L 22 LW 5/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 5 LW 4/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 LW 5/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 16. Mai 2019 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch des Beschwerdeverfahrens nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen einen Haftungsbescheid der Antragsgegnerin in Höhe von 3.679,35 Euro.

Der im Oktober 1965 geborene Antragsteller ist der Ehemann der im August 1970 geborenen V R (Ehefrau), die als Mitgesellschafterin der "L GbR", einem Pflanzen- und Tierproduktion betreibenden Land- und Forstwirtschaftsbetrieb, in der landwirtschaftlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig war. Der Antragsteller, der seit 1982 eine Beschäftigung ausübt, war von der Antragsgegnerin von der Versicherungspflicht als Landwirt vom 1. Juli 1996 bis 30. April 2018 befreit.

Mit Haftungsbescheid vom 5. Februar 2019 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller auf, die von seiner Ehefrau geschuldeten Beiträge zur landwirtschaftlichen Rentenversicherung vom 1. September 2016 bis 31. Januar 2018 und vom 1. April 2018 bis 30. April 2018 in Höhe von insgesamt 3.679,35 Euro unter Hinweis darauf, dass der Antragsteller gesamtschuldnerisch hafte, zu zahlen.

Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Antragsteller geltend, er sei kein Landwirt. Die in § 1 Abs. 3 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) dargelegte Fiktion, dass der Ehepartner als Landwirt gelte, führe nicht dazu, dass er einer sei. Die aus dem Sinn und Zweck des ALG hergeleitete Argumentation zugunsten eines weiteren Verständnisses des in § 70 Abs. 2 ALG geforderten Landwirts reichten nicht aus, um eine gesamtschuldnerische Haftung zu begründen.

Gegen den Haftungsbescheid hat der Antragsteller beim Sozialgericht Neuruppin am 7. März 2019 Klage erhoben und zugleich Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit dem Begehren, die Vollstreckung des Haftungsbescheides mit sofortiger Wirkung zu untersagen, gestellt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 4. April 2019 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch gegen den Haftungsbescheid vom 5. Februar 2019 zurück.

Der Antragsteller hat darauf hingewiesen, Voraussetzung einer gesamtschuldnerischen Haftung sei, dass beide Ehepartner Landwirte seien. Er erfülle die Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 2 ALG jedoch nicht. Er beziehe seit 1982 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R sei am engen Verständnis des Tatbestandsmerkmals "sind Landwirte" festzuhalten. Der Haftungsbescheid sei daher rechtswidrig. Ungeachtet dessen verstießen § 1 Abs. 3 ALG und § 70 ALG gegen die im Grundgesetz (GG) Art. 12 und 14 verankerten Grundrechte. Soweit die Antragsgegnerin Begründungen zum Entwurf des Agrarsozialreformgesetzes vorbringe, handele es sich nicht um eine gesetzliche Regelung, welche insofern keine Anwendung finden könne. Vielmehr sei auf die gesetzliche Regelung abzustellen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. Dezember 2003 – 1 BvR 558/99 sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar. Sofern der Ehepartner aufgrund seiner Tätigkeit über eigene Ansprüche auf Alterssicherung verfüge, verstoße die Regelung des § 1 Abs. 3 ALG gegen das GG. Dies ergebe sich eindeutig aus dem Umkehrschluss zu der Begründung im Urteil des BVerfG.

Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, die Ehefrau des Antragstellers sei ihrer Zahlungsverpflichtung trotz diverser Mahnungen nicht bzw. nicht vollständig nachgekommen. Versuche, die rückständigen Beiträge im Wege der Zwangsvollstreckung beizutreiben, seien erfolglos geblieben, so dass nunmehr der Antragsteller mit Haftungsbescheid in Anspruch genommen worden sei. Dass der Begriff "Landwirt" umfassend zu verstehen und nicht nur landwirtschaftliche Unternehmer im Sinne von § 1 Abs. 2 ALG, sondern grundsätzlich auch deren Ehegatten einschließe, habe das BSG im Urteil vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R bereits ausdrücklich festgestellt gehabt. Zwar habe das BSG in dieser Entscheidung letztendlich die gesamtschuldnerische Haftung des nach § 1 Abs. 3 ALG versicherungspflichtigen Ehegatten abgelehnt. Anknüpfungspunkt hierfür sei jedoch ausdrücklich nicht der Versichertenstatus des Ehegatten als Fiktivlandwirt, sondern allein die Tatsache gewesen, dass dieser von der Versicherungspflicht befreit gewesen sei. Der Gesetzgeber habe diese Entscheidung des BSG sodann jedoch zum Anlass genommen, den Wortlaut des § 70 Abs. 1 ALG abzuändern. Nach der neuen Fassung der Vorschrift hänge die gesamtschuldnerische Haftung nunmehr nicht mehr davon ab, dass beide Ehegatten versichert seien; es genüge, dass beide Landwirte seien. Der Antragsteller sei in seiner Eigenschaft als Fiktivlandwirt nach § 1 Abs. 3 ALG als Landwirt im Sinne des § 70 Abs. 1 Satz 2 ALG zu beurteilen.

