S 11 U 62/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 U 62/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 21.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2017 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach zu 1/3.

Tatbestand:

Mit Bescheid vom 06.07.2010 stellte die Beklagte bei dem am 00.00.1955 geborenen Klä-ger, der unter Tage (vor Stein) tätig gewesen war, das Bestehen einer Berufskrankheit nach Nr. 4101 der Berufskrankheiten-Liste fest. Ansprüche auf Leistungen wegen dieser Berufskrankheit bestünden aber nicht. Zur Begründung wies die Beklagte darauf hin, dass Röntgenaufnahmen vom 00.00.2009 leichtgradige Quarzstaublungenveränderungen zeig-ten, die nach der Internationalen Staublungenklassifikation (ILO) mit pq 1/2 einzustufen seien. Hinweise auf eine Beeinträchtigung der Lungenfunktion, die eine rentenberechti-gende MdE bedingen würden fänden sich nicht.

Im Jahr 2011 führte die Beklagte ein Überprüfungsverfahren zur Frage durch, ob in den Folgen der Berufskrankheit eine Änderung eingetreten ist und stellte in diesem Zusam-menhang medizinische Ermittlung an. Als Ergebnis dieser Ermittlungen stellte die Beklagte sodann mit Bescheid vom 27.04.2012 fest, dass ein Rentenanspruch des Klägers weiter-hin nicht bestand. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbe-scheid vom 08.11.2012 als unbegründet zurückgewiesen. Das hiergegen vor dem Sozial-gericht Aachen geführte Verfahren (S 10 U 311/12) blieb ohne Erfolg.

Unter dem 12.04.2013 teilte die Knappschaft als Träger der gesetzlichen Krankenkasse der Beklagten mit, sie, die Knappschaft, gehe davon aus, der Kläger sei an einer Berufs-krankheit erkrankt. Er leide unter Dyspnoe und einer chronisch obstruktiven Bronchitis.

Die Beklagte holte einen Entlassbericht des Krankenhauses M. vom 05.11.2012 ein. Dar-über hinaus erstattet Dr. M. unter dem 22.01.2014 ein Gutachten für die Beklagte, wo-nach eine leichtgradige Mischstaubsilikose ohne wesentliche Lungeneinschränkung vorlie-ge. Unter dem 07.05.2015 erstellten Prof. Dr. L und Dr. F. für die Beklagte ein weiteres Gutachten. Auf Veranlassung der Beklagten nahm Prof. Dr. O. unter dem 20.07.2016 zu einem vom Kläger vorgelegten radiologischen Bericht des Dr. T. betreffend eine Aufnah-me vom 09.06.2015 Stellung. Dieser kam zu der Einschätzung aus radiologischer Sicht könne die Anerkennung einer BK 4101 nicht in empfohlen werden.

Mit Bescheid vom 21.09.2016 stellte die Beklagte, dass die mit Bescheid vom 06.07.2010 erfolgte Feststellung einer BK 4101 rechtswidrig gewesen sei und damit nicht Grundlage für Leistungsansprüche sein könne.

Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, am 26.09.2016 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 20.01.2017 als unbe-gründet zurückgewiesen wurde.

Am 29.03.2017 hat der Kläger Klage erhoben.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines radiologischen Gutachtens des Dr. I. nebst ergänzenden Stellungnahme.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 21.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2017 aufzuheben und ihm eine Rente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 4101 der BKV zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegen-stand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Klage ist, soweit der Kläger die Gewährung einer Rente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 4101 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung begehrt, bereits unzuläs-sig. Ausdrücklich und allein vom Kläger angefochten ist der Bescheid vom 21.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2017. Dessen Regelungsgehalt ver-hält sich indes nicht zur Frage der Gewährung einer Rente oder der Feststellung einer rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), sondern er beschränkt sich allein auf die isolierte Feststellung der Rechtswidrigkeit des Feststellungsbescheides vom 06.07.2010. Diese Regelung begrenzt den zulässigerweise im Klageverfahren überprüfba-ren Streitgegenstand. Schon vor diesem Hintergrund war die vom Kläger erhobene kom-binierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage insoweit abzuweisen.

