S 13 SO 9/18 ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Halle (Saale) (SAN)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
13
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 13 SO 9/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, die Kosten des Antragstellers für einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von einer Fachleistungsstunde pro Woche zu je 90 min unter Zugrundelegung eines Vergütungssatzes von 75 EUR einschließlich der Kosten der Fahrzeit in Höhe von 25 EUR pro Einsatz und Fahrt ab 01.03.2018 zu übernehmen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

Der Antragsteller begehrt Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für einen Haussprachgebärdenkurs.

Der Antragsteller leidet an einer VACTERL-Assoziation mit Fehlrotation der rechten Niere, Syringomyelie, Halbwirbelbildung BWK 9/10, Schmetterlingswirbel BWK 6, komplexen angeborenen Herzfehlern u.a. sowie einer beidseitigen hochgradig an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit.

Mit Schreiben vom 07.12.2016 beantragte die sorgeberechtigte Mutter des Antragstellers für diesen die Übernahme der Kosten für einen Haussprachgebärdenkurs für 2 Stunden/Woche bis zum Erlangen einer guten Gebärdensprachkompetenz im Rahmen der Eingliederungshilfe in Form eines Persönlichen Budgets.

Am 08.02.2017 fand ein Hilfeplangespräch bei der Stadt ... statt. Hierbei ging es um die Erörterung der Möglichkeiten einer hörspezifischen Förderung im Rahmen einer Sach- bzw. Geldleistung. Die Mutter des Antragstellers teilte mit, dass sie für den Antragsteller 2 Stunden/Woche für einen Gebärdensprachkurs in der Häuslichkeit brauche. Der Kurs könne auch nur am Wochenende stattfinden, da in der Woche keine Zeit mehr zur Verfügung stehe. Sie hätte auch einen Dozenten gefunden, der am Wochenende unterrichten würde. Ein entsprechendes Angebot wurde vorgelegt.

Mit E-Mail vom 08.03.2017 übersandte die Stadt ... eine Zielvereinbarung, die neben den Leistungen der heilpädagogischen Förderung Leistungen der Hörförderung/Hörfrühförderung in Höhe von 68,00 EUR im Rahmen des Persönlichen Budgets enthält.

Mit Schreiben vom 17.03.2017 forderte die Mutter des Antragstellers die Stadt ... auf, die Zielvereinbarung zu ändern, da diese nicht dem Inhalt des Antrages entspricht.

Mit Bescheid vom 05.04.2017 lehnte die Stadt ... den Antrag auf Übernahme der Kosten für einen Haussprachgebärdenkurs in Form eines Persönlichen Budgets ab. Die Ablehnung wurde mit der fehlenden Zielvereinbarung begründet.

Gegen diesen Bescheid erhob der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers am 19.04.2017 Widerspruch. Dieser wurde vom Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.2017 zurückgewiesen.

Am 20.04.2017 unterzeichnete die Mutter des Antragstellers die Zielvereinbarung für ein Persönliches Budget für die Erbringungen von Leistungen der heilpädagogischen Förderung in Höhe von 1.002,43 EUR/Monat und der Hörförderung/Hörfrühförderung in Höhe von 68,00 EUR für 90 Minuten/Woche. Mit Bescheid der Stadt ... vom 28.04.2017 wurden die Leistungen gemäß der Zielvereinbarung vom 20.04.2017 ab März 2017 gewährt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Prozessbevollmächtigte am 24.05.2017 Widerspruch, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 28.07.2017 zurückwies. Am 15.08.2017 erhob der Prozessbevollmächtigte fristwahrend Klage.

Am 29.01.2018 kündigte die Mutter des Antragstellers die Zielvereinbarung vom 20.04.2017 für die Erbringungen von Leistungen der heilpädagogischen Förderung in Höhe von 1.002,43 EUR/Monat per E-Mail zum 31.01.2018. Ab 01.02.2018 erhält der Antragsteller Sachleistungen für die Betreuung in der integrativen Kindertagesstätte " ".