Mit Beschluss vom 16. Mai 2019 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt: Die Umstände lägen nicht so, dass die Folgen einer Vollziehung schwerer wögen als die Folgen einer Aussetzung bei Nichtbestehen der geltend gemachten Leistungspflicht. Das Gericht habe keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheides. Gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 ALG würden zwar die Beiträge bei Landwirten von ihnen selbst getragen. Seien aber beide Ehegatten Landwirte, so hafteten sie nach § 70 Abs. 1 Satz 2 ALG gesamtschuldnerisch. Der Antragsteller sei wegen § 1 Abs. 3 Satz 1 ALG ebenfalls Landwirt. Außerdem sei weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Begleichung der bestandskräftigen Beitragsschulden seiner Ehefrau für den Antragsteller eine unbillige Härte darstellen könnte. Die Behauptung, § 1 Abs. 3 ALG schränke ihn in seinem Recht auf freie Berufswahl ein und zwinge ihn zu einer Arbeit als Landwirt, scheine auch völlig aus der Luft gegriffen. Auch die geltend gemachte rechtswidrige Enteignung sei für das Gericht nicht ersichtlich.

Gegen den ihm am 20. Mai 2019 zugestellten Beschluss richtet sich die am 27. Mai 2019 eingelegte Beschwerde des Antragstellers.

Er verweist auf seine bisherigen Schriftsätze.

Der Antragsteller beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 16. Mai 2019 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Haftungsbescheid vom 5. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. April 2019 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Verfahrensstandes sowie des sonstigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin (), die bei der Entscheidung vorgelegen haben, verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen den Haftungsbescheid vom 5. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. April 2019 zu Recht abgelehnt. Es bestehen weder ernsthafte Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit, noch stellt dessen Vollziehung eine unbillige Härte dar.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Zwar haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG). Die aufschiebende Wirkung entfällt nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG jedoch bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten.

Danach hat die Anfechtungsklage gegen den Haftungsbescheid vom 5. Februar 2019 keine aufschiebende Wirkung, denn damit werden Beiträge angefordert. Es bedarf daher der Anordnung der aufschiebenden Wirkung, um zu erreichen, dass der angefochtene Verwaltungsakt nicht vollzogen wird. Bei der Entscheidung über diese Anordnung hat das Gericht zwischen dem privaten Interesse an der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen. Wegen des mit dem Verwaltungsakt verbundenen Eingriffs in die Rechtssphäre des Betroffenen hat diese Abwägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in besonderem Maße Rechnung zu tragen. Die für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung dieser Garantie und ein fundamentaler Grundsatz öffentlich-rechtlicher Streitverfahren in Anfechtungssachen. Allerdings gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes ist daher ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die dem Einzelnen auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken. Geltung und Inhalt dieser Leitlinien sind nicht davon abhängig, ob der Sofortvollzug eines Verwaltungsaktes einer gesetzlichen oder einer behördlichen Anordnung entspringt (so BVerfG, Beschluss vom 21. März 1985 - 2 BvR 1642/83, Rdnr. 19, zitiert nach juris, abgedruckt in BVerfGE 69, 220; BVerfG, Beschluss vom 10. April 2001 - 1 BvR 1577/00, Rdnr. 13, zitiert nach juris, m. w. N.,).