II. Soweit der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 21.09.2016 in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheides vom 03.03.2017 begehrt ist die Klage als reine Anfechtungsklage zulässig und überdies auch begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Feststellungsbescheid gemäß § 54 Abs. 2 Sozial-gerichtsgesetz (SGG) in seinen Rechten verletzt, weil der entsprechende Bescheid rechtswidrig ergangen ist. Der Beklagten stand für die isolierte Feststellung der Rechtswid-rigkeit des Bescheides vom 06.07.2010 – wiewohl der Bescheid in der Tat rechtswidrig ist – keine Ermächtigungsgrundlage zu Gebote.

Ausgangspunkt aller Betrachtung von Verwaltungshandeln muss der Grundsatz seiner Gesetzmäßigkeit sein, welcher sich insbesondere im sog. "Vorrang" (Art. 20 Abs. 3 GG) und im sog. "Vorbehalt" des Gesetzes (§ 31 SGB I) niederschlägt. Nach § 31 SGB I dür-fen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen dieses Gesetzbuchs dürfen nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vor-schreibt oder zulässt. 1. Die Beklagte hatte vorliegend mit Bescheid vom 06.07.2010 festgestellt, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 4101 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), eine sog. Silikose, vorliegt. Die seinerzeitige Einschätzung erfolgte auf Grundlage einer Stellungnahme von Dr. K. welcher seinerzeit auf Grundlage einer Röntgenaufnahme des Thorax silikotische Veränderungen der ILO-Klassifikation pq1/2 beschrieben hatte. Der seinerzeit behandelnde Lungenheilkundler hatte aufgrund der gleichen Röntgenauf-nahme ebenfalls die Verdachtsdiagnose einer Silikose geäußert. Die entsprechenden Röntgenaufnahmen standen dem Gericht nicht mehr zur Verfügung.

Es steht aber zur Überzeugung der Kammer aufgrund der durchgeführten medizinischen Ermittlungen – nicht zuletzt durch das im Gerichtsverfahren eingeholte radiologische Gut-achten des Dr. I. – fest, dass der Vollbeweis für das Vorliegen einer Silikose beim Kläger zu keinem Zeitpunkt vorlag. Dies wäre jedoch Voraussetzung für eine rechtmäßige Fest-stellung der Silikose nach §§ 7 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 des Siebten Buches des Sozialge-setzbuches - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) i.V.m. Nr. 4101 der Anlage zur BKV (BKV vom 31. Oktober 1997, BGBl. I S. 2623, zuletzt geändert durch Art. 1 der Vier-ten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 10.07.2017, BGBl. I 2299) gewesen (vgl. zum Maßstab des Vollbeweises schon BSG Urteil vom 28.11.1957 4 RJ 186/56 = juris; vgl. Hessisches LSG Urteil vom 25.09.2017 - L 9 U 224/16 = juris; BSGE 6, 144; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128 Rn.3b, m. w. N.).

Bei der Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) handelt es sich um eine Erkrankung an Lungenfibrose durch Einatmung von Staub, welcher in unterschiedlichen Anteilen freie kristalline Kieselsäure enthält. Diese freie kristalline Kieselsäure kommt im Wesentlichen als Quarz, Cristobalit oder Tridymit an zahlreichen Arbeitsplätzen vor (vgl. Schönber-ger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 1052). Derarti-ge Arbeitsplätze finden sich typischerweise im Steinkohlebergbau, in der Natursteinindust-rie, im Gießereiwesen, in der Glasindustrie, in der Email- und keramischen Industrie sowie bei der Herstellung feuerfester Steine (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 1055). Die entsprechende Erkrankung ist bereits seit 1929 grundsätzlich in den Katalog der Berufskrankheiten nach der RVO aufgenom-men, wobei bis zur 5. Verordnung über die Ausdehnung der UV auf Berufskrankheiten vom 26.07.1952 (BGBl. I 395) allein die "schwere Quarzstaublungenerkrankung" als Be-rufskrankheit anzuerkennen war. In den 1970er Jahren wurde sodann die Absprache ("Moerser Konvention") getroffen, dass nur "relevant" gestreute Silikosen eine Anerken-nung als Berufskrankheit begründeten. Die auf Beschäftigte im Steinkohlenbergbau und weiteren Industriezweigen mit Staubexpositionen aus kristallinen Kieselsäuren angewandte sog. "Moerser Konvention" besagte, dass nur Silikosen mit einem Streuungsgrad von mindestens 2/3 p/q – bei Pinhead-Silikosen mindestens 2/2 p/p – oder Schwielensilikosen entschädigt wurden. Sogenannte niedrig gestreute Silikosen, also Silikosen, die die vorge-nannten Merkmale nicht erfüllten, wurden nicht als Berufskrankheit anerkannt. Seit 1990-Jahren wird insoweit zwischen dem Versicherungs- und dem Leistungsfall differenziert. Seitdem werden auch Silikosen mit einem niedrigen Streuungsgrad (Streuungskategorie 1/1-2/2) als Versicherungsfall anerkannt (vgl. zu alledem S2k-Leitlinie nach AWMF-Schema der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin "Diagnostik und Begutach-tung der Berufskrankheit Nr. 4101 Quarzstaublungenerkrankung (Silikose)1 der Berufs-krankheitenverordnung").