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erfolgte am 12.02.2018. Der Antragsteller verweist darauf, dass der anerkannte Vergütungssatz unzureichend sei, da der Dienstleister für die Erbringung der anerkannten ambulanten Eingliederungshilfe einen Vergütungssatz in Höhe von 75 EUR auf der Grundlage der Vorschriften des JVEG begehre. Der Eingliederungshilfebedarf sei bisher nicht ansatzweise einer gesetzmäßigen und fachkundigen Überprüfung gemäß § 20 SGB X in Verbindung mit § 14 Abs. 5 SGB IX zugeführt worden, die vom Leistungserbringer verlangten Vergütungshonorare seien vom Antragsgegner zu akzeptieren, da diese den Kostenkriterien des JVEG entsprechen, wenn keine kostengünstigere Verträge mit anderen Dienstleistern gemäß § 75 SGB XII abgeschlossen wurden. Der Abschluss einer Zielvereinbarung habe lediglich eine verfahrensrechtliche Funktion und könne nicht in materieller Hinsicht dazu führen, dass beim Fehlen einer Zielvereinbarung die Leistungsausführung in Form eines persönlichen Budgets ausgeschlossen sei. Das Persönliche Budget betreffen nur "Wie" der Leistungsausführung, während sich das "Ob" der Leistung alleine nach dem jeweiligen Fachrecht richte. Wollte man die Regelung der Leistungshöhe im Wege der Zielvereinbarung zulassen, so könnte dies dazu führen, dass sich der Leistungsempfänger auf eine für ihn ungünstige Regelung einlasse, weil er ansonsten befürchten müsse, dass überhaupt keine Vereinbarung zustande komme. Es bestünde also die Gefahr einer Erpressbarkeit des Leistungsempfängers mit der Folge, dass die Behörde die Bewilligung von aus der Sicht des Anspruchsberechtigten nicht bedarfsdeckenden Leistungen, eingekleidet in die Form einer Vereinbarung, einseitig durchsetzen könne. Die in Form des persönlichen Budgets bewilligten Leistungen müssen so bemessen sein, dass der Leistungsberechtigte damit seinen Bedarf an Eingliederungshilfe tatsächlich decken könne.

Der Antragsgegner verweigere dem Antragsteller in Kenntnis einer hohen Dringlichkeit sowie eines hohen Eingliederungshilfebedarfs eine über den 28.02.2008 hinausgehende Zielvereinbarung abzuschließen. Dieses Unterlassen stelle eine grobe Amtspflichtverletzung zulasten des Antragstellers dar und bedarf seitens des Gerichts einer ausgiebigen Sanktionierung, zumal der Antragsgegner den Antragsteller grob rechtswidrig und objektiv-willkürlich über seine sozialen und verfassungsrechtlich garantierten Rechte bewusst im unklaren lassen möchte. Es sei weder eine Bedarfsprüfung vorgenommen noch ein Hilfeplangespräch zwecks Abschluss einer Folgezielvereinbarung vorgenommen worden. Der Umfang der zu gewährenden Sozialhilfeleistungen habe sich nach der allgemeinen Regelung des § 9 Abs. 1 SGB XII stets nach der Besonderheit des Einzelfalls zu orientieren. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes bestehe ein Rechtsanspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe, wenn die begehrte Maßnahme erforderlich und geeignet sei, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und zu erleichtern, also insoweit die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mildern. Der Antragsteller habe einen hohen gebärdensprachlichen Förderbedarf, der notwendig und geeignet sei. Für die vom Antragsgegner in Abrede gestellte Eilbedürftigkeit stehe nicht ansatzweise im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Sei eine abschließende Prüfung nicht möglich, sei eine Folgenabwägung durchzuführen.