In den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung regelmäßig jedoch nur in Betracht, wenn - so § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG -ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn nach summarischer Prüfung des Verwaltungsaktes neben Umständen, die für die Rechtmäßigkeit sprechen, gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unsicherheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen (so Bundesfinanzhof - BFH, Beschluss vom 02. November 2004 - XI S 15/04, Rdnr. 11, zitiert nach juris), also im Hauptsacheverfahren ein Erfolg wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg. Dafür spricht die Erwägung, dass durch § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG das Vollzugsrisiko bewusst auf den Adressaten verlagert worden ist, um die notwendigen Einnahmen der öffentlichen Hand zur Erfüllung ihrer Aufgaben sicherzustellen. Diese gesetzliche Risikoverteilung würde unterlaufen, wenn bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens die Vollziehung ausgesetzt würde (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage, § 86a Rdnr. 27a). Eine unbillige Härte ist anzunehmen, wenn dem Betroffenen durch die Vollziehung des Verwaltungsaktes Nachteile entstehen oder ernsthaft drohen, die nicht oder nur schwer wieder gutgemacht werden können, sofern sie über die eigentliche Zahlung hinausgehen, denn Nachteile, die mit dem Vollzug eines nicht rechtskräftigen Verwaltungsaktes allgemein verbunden sind, sind regelmäßig zumutbar. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung wegen unbilliger Härte kommt allerdings nur in Betracht, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes nicht ausgeschlossen werden können. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, ist eine unbillige Härte ausgeschlossen, denn die Vollziehung zur Verwirklichung eines vom Gesetz vorgeschriebenen Rechtszustandes bedeutet lediglich die Durchsetzung der Rechtspflichten, die jedem anderen Betroffenen in derselben Situation obliegen (vgl. Meyer Ladewig, a. a. O., § 86a Rdnr. 27b; BFH, Beschluss vom 02. November 2004 - XI S 15/04, Rdnr. 18, zitiert nach juris; Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 01. November 2005 - 4 EO 871/05, Rdnr. 36, zitiert nach juris).

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es bestehen keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit.

Der Antragsteller haftet für die mit Bescheid vom 5. Februar 2019 festgesetzten Beiträge.

Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 ALG gilt: Die Beiträge werden bei Landwirten von ihnen selbst getragen. Sind beide Ehegatten Landwirte, haften sie gesamtschuldnerisch.

Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 ALG ist Landwirt, wer als Unternehmer ein auf Bodenbewirtschaftung beruhendes Unternehmen der Landwirtschaft betreibt, das die Mindestgröße (§ 1 Abs. 5 ALG) erreicht. § 1 Abs. 3 Satz 1 ALG bestimmt: Der Ehegatte eines Landwirts nach § 1 Abs. 2 ALG gilt als Landwirt, wenn beide Ehegatten nicht dauernd getrennt leben und der Ehegatte nicht voll erwerbsgemindert nach § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Die Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 ALG beruht auf dem zum 1. August 2004 in kraft getretenen Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) vom 21. Juli 2004 (BGBl I 2004, 1791). In der Gesetzesbegründung (Bundestag-Drucksache 15/2149, S. 30) heißt es dazu: Die Änderung stellt entsprechend der bisherigen Praxis und dem Gesetzeszweck sicher, dass eine gesamtschuldnerische Haftung der Ehegatten auch dann greift, wenn nur einer der Ehegatten in der Alterssicherung der Landwirte – aktiv – versichert ist. Die Änderung ist erforderlich geworden aufgrund der jüngsten Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R). Das Urteil schränkt – unter Berufung auf den derzeitigen Wortlaut der Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 1 ALG – die gesamtschuldnerische Haftung der Ehegatten in einer Weise ein, die die Erreichung des Gesetzeszwecks in Frage stellt. Überdies befürwortet das Gericht eine hälftige Aufteilung der Beitragstragungspflicht nach dem Rechtsgedanken des § 420 BGB. Müssten die Alterskassen dem Rechnung tragen, wäre dies mit erheblichem zusätzlichem Verwaltungsaufwand für die Bei- tragserhebung bei gleichzeitig verschlechterten Beitreibungsmöglichkeiten verbunden.

Die bis zum 31. Juli 2004 geltende Fassung des § 70 Abs. 1 Satz 1 ALG (alte Fassung – a. F.) sah vor: Die Beiträge für die Versicherungspflichtigen trägt der Landwirt; sind beide Ehegatten versichert, haften sie gesamtschuldnerisch.

An dieser alten Fassung als dem seinerzeit maßgebenden Recht anknüpfend hat das BSG im Urteil vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R (abgedruckt in SozR 3-5868 § 70 Nr. 1) zum einen entschieden:

Tenor:

Der Begriff "Landwirt" ist insoweit umfassend zu verstehen, er schließt nicht nur landwirtschaftliche Unternehmer i. S. von § 1 Abs. 2 ALG, sondern grundsätzlich auch deren Ehegatten ein. § 1 Abs. 3 ALG sieht dazu vor, dass der Ehegatte eines Landwirts nach § 1 Abs. 2 ALG als Landwirt gilt, wenn beide Ehegatten nicht dauernd getrennt leben und der Ehegatte nicht - unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage - voll erwerbsgemindert nach § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist. Ein derart weites Verständnis des Landwirtbegriffs in § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 ALG entspricht nicht nur dem Sprachgebrauch des ALG, sondern auch den gesetzgeberischen Vorstellungen (BSG, a. a. O., Rdnr. 18, zitiert nach juris).