Nach dem aktuellen Stand der Arbeitsmedizin wird die Verdachtsdiagnose der Silikose in erster Linie durch das Röntgenbild der Lunge gestellt. Charakteristisch sind disseminierte, mehr oder minder rundliche Verschattungen unterschiedlicher Größe und Dichte, evtl. mit zusätzlichen größeren sog. Schwielenbildungen, vorwiegend lokalisiert in den Ober- und Mittelfeldern, evtl. konfluierend und/oder zerfallend. Die Befundung erfolgt standardisiert nach der Staublungenklassifikation der International Labour Organization (ILO). Für eine Silikose spricht das Vorliegen kleiner rundlicher Schatten vom Typ p, q oder r im Röntgen-bild des Thorax mit einer gewissen Reichlichkeit und gleichmäßiger Verteilung im Sinne eines Streuungsgrades nach ILO 2000 von 1/1 oder höher (Bochumer Empfehlung S. 17; vgl. dazu auch vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 1056).

Im vorliegenden Fall liegt nach den Feststellungen des Gutachters Dr. I. an deren Richtig-keit zu zweifeln die Kammer keinen Anlass hat, mit den computertomographischen Unter-suchungen vom 08.01.2014 und 25.02.2015 Bildmaterial vor, welches im Wesentlichen die Kriterien der Leitlinie zur Diagnostik und Begutachtung der Silikose (abrufbar unter https://www.awmf.org/uploads/tx szleitlinien/020-010l S2k Diagnostik-Begutachtung-Quarzstaublungenerkrankung-Silikose 2016-12.pdf) und der Bochumer Empfehlung (ab-rufbar unter https://publikationen.dguv.de/versicherungleistungen /berufskrankheiten/2482/bochumer-empfehlung) erfüllt. Diese Aufnahmen zeigen mikro-noduläre Einlagerungen, die aber nicht dem charakteristischen Verteilungsmuster der Sili-kose entsprechen und den Score 1 entsprechend der CT-Referenzfilme nicht erreichen. Der Nachweis von vergrößerten hilären und mediastinalen Lymphknoten, die teilweise in den Befunden erwähnt werden, kann nicht einer BK Nr. 4101 zugeordnet werden. Sämtli-che Lymphknoten lassen keine eierschalenförmigen oder zentral zuckergussähnlich be-ginnenden Verkalkungen erkennen. Bereits 2014 zeigen sich vorwiegend in den Mittel- und Unterfeldern inhomogene lobuläre milchglasige Veränderungen. Es fanden sich unter-schiedlich ausgeprägte Bronchialwandverdickungen, peribronchiale Verdichtungen vorwie-gend im linken Unterfeld und auch Zeichen der zylindrischen Bronchiektasie in beiden Un-terlappen, links stärker als rechts, mit Hinweis auf eine bronchiale Schleimretention (sog. "Mucoid-Impaction") im linken Unterlappen. Der Rundherd in der CT von 2015 rechts ist auf den Folgeaufnahmen nicht mehr homogen dicht, sondern als Ringform abzugrenzen, sodass eine zentrale Einschmelzung erfolgte. Es zeigten sich im Verlauf konsolidierende Prozesse im Bereich beider Unterfelder die rückläufig und im Sinne eines entzündlichen Prozesses zu deuten sind.

Letztlich beschreibt der Gutachter hier wechselnde parenchymale Veränderungen mit flä-chigem Milchglas-Phänomen, konsolidierenden Herden, Zeichen der chronischen Bronchi-tis mit zylindrischen Bronchiektasien mit Schleimretention und Hinweisen auf emphyse-matöse Veränderungen, die allesamt nicht das Bild einer Silikose beschreiben.

