Gutachter, Unfallversicherungsträger, Gerichte sowie ihrer Annahme durch die Betroffenen als Wirklichkeits- und Maßstabsgerecht erwiesen haben. Es sind Erfahrungswerte, die nicht zuletzt einer weitgehenden Gleichbehandlung aller Verletzten dienen (vgl. BSG, Urteil vom 07.09.1976 – BSGE 43, 53, 54; BSG, Urteil vom 26.06.1985 – SOZR 2200 § 581 RVO Nr. 23).

In einem ersten Schritt sind deshalb die Unfallfolgen festzustellen. Unfallfolgen in diesem Sinne sind diejenigen Gesundheitsstörungen, die auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Dabei muss für den Zusammenhang nicht der Vollbeweis geführt werden, vielmehr reicht es aus, dass der Gesundheitsschaden mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist (vgl. BSG in SozR 2200 § 548 Nr. 38; § 551 Nr. 1; BSGE 32, 203, 209). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn beim vernünftigen Abwägen aller Umstände, die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl. BSG in Breithaupt 1963, S. 60, 61; LSG Baden-Württemberg in Breithaupt 1985, S. 399, 404).

In Anwendung dieser Grundsätze können über die im Bescheid vom 15.03.2010 hinaus festgestellten Unfallfolgen keine weiteren Gesundheitsstörungen auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden. Nur ein Teil der Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule ist auf den fest verheilten Bruch des 2. Lendenwirbelkörpers zurückzuführen. Daneben bestehen bei der Klägerin zahlreiche Erkrankungen, die in keinem Zusammenhang mit dem Unfall stehen und zumeist schon vorher festgestellt wurden. Dies haben die beiden im Gerichtsverfahren von Amts wegen eingeholten Zusammenhangsgutachten der beiden im Unfallversicherungsrecht erfahrenen Sachverständigen Dr. D., UK, und Dr. E., E-Stadt, erbracht. Diese Gutachten waren für die Kammer überzeugend und entsprechen den zahlreichen schon im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befunden. Ihnen ist nichts hinzuzufügen. Die Feststellungen der Beklagten im angegriffenen Bescheid und Widerspruchsbescheid sind insoweit bestätigt worden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Begründung insbesondere des angegriffenen Bescheids vom 15.03.2010 verwiesen. Die Klage war deshalb abzuweisen.

Ein Kostenerstattungsanspruch der Beteiligten untereinander besteht bei dieser Rechtslage nicht (§ 193 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin einen Betrag von 300,00 EUR zu tragen, denn sie hat den Rechtsstreit fortgeführt, obwohl ihr vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung dargelegt worden ist und sie auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen worden ist (§ 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Bei der Höhe der von der Klägerin zu tragenden Kosten, konnte die Kammer nicht von der Regelung des § 192 Abs. 1 Satz 3 SGG Gebrauch machen, denn bei dem hier vorliegenden Rechtsstreit handelte es sich um ein äußerst langwieriges und kostenintensives Verfahren. Allein die Kosten der Begutachtung betrugen ca. 2.250,00 EUR. Rechnet man Arbeitsstunden der Gerichtsverwaltung, für Berufsrichter und ehrenamtliche Richter hinzu, so ist hier von Gesamtkosten in Höhe von mindestens 4.000,00 EUR auszugehen. Bei dieser Sachlage wäre es gerechtfertigt, der Klägerin einen Teilbetrag von 1000,00 EUR aufzuerlegen. Da die Klägerin nach dem Bekunden ihrer Betreuerin Leistungen nach dem SGB II bezieht, hat die Kammer in Ausschöpfung ihres gesamten Ermessens hier einen Betrag von lediglich 300,00 EUR festgesetzt.
Rechtskraft
Aus
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