Das BSG hat zum anderen entschieden: Entgegen der Ansicht der Klägerin ist der versicherungsrechtliche Status des Landwirts im Rahmen des § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 ALG unerheblich. Das Gesetz stellt in diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht auf einen "versicherten" oder "versicherungspflichtigen" Landwirt ab. Vielmehr müssen nur die Personen, für die der Landwirt Beiträge zu tragen hat, versicherungspflichtig sein. Dementsprechend ändert die bei der Klägerin gemäß § 3 ALG ab 1. Januar 1995 erfolgte Befreiung von der Versicherungspflicht (Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 1995) und die Feststellung des LSG, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt als Angestellte außerhalb des landwirtschaftlichen Unternehmens ihres Ehegatten verdient, an ihrer Eigenschaft als Landwirtin nichts. Denn der Status des Landwirts bleibt für denjenigen, der von der Versicherungspflicht befreit wird, für die Zeit der Befreiung bestehen. Nur die an die Versicherungspflicht geknüpften Rechtsfolgen sind für diese Zeit suspendiert, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Betroffen ist davon insbesondere die eigene Beitragspflicht zur Alterssicherung der Landwirte, nicht jedoch die Pflicht zur Beitragstragung für die im landwirtschaftlichen Unternehmen tätigen Versicherungspflichtigen. Wäre es anders, dann würde es an einem Beitragsschuldner für nach § 1 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 8 ALG versicherte mitarbeitende Familienangehörige fehlen, wenn sich der betreffende Landwirt und ggf. auch sein Ehegatte ("Gilt-Landwirt") gemäß § 3 ALG haben befreien lassen. Zwar hat demnach - neben ihrem Ehemann - auch die Klägerin die für diesen zu zahlenden Beiträge zu tragen (BSG, a. a. O., Rdnrn. 20 und 21, zitiert nach juris).

Das BSG hat zum dritten entschieden: Es trifft sie jedoch - entgegen der Annahme der Beklagten - keine (verschärfte) gesamtschuldnerische Haftung. Eine solche folgt insbesondere nicht aus § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ALG. Darin ist bestimmt: Sind beide Ehegatten versichert, haften sie gesamtschuldnerisch. Da die gesamtschuldnerische Haftung der Ehegatten mithin davon abhängt, ob beide "versichert sind", ist vorrangig dieses Tatbestandsmerkmal zu klären (BSG, a. a. O., Rdnr 21). Das BSG kommt in den nachfolgenden Erörterungen (BSG, a. a. O., Rdnrn. 22 ff, zitiert nach juris) zu folgendem Ergebnis: Die von der Beklagten aus dem Sinn und Zweck des ALG hergeleiteten Argumente zu Gunsten eines weiten Verständnisses des in § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ALG geforderten Versichertseins reichen nicht aus, um eine gesamtschuldnerische Haftung von nach § 3 ALG befreiten Landwirten zu begründen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein derartiger Landwirt nach § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 ALG ohnehin (mit) zur Beitragstragung verpflichtet ist. Hätte er (der Gesetzgeber) dafür an den Landwirtstatus, insbesondere auch an den des Fiktiv-Landwirts, anknüpfen wollen, hätte er den Gesetzestext entsprechend formulieren müssen (BSG, a. a. O., Rdnr. 24). Da im vorliegenden Fall zwei Landwirte (die Klägerin und ihr Ehemann) beitragstragungspflichtig sind, folgt daraus, dass die Beklagte die Hälfte der geschuldeten Beiträge von der Klägerin einfordern kann (BSG, a. a. O., Rdnr. 26).

Soweit sich der Antragsteller auf das Urteil des BSG vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R bezieht, verkennt er dreierlei.