Der Gutachter weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Ätiologie des be-obachtbaren Krankheitsgeschehens vieldeutig erscheint. Dies bedeutet, dass zwar eine Silikose beim Kläger ausgeschlossen ist, dass aber die Ursache für die beim Kläger zwei-fellos bestehende Lungenerkrankung nicht geklärt ist. Es kommen hier eonisophile und medikamenten-induzierten Erkrankungen, eine Aspiration oder auch rheumatoide Erkran-kungen in Betracht.

Auch wenn damit vorliegend nicht per se ausgeschlossen erscheint, dass die Erkrankung im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit des Klägers als Bergmann unter Tage steht, ist jedenfalls die Feststellung der BK Nr. 4101 nicht möglich.

Es ist – unter Berücksichtigung aller zur Verfügung stehenden Unterlagen nach Darstel-lung des Gutachtes Dr. I., der sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass zum Zeitpunkt des Er-lasses des Bescheides vom 06.07.2010 das Krankheitsbild einer Silikose vorlag. Vor die-sem Hintergrund steht für die Kammer fest, dass die Beklagte seinerzeit zur Unrecht das Vorliegen einer Berufskrankheit der Nr. 4101 der Anlage zur BKV festgestellt hat.

2. Die Frage der Aufhebung ursprünglich rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte re-gelt § 45 SGB X. Solche Verwaltungsakte, dürfen nur unter den Einschränkungen von § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. § 45 Abs. 2 SGB X macht dabei deutlich, dass im Rahmen der Rücknahmeentscheidung eine Abwägung zwischen dem Vertrauen des Begünstigenden in den Fortbestand des Verwaltungsakten und dem öffentlichen Interesse an der Rücknah-me zu erfolgen hat. In diesem Zusammenhang regelt § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X, dass die Rücknahme eines rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakten mit Dauerwirkung al-lerdings grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe erfol-gen kann. Schon unter Berücksichtigung des Zeitablaufs konnte die Beklagte den Be-scheid daher nicht mehr nach § 45 SGB X aufheben.

Die Beklagte vertritt nun allerdings die Auffassung, in einem solchen Fall könne § 48 Abs. 3 SGB X – die Regelung über die sog. "Abschmelzung" als Rechtsgrundlage dienen.

Nach Auffassung der Kammer liegt aber die Norm des § 48 Abs. 3 SGB X schon tatbe-standlich hier nicht vor. Nach dieser Vorschrift darf unter der Voraussetzung, dass ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann, und eine Änderung nach § 48 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB X zugunsten des Be-troffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinaus-gehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt.

Der erste Teil des Tatbestands der Norm ist – wie oben dargelegt – vorliegend gegeben. Der Bescheid vom 06.07.2010 ist begünstigend und rechtswidrig und kann nach § 45 SGB nicht (mehr) aufgehoben werden.

Darüber hinaus findet nach wohl herrschender Auffassung – anders als es der Wortlaut der Norm auf den ersten Blick nahelegt – nicht nur bei Fehlern Anwendung, die lediglich die Höhe sondern auch solchen die den Grund der Leistung betreffen, da durch die Norm allgemein verhindert werden soll, dass eine zu Unrecht erlangte Rechtsposition im Falle einer späteren Veränderung zu Gunsten des Betroffenen noch weitere darauf aufbauende Vergünstigungen nach sich zieht und dadurch "das Unrecht" weiter erhöht wird (vgl. etwa BSG v. 24.04.2014 - B 13 R 3/13 R = juris Rn. 22; Brandenburg in: Schlegel/Voelzke, ju-risPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 48 SGB X Rn. 99).

Die Vorschrift wird insoweit zumindest für analog anwendbar erklärt (vgl. BSG Urteil vom 20.03.2007 – 2 U 21/16 R = juris Rn. 17 m.w.N.; Merten in Hauck/Noftz § 48 Rn 96 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 15. 09. 1988 - 9/4b RV 15/87 = juris; BSG Urteil vom 18.03.1997 - 2 RU 19/96 = juris; vgl. auch Hessisches LSG Urteil vom 21.06.2018 – L 9 U 1859/16 = juris; Gagel, SGb 1990, 252, 254; ablehnend allerdings Brandenburg in: Schle-gel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 48 SGB X Rn. 99, die das Vorliegen der Vo-raussetzungen für eine Analogie, insbesondere die "planwidrige Regelungslücke" für nicht gegeben hält.).