Der Antragsteller beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, die Kosten des Antragstellers für einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von einer Fachleistungsstunde pro Woche zu je 90 min unter Zugrundelegung eines Vergütungssatzes von 75 EUR einschließlich der Kosten der Fahrzeit in Höhe von 25 EUR pro Einsatz und Fahrt ab 01.03.2018 zu übernehmen. Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzuweisen.

Dem Antragsteller entstehen ohne die begehrte Regelung keine i.S.d. § 86b Abs. Satz 2 SGG wesentlichen Nachteile. Der Antragsteller konnte mit seinem Vortrag keinen Anordnungsanspruch glaubhaft machen.

Leistungsberechtigte nach § 53 SGB XII können Leistungen der Eingliederungshilfe auf Antrag gemäß § 57 SGB XII auch als Teil eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets erhalten. In diesen Fällen sind § 17 Abs. 2 bis 4 SGB IX i.V.m. der Budgetverordnung (BudgetV) insoweit anzuwenden (§ 57 Satz 2 SGB XII). Nach § 17 Abs. 3 SGB IX werden Persönliche Budgets so bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann. Zur Ausführung von Leistungen im Rahmen des Persönlichen Budgets ist nach § 4 BudgetV eine Zielvereinbarung zwischen der Antrag stellenden Person und dem Beauftragten abzuschließen. Der § 3 Abs. 5 Satz 1 BudgetV erhebt den Abschluss einer Zielvereinbarung im Sinne des § 4 BudgetV zur Voraussetzung für die Bewilligung des Persönlichen Budgets. Das heißt, dass für diese Form der Leistungserbringung wesentlich ist, dass zwischen den Beteiligten Einigkeit über den Umfang und den Inhalt der Leistungen besteht. Es ist zwingend eine Zielvereinbarung zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner abzuschließen. Die Zielvereinbarung im Sinne des § 4 BudgetV ist unabdingbare Voraussetzung für die Erteilung eines begünstigenden Leistungsbescheides (vgl. Hauck/Noftz, SGB IX Kommentar, Rd.-Nr. 28 zu § 17).

Die Beteiligten seien an die Zielvereinbarung gebunden, denn diese stelle einen öffentlich-rechtlichen Vertrag dar. Gemäß § 17 Abs. 2 Satz 5 SGB IX sei der Antragsteller an die Entscheidung für die Dauer von 6 Monaten gebunden. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 BudgetV könnten die Beteiligten die Zielvereinbarung aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung schriftlich kündigen, wenn ihnen die Fortsetzung nicht zumutbar sei (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt im Urteil vom 14.01.2016 – L 8 SO 3/13).

Der Antragsteller habe keinen Anspruch auf höhere Leistungen in Form des Persönlichen Budgets, als auf die mit Bescheid der Stadt vom 28.04.2017 auf der Grundlage der Zielvereinbarung vom 20.04.2017 gewährten Leistungen. Die im Rahmen des Persönlichen Budgets bewilligten Leistungen in Höhe von 68,00 EUR/Woche (272,00 EUR/Monat) für Leistungen der Hörförderung/Hörfrühförderung wurden seitens des Antragstellers zu keinem Zeitpunkt abgefordert.

Mittlerweile wurde die Zielvereinbarung zum 31.01.2018 seitens der Mutter des Antragstellers gekündigt, so dass eine wesentliche Voraussetzung für die Leistungserbringung in Form eines Persönlichen Budgets nicht erfüllt sei. Ab 01.02.2018 werden Leistungen der Eingliederungshilfe für den Antragsteller in Form einer Sachleistung für den Besuch der integrativen Kindertagesstätte gewährt.

Es sei nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund vom Prozessbevollmächtigten ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren eingeleitet wurde. Aus dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung lasse sich lediglich ableiten, dass mit dem Verfahren eine Sanktion des Verwaltungshandelns der verantwortlichen Amtsträger des Antragsgegners vor Auslaufen des Bewilligungszeitraumes erreicht werden solle. Darüber hinaus sei bereits ein Hauptsacheverfahren anhängig, Az.: S 13 SO 114/17. Hierbei sei zu erwähnen, dass die Klagebegründung drei Monate nach Klageerhebung erfolgte. Es entstehe der Eindruck, dass das Ziel des Eilverfahrens eine Vorwegnahme der Entscheidung im Hauptsacheverfahren sei.