Zum einen hat das BSG in diesem Urteil bereits entschieden, dass der Begriff "Landwirt" in § 70 Abs. 1 Satz 1 ALG a. F. auch den so genannten fiktiven Landwirt nach § 1 Abs. 3 ALG umfasst. Diese Gleichstellung ist gerade die mit der Gesetzestechnik der so genannten Fiktion, also der Annahme tatsächlicher oder rechtlicher Umstände, die in Wirklichkeit nicht bestehen, beabsichtigte typische Rechtsfolge. Der Antragsteller wäre mithin schon von § 70 Abs. 1 Satz 1 ALG a. F. erfasst gewesen. Zum anderen hat das BSG in diesem Urteil bereits entschieden, dass es im Rahmen des § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 ALG a. F. nicht darauf ankommt, ob der in Haftung genommene Landwirt selbst versicherungspflichtig ist. Der Status des Landwirts "bleibt vielmehr auch für denjenigen bestehen, der von der Versicherungspflicht befreit worden ist". Der Antragsteller wäre mithin schon von § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 ALG a. F. erfasst gewesen.

Zum dritten hat das BSG in diesem Urteil bereits entschieden, dass der Ehegatte als Landwirt im Sinne des § 1 Abs. 3 ALG, auch wenn er selbst von der Versicherungspflicht befreit worden ist, jedenfalls die Hälfte der geschuldeten Beiträge des als Landwirt versicherungspflichtigen Ehegatten im Rahmen des § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ALG schuldet. Der Antragsteller wäre mithin schon nach § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ALG a. F. zur Zahlung der hälftigen Beitragsschulden seiner Ehefrau verpflichtet gewesen.

Das BSG hat im Urteil vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R lediglich – nur insoweit hat der Antragsteller recht - die gesamtschuldnerische Haftung deswegen von § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ALG a. F. als nicht erfasst gesehen, weil diese Vorschrift daran anknüpfte, dass "beide Ehegatten versichert" sind. Ein solcher Sachverhalt lag diesem Urteil des BSG zugrunde, weil der eine Ehegatte von der Versicherungspflicht als Landwirt befreit war.

Allerdings verkennt der Antragsteller zum vierten, dass zwischenzeitlich § 70 Abs. 1 Satz 1 ALG a. F. durch § 70 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 ALG ersetzt wurde. Nach dieser Änderung genügt es, dass "beide Ehegatten Landwirte" sind. Die aktuell maßgebende Fassung fordert also nicht mehr, dass "beide Ehegatten versichert" sind. Das nach § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ALG a. F. bestandene Hindernis einer gesamtschuldnerischen Haftung der Ehegatten, nämlich die Versicherungsfreiheit eines dieser Ehegatten, hat der Gesetzgeber mit § 70 Abs. 1 Satz 2 ALG beseitigt.

Der Gesetzgeber hat damit genau die Überlegungen umgesetzt, die das BSG im Urteil vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R angestellt hat: "Da bereits mit dem Status eines Landwirts eine grundsätzliche Versicherungspflicht und damit auch im Falle einer Befreiung nach § 3 ALG ein latentes Versicherungsverhältnis verbunden ist, wäre es für den Gesetzgeber konsequent gewesen, zur Begründung einer gesamtschuldnerischen Haftung von Ehegatten an den in (§ 70 Abs. 1 Satz 1) Halbsatz 1 ALG (a. F.) verwendeten Landwirtbegriff anzuknüpfen, wenn er eine allgemeine Zugehörigkeit zum versicherten Personenkreis hätte ausreichen lassen wollen. Indem er in (§ 70 Abs. 1 Satz 1) Halbsatz 2 (a. F.) hingegen ein Versichertsein verlangt, hat er damit offenbar ein weiter gehendes Erfordernis i. S. einer aktuell bestehenden Versicherung aufstellen wollen" (BSG, a. a.O., Rdnr. 23, zitiert nach juris). Der Gesetzgeber hat dieser Überlegung folgend in § 70 Abs. 1 Satz 2 ALG nur noch am "Landwirtbegriff" angeknüpft und an dem "Versichertsein" nicht weiter festgehalten.

Der Antragsteller ist Landwirt, denn er erfüllt die in § 1 Abs. 3 Satz 1 ALG genannten Voraussetzungen. Seine Ehefrau, von der er nicht dauernd getrennt lebt, ist bis 30. April 2018 landwirtschaftliche Unternehmerin im Sinne von § 1 Abs. 2 ALG gewesen. Darüber hinaus ist der Antragsteller nicht nach § 43 Abs. 2 SGB VI voll erwerbsgemindert. Auf eine tatsächliche Mitarbeit im landwirtschaftlichen Unternehmen kommt es bei der Fiktion des § 1 Abs. 3 ALG nicht an (so schon BSG, Urteil vom 25. Juli 2002 – B 10 LW 40/00 R, Rdnr. 19, zitiert nach juris). Da beide Ehegatten Landwirte sind, haften sie gesamtschuldnerisch.

