L 9 SB 36/17

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
9
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 32 SB 178/16
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 9 SB 36/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
3. Änderungsverordnung zur Versorgungsmedizinverordnung vom 17.12.2010, BGBl I, 2124
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 08.03.2017 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30 sowie die Entziehung des Merkzeichens G.

Bei dem Kläger wurde mit Bescheid des Beklagten vom 05.12.2003 ein GdB von 50 und das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens G festgestellt. Als Funktionseinschränkungen wurden ein Gelenkersatz der Hüfte links, Funktionsstörung des Kniegelenkes rechts, Restbeschwerden nach Weichteilverletzung und Achillessehnenruptur rechts, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig berücksichtigt.

Am 05.10.2010 beantragte der Kläger die Erhöhung des Grades der Behinderung, weil ihm im August 2010 ein künstliches Kniegelenk rechts eingesetzt worden sei mit der Folge eingeschränkter Beweglichkeit, das Knien und Hocken sei ihm nicht mehr möglich. Nach vorheriger Anhörung des Klägers und Beiziehung aktueller Befundberichte der behandelnde Ärzte hob der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 11.08.2011 den Bescheid vom 05.12.2003 mit Wirkung ab Bekanntgabe des Bescheids von Amts wegen auf und stellte den GdB mit nunmehr 30 neu fest. Ferner wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht mehr vorlägen. Durch eine Gesetzesänderung sei der Einzel-GdB für eine Knie-TEP nur noch mit 20 festzustellen und für eine Hüft-TEP mit 10, sodass sich der Gesamt-GdB verringert habe. Damit könne auch das Merkzeichen G ab Bekanntgabe des Bescheids nicht mehr festgestellt werden. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Kommunale Sozialverband Sachsen mit Widerspruchsbescheid vom 11.03.2013 hinsichtlich der Höhe des GdB und mit Widerspruchsbescheid vom 26.01.2016 hinsichtlich der Entziehung des Merkzeichens G zurück.

Auf die am 11.04.2013 erhobene Klage hat das Sozialgericht nach Zurückverweisung durch das Sächsische Landessozialgericht Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt und ein orthopädisches Sachverständigengutachten von Dr. Z. sowie ein internistisches Sachverständigengutachten von Dr. Y. eingeholt.

Mit Gerichtsbescheid vom 08.03.2017 hat das Sozialgericht die Anfechtungsklage abgewiesen. Der Kläger habe im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30 und auch nicht auf Feststellung, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen G weiterhin gegeben seien. Der orthopädische Gutachter Dr. Z. habe in schlüssiger und nachvollziehbarer Weise hinsichtlich des linken Hüftgelenks nach einer Hüftprothesenimplantation links mit guter Funktion und angesichts nur endgradig eingeschränkter Beweglichkeit gemäß Teil B Nr. 18.12 der Anlage zur VersMedV einen GdB von 10 angesetzt. Auch sei es nicht zu beanstanden, dass er hinsichtlich des rechten Kniegelenks nach einer Knieprothesenimplantation gemäß Teil B Nr. 18.12 der Anlage zur VersMedV von einem GdB von 20 ausgegangen sei. Es bestehe lediglich ein endgradiges Streckdefizit, sodass von einer regelhaften Knieprothesenimplantation mit normaler Funktion ausgegangen werden könne und der Einzel-GdB von 20 angemessen erscheine. Der rechte Fuß und das rechte untere Sprunggelenk seien aufgrund einer bestehen Kraftminderung und entsprechender Bewegungsdefizite des unter Sprunggelenks und der Zehen gemäß Teil B Nr. 18.14 der Anlage zur VersMedV zu Recht mit einem GdB von 20 berücksichtigt worden, wohingegen die Funktionsbeeinträchtigung des linken Sprunggelenks sowie die Fußdeformität ohne wesentliche statische Auswirkung mit einem GdB von 10 zu bemessen sei. Das Phleb-Lymphödem sei mit einem GdB von 20 nach Teil B Nr. 9.2.3 der Anlage zur VersMedV zu bewerten. Zwar bestehe eine erhebliche Ödem-Bildung mit stärkerer Umfangsvermehrung, doch habe der Gutachter Dr. Y. zu Recht darauf hingewiesen, dass durch eine adäquate Behandlung eine signifikante Minderung der Ödeme möglich wäre. Aufgrund der Weigerung des Klägers, maßangefertigte Kompressionsstrümpfe zu tragen, könne kein höherer GdB als 20 zugestanden werden. Der leichte Bluthochdruck ohne oder nur mit geringer Leistungsbeeinträchtigung sei zutreffend mit einem GdB von 10 bewertet worden, hieraus ergebe sich kein höherer Gesamt-GdB als 30. Die Voraussetzungen der VersMedV Teil D Nr. 1 für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G lägen nicht vor. Es fehle bereits an den sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, für die für sich ein GdB von mindestens 50 bedingen. Ein besonderer Fall, nachdem eine Behinderung an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50 ausnahmsweise ausreichend sei, sei nicht ersichtlich.

Mit der am 23.03.2017 nach Zustellung des Gerichtsbescheids am 10.03.2017 zum Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Klageabweisung stelle einen Eingriff in den verfassungsrechtlichen gebotenen Vertrauensschutz gemäß Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz i.V.m. Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz dar. Der Gesundheitszustand des Klägers habe sich im Vergleich zum Zeitraum 2003 bis einschließlich heute zu keinem Zeitpunkt bezüglich des Hüftgelenk- bzw. Kniegelenk-ersatzes verändert. Die hier praktizierte Vorgehensweise, die Änderung der VersMedV aus dem Jahre 2010 auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden, verstoße gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot, wonach auf einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalt nachträglich zu Ungunsten des Klägers nicht eingegriffen werden dürfe. Die Funktionseinschränkungen Gelenkersatz Knie rechts bzw. Gelenkersatz Hüfte links hätten sich nicht verändert. Sie hätten bereits 2003 mit Bescheid vom 05.12.2003 nebst den damals festgestellten Einzel-GdBs festgestanden. Da früher bereits ein Gesamt-GdB von 50 und das Merkzeichen G für diese Funktionsbeeinträchtigungen anerkannt worden sei, könne sich der Kläger auf Vertrauensschutz berufen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 08.03.2017 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11.08.2011 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 11.03.2013 und 26.01.2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er nimmt Bezug auf die vorgelegen sozialmedizinischen Stellungnahmen sowie die eingeholten Sachverständigengutachten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen, auf die Gerichts- und Behördenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids vom 11.08.2011 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 11.03.2013 und 26.01.2016. Zu Recht hat das Sozialgericht die hierauf gerichtete Anfechtungsklage abgewiesen, § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die vorgenommene