Nach § 2 Abs. 1 SGB XII – Nachrang der Sozialhilfe – erhalte Sozialhilfe nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen könne oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhalte. In der Sendung "exakt" des MDR vom 01.11.2017 wurde ein Beitrag zum Antragsteller ausgestrahlt. Hierbei äußerte die Mutter des Antragstellers, dass sie im Internet einen Spendenaufruf gestartet habe und die Einnahmen zur Finanzierung des Gebärdensprachkurses einsetze. Insoweit wurden dem Antragsteller für die begehrte Leistung zur Durchführung eines Hausgebärdensprachkurses durch die Mutter mittels der eingenommenen Spendengelder die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt. Dies schließe die Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe aus.

Eine Notlage des Antragstellers, die eine Eilentscheidung erforderlich mache, bestehe nicht. Der Antragsteller habe auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft machen können. Ein Anordnungsgrund liege nur dann vor, wenn die einstweilige Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteil notwendig sei. Entscheidend sei, ob nach den Umständen des Einzelfalles für den Betroffenen zumutbar sei, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, wobei es auf eine Interessenabwägung ankomme. Wesentliche Nachteile seien zum Beispiel, wenn dem Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung eine konkrete Gefährdung der Existenz oder sogar die Vernichtung der Lebensgrundlage drohe. Mit dem Antrag sei nicht glaubhaft gemacht, welche wesentlichen Nachteile durch die begehrte Regelungsanordnung konkret für den Antragsteller abgewendet werden sollen. Die allein damit begründete Dringlichkeit, dass noch eine Sanktion des Verwaltungshandelns der verantwortlichen Amtsträger des Antragsgegners vor Auslaufen des Bewilligungszeitraumes erreicht werden soll, erfülle nicht die Voraussetzungen für die begehrte Regelung i.S.d. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Die Entscheidung in der Hauptsache – S 13 SO 114/17 – abzuwarten, sei zumutbar. Dem Antragsteller stehen dem Bedarf entsprechende Leistungen nach dem SGB XII zur Verfügung.

Der Antragsgegner prüfe derzeit die vorliegenden Anträge umfassend unter Beteiligung des Rehapädagogischen Fachdienstes. Aufgrund der derzeit durchgeführten Reha des Antragstellers sei der Abschluss einer Zielvereinbarung nicht möglich und nicht erforderlich. Der Antragsteller erhalte vorrangige Leistungen. Die dem Antragsteller mit Bescheid vom 28.04.2017 bis 28.02.2018 gewährten Mittel in Höhe von 68 EUR/Woche für die Unterrichtung in Gebärdensprache wurden bis 31.01.2018 nicht abgefordert. Insoweit sei davon auszugehen, dass der Antragsgegner mit den eingenommenen Spendengeldern die Kosten für den Hausgebärdensprache gedeckt habe.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Der Anspruch auf Regelung eines vorläufigen Zustandes (Anordnungsanspruch) und der Grund für die Dringlichkeit der Maßnahme (Anordnungsgrund) sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen.

Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Der Antragsteller hat zunächst einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Nach § 53 SG XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfall, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Menschen sind im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Der Antragsteller gehört auf Grund seiner Beeinträchtigung zum Personenkreis des § 53 SGB XII und hat damit Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 54 ff. SGB XII.