Nach alledem hat der Antragsteller die der Antragsgegnerin geschuldeten Beiträge seiner Ehefrau zur landwirtschaftlichen Rentenversicherung in Höhe von 3.679,35 Euro zu tragen und damit zu zahlen.

§ 70 Abs. 1 Satz 2 ALG i. V. m. § 1 Abs. 3 Satz 1 ALG ist auch nicht verfassungswidrig.

Wie das BVerfG im Beschluss vom 09. Dezember 2003 – 1 BvR 558/99 (abgedruckt in BVerfGE 109, 96) entschieden hat, wird durch § 1 Abs. 3 ALG nicht das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Zwar wird in dieses Grundrecht dadurch eingegriffen, dass den Ehegatten von Landwirten eine Pflichtmitgliedschaft und Beitragspflichten in der Alterssicherung der Landwirte auferlegt werden und somit eine bestimmte Form der Altersvorsorge vorgeschrieben wird (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 39, zitiert nach juris). Der Antragsteller selbst wird dadurch, dass die Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht als Landwirt besteht, von der er auch Gebrauch gemacht hat, tatsächlich nicht betroffen.

Soweit er wegen der Beiträge, die seine Ehefrau schuldet, in Anspruch genommen wird, liegt darin ebenfalls kein Verstoß gegen dieses Grundrecht.

Die Einbeziehung der Ehegatten von Landwirten in die Versicherungspflicht war geeignet, einen wirksamen Beitrag zur Alterssicherung dieses Personenkreises zu leisten. Die Einbeziehung der Landwirtsehegatten als neuer zur Beitragszahlung verpflichteter Mitglieder war auch geeignet, die finanziellen Grundlagen der landwirtschaftlichen Alterskassen zu verbessern (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 43, zitiert nach juris). Der landwirtschaftliche Betrieb ist, soweit es um die Alterssicherung geht, traditionell beiden Ehegatten zugeordnet (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 59). Die Alterskasse kann direkt den verdienenden Ehegatten in Anspruch nehmen, weil er nach § 70 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ALG a. F. gesamtschuldnerisch für die Beiträge des Ehegatten mithaftet. Eine solche Mithaftung ist dem Familienrecht nicht fremd (vgl. § 1357 Abs. 1, § 1362 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 60, zitiert nach juris).

Das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art 12 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach alle Deutschen das Recht haben, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen, wird nicht berührt. Die Regelung des § 70 Abs. 1 Satz 2 ALG i. V. m. § 1 Abs. 3 Satz 1 ALG steht weder infolge ihrer Gestaltung in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs noch lässt sie - objektiv - eine berufsregelnde Tendenz erkennen. Sie soll nach der Intention des Gesetzgebers nicht etwa den Entschluss zur Wahl oder zur Art der Ausübung eines Berufs steuern. Es wird lediglich formal an dem Begriff des Landwirts angeknüpft, um die ihr zugedachte Funktion der Finanzierung der landwirtschaftlichen Rentenversicherung erfüllen zu können (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 08. April 1987 – 2 BvR 909/82, Rdnr. 115, zitiert nach juris, abgedruckt in BVerfGE 75, 108: zur Künstlersozialabgabe). Der Antragsteller konnte seinen gewählten Beruf fortführen und führte ihn auch fort. Eine gesetzgeberische Steuerung, als Landwirt unternehmerisch tätig zu werden, ist mit § 70 Abs. 1 Satz 2 ALG i. V. m. § 1 Abs. 3 Satz 1 ALG nicht verbunden. Das Grundrecht auf Eigentum aus Art 14 Abs. 1 Satz 1 GG wird ebenfalls nicht betroffen. Dieses Grundrecht schützt nicht, wie das BVerfG stets betont hat, das Vermögen als solches gegen Eingriffe durch Auferlegung von Geldleistungspflichten, so dass die Funktion der Eigentumsgarantie, den Bestand der durch die Rechtsordnung anerkannten einzelnen Vermögensrechte gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu bewahren, durch die Zahlung von Beiträgen nicht berührt wird (BVerfG, Beschluss vom 08. April 1987 – 2 BvR 909/82, Rdnr. 116, zitiert nach juris).

Ist mithin der Haftungsbescheid vom 5. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. April 2019 rechtmäßig, ist eine unbillige Härte ausgeschlossen.

Die Beschwerde muss daher erfolglos bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ergebnis des Verfahrens.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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