Weitere Voraussetzung ist aber, dass "eine Änderung nach § 48 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB X zugunsten des Betroffenen eingetreten ist", d.h. eine wesentliche Änderung in den tat-sächlichen oder rechtlichen Verhältnissen bzw. eine andere Gesetzesauslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (Merten in Hauck/Noftz § 48 Rn 98; vgl. auch Bran-denburg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 48 SGB X Rn. 101 ).

Soweit nun vertreten wird, auch dieses Tatbestandsmerkmal sei nicht zwingende Voraus-setzung (in diesem Sinne wohl Hessisches LSG Urteil vom 21.06.2018 – L 9 U 1859/16 = juris) schließt sich die Kammer dem aus Gründen des eingangs erwähnten Grundsatzes der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns nicht an. Schon systematisch ist § 48 Abs. 3 SGB X nach Auffassung der Kammer eine Sonderregelung im Anwendungsbereich des § 48 SGB X, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Folgen wesentliche Änderungen auf wirksame und ggf. bestandskräftige Verwaltungsakte haben (vgl. hierzu auch BSG Ur-teil vom 15.09.1988 - 9/4b RV 15/87 = juris). Ist eine wesentliche Änderung gegeben, die grundsätzlich dazu führen würden, dass bestehende Verwaltungsakte zu Gunsten des Be-troffenen geändert werden müssten, so soll dies für den Fall, dass es sich bei der bisheri-gen Rechtsgrundlage der Beziehung zwischen Behörde und Betroffenen um einen rechts-widrigen begünstigenden Verwaltungsakt gehandelt hat, nicht dazu führen, dass die Be-hörde gehalten wäre, ausgehend vom rechtswidrigen Verwaltungsakt aufgrund der we-sentlichen Änderung das Unrecht noch zu vertiefen. Liegt ein solcher Fall vor, so ist – be-vor es zu einer entsprechenden Abschmelzung bzw. zum Einfrieren der Leistung kommt – durch Verwaltungsakt die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides festzustellen (BSG Urteil vom 22.6.1988 - 9/9a RV 46/86 = juris; BSG Urteil vom 18.03.1997 - 2 RU 19/96 = juris; Urteil vom BSG 08.11.2007 - B 9/9a V 1/06 R = juris).

Im vorliegenden Fall gab es eine solche wesentliche Änderung, die die Beklagte anderen-falls "zum Vertiefen bestehenden Unrechts" gedrängt hätte, nicht. Vor diesem Hintergrund kann die Vorschrift nach Auffassung der Kammer auch nicht als Ermächtigungsgrundlage für den hier angefochtenen Feststellungs-VA dienen (vgl. hierzu auch Westermann, ju-risPR-SozR 19/2018 Anm. 6, der ein Verzichten auf das Tatbestandsmerkmal "Änderung der Verhältnisse zugunsten des Betroffenen" angesichts der damit verbundenen weitgrei-fenden nicht an Fristen gebundenen Möglichkeiten des Eingriffs in die Bestandskraft von Verwaltungsakten für "äußerst fragwürdig" hält; vgl. auch Steinwedel, in: Kasseler Kom-mentar, 104. EL Juni 2019, SGB X § 48 Rn. 65a). Eine (doppelt) analoge Anwendung der Vorschrift, erscheint der Kammer auch nicht geboten. Es ist auch ohne den feststellenden Bescheid im Ergebnis festzuhalten, dass aus dem (rechtswidrigen) Bescheid vom 06.07.2010 keinerlei Rechte herzuleiten sind. Dies gleichsam deklaratorisch festzustellen mag – aus Gründen der Rechtsklarheit sinnvoll erscheinen – es ist nach Auffassung der Kammer aber nicht durch eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage gedeckt.

3. Rein vorsorglich weist die Kammer darauf hin, dass selbst wenn man den auf die Feststel-lung einer rentenberechtigenden MdE gerichtete Klageteil für zulässig erachten würden, die Feststellung einer solchen MdE aus den unter Ziffer II.1. genannten Gründen nicht in Betracht käme. Die Klage wäre insoweit jedenfalls unbegründet.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183,193 SGG und berücksichtigt, dass nach Auf-fassung der Kammer die Aufhebung des (deklaratorischen) Feststellungsbescheides für den Kläger weniger Bedeutung hat, als die von ihm – freilich nach Auffassung der Kam-mer unzulässig – verfolgte Feststellung einer höheren MdE.
Rechtskraft
Aus
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