Leistungsberechtigte nach § 53 SGB XII können Leistungen der Eingliederungshilfe auf Antrag gemäß § 57 SGB XII auch als Teil eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets erhalten. In diesen Fällen sind § 17 Abs. 2 bis 4 SGB IX i.V.m. der Budgetverordnung (BudgetV) insoweit anzuwenden (§ 57 Satz 2 SGB XII). Nach § 17 Abs. 3 SGB IX werden Persönliche Budgets so bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wird und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen kann. Zur Ausführung von Leistungen im Rahmen des Persönlichen Budgets ist nach § 4 BudgetV eine Zielvereinbarung zwischen der antragstellenden Person und dem Beauftragten abzuschließen. Der § 3 Abs. 5 Satz 1 BudgetV erhebt den Abschluss einer Zielvereinbarung im Sinne des § 4 BudgetV zur Voraussetzung für die Bewilligung des Persönlichen Budgets. Das heißt, dass für diese Form der Leistungserbringung wesentlich ist, dass zwischen den Beteiligten Einigkeit über den Umfang und den Inhalt der Leistungen besteht. Es ist zwingend eine Zielvereinbarung zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner abzuschließen. Die Zielvereinbarung im Sinne des § 4 BudgetV ist unabdingbare Voraussetzung für die Erteilung eines begünstigenden Leistungsbescheides (vgl. Hauck/Noftz, SGB IX Kommentar, Rd.-Nr. 28 zu § 17).

Dass ein Bedarf und Anspruch an Eingliederungshilfe in Form eines Hausgebärdensprachkurses geeignet und erforderlich ist, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Lediglich bestehen Differenzen hinsichtlich der Vergütungshöhe. Der Antragsgegner war jedoch nicht in der Lage, die Berechnung des bewilligten Betrag in Höhe von 68 EUR pro Woche darzulegen. Demgegenüber ist die vom Antragsteller vorgelegte Berechnung von einer Fachleistungsstunde zu 90 min x 75 EUR = 112,50 EUR plus Fahrzeit 2x 25 EUR = 162,50 EUR angemessen. Der Vergütungssatz richtet sich nach dem JVEG. Eine andere Berechnungsweise oder günstigeres Kostenangebot konnte der Antragsgegner nicht vorlegen.

Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz stellt besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05; vom 27.07.2016 – 1 BvR 1241/16; juris). Dann sind die Gerichte verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch zu prüfen, sondern abschließend, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen. Ist die abschließende Prüfung nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen. Droht einem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, irreparable Verletzung in seinen Grundrechten, so ist einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.

Im vorliegenden Fall kann nicht erwartet werden, dass ein Kind mit Cochlea-Implantaten sicher hören lernen kann und damit in die Lage versetzt ist, auch die Lautsprache zu erlernen. Nach einer solchen Operation ist ein intensives und langes Hörtraining erforderlich, um die neuen Signale den bekannten Hörmustern zuzuordnen. Für Kinder wird die Dauer von etwa 2-3 Jahren veranschlagt. Im Hinblick darauf, dass dem Antragsteller die Implantate vor etwa einem Jahr eingesetzt wurden und Prof. Dr ... in seiner ärztlichen Stellungnahme vom 23.03.2018 ausgeführt hat, dass bei dem Antragsteller eine Taubheit beidseits besteht, die durch die Versorgung mit Cochlea-Implantaten beidseits deutlich rehabilitiert werden konnte. Dennoch bestehen selbst bei regelmäßiger Nutzung der Implantate deutliche Beeinträchtigungen der lautsprachlichen Kommunikation. Durch rezidivierende Infekte und dadurch bedingte Zeiträume, in denen die Implantate nicht genutzt werden können, verschlechtert sich die lautsprachliche Kommunikation wiederholt vorübergehend zusätzlich. Die Nutzung der Lautsprache, die Verständnisabsicherung und die Übermittlung von Gedanken und Wünschen kann durch Gebärde deutlich optimiert werden. Dadurch reduziert sich für den Antragsteller der Kommunikationsfrust. Der Antragsteller bevorzugt mitunter auch die Kommunikation ohne die Implantate. Dabei zeigt er Sprech- und Kontaktfreude. Umso wichtiger wird dabei die Nutzung der Gebärde für ihn, um weiterhin an der Kommunikation teilzuhaben. Durch die Mitbenutzung und Begleitung der Kommunikation mittels Gebärdensprache bzw. strukturierte Erlernung der Gebärdensprache für den Antragsteller und seine Bezugspersonen im häuslichen und pädagogischen Umfeld, kann aus sprachtherapeutischer Sicht ein Rahmen für das Kind geschaffen werden, der die die Benachteiligung durch die Behinderung versucht zu beseitigen bzw. zu verhindern. Eine verbesserte Teilhabe könne gewährleistet und eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht werden. Bei der vorliegenden Grunderkrankung sollte jede Möglichkeit genutzt werden, um den Antragsteller bei Angleichung der Sprachentwicklung an das chronologische Lebensalter zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Alters des Kindes von nunmehr 4 Jahren erscheint ein weiteres Abwarten bei der Förderung des Spracherwerbs unzumutbar. So weist Frau Prof ... in ihrer Stellungnahme zur Petition "Gebärdensprache umsetzen! Bilingual-bimodal-endlich normal!" darauf hin, dass es eine sensible Phase für die Sprache gebe. Das sei eine Zeitspanne, in der die Erfahrung mit Sprache besonders stark auf das Gehirn wirke und ein sprachliches System daher besonders schnell erworben werde. Die erhöhte Sensibilität für sprachliches Lernen liege in den ersten 4 Lebensjahren, danach nehme sie graduell ab. Es sei deshalb wichtig, dass auch ein Kind mit Cochlea-Implantaten innerhalb der ersten 4 Lebensjahre ein Sprachangebot erhalte, das so im Gehirn ankomme, dass es dort verarbeitet werden könne. Das Zeitfenster im Kindesalter zwischen 8 bzw. 9 Monaten und 3,5 Jahren wird auch als Reifeperiode der Sprachentwicklung angesehen. Je länger dem Gehirn akustischer Input vorenthalten wird, desto größer wird die resultierende sensorische Deprivation, die einen Mangel an sensorischer Stimulation des Gehirns verursacht. Sie verhindert nicht nur auditives Lernen, sondern auch das neuronale Wachstum. Nach dem Alter von 7 Jahren wird die Plastizität stark reduziert.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Dringlichkeit der Sache ergeben sich bereits aus dem Alter des Kindes und dem Erfordernis eines gesicherten Spracherwerbes. Dem Antragsteller entstehen ohne Erlass der einstweiligen Anordnung ein wesentlicher Nachteil, da eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gegenwärtig nicht gewährleistet ist. Der Rechtsschutz der Hauptsache käme voraussichtlich zu spät. Auch könne eine Hilfe für die Vergangenheit nicht gewährt werden, weil sich die Angelegenheit insoweit infolge Zeitablaufs erledigt. Ferner hätte ein Aussetzen der spendenfinanzierten in Anspruch genommenen Eingliederungshilfe in Form des Hausgebärdensprachkurses bis zum Ergehen einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren für den Antragsteller unzumutbare Folgen. Namentlich würde der bislang bereits erreichte Eingliederungserfolg infrage gestellt werden. Laut Aussage der Mutter ist es ihr nicht mehr möglich, die Kosten für den Gebärdendolmetscher durch eigene finanzielle Mittel oder Spenden, da diese verbraucht sind, vorzustrecken.

Die Kammer erhält ein Zeitraum von 12 Monaten für einen Hausgebärdensprachkurs für angemessen, denn persönliche Budgets werden in der Regel für ein Jahr bewilligt. Hinsichtlich des Umfangs des Unterrichts geht die Kammer davon aus, dass wöchentlich eine Fachleistungsstunde zu je 90 min erforderlich und für den Antragsteller und Gebärdendolmetscher praktikabel ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
Rechtskraft
Aus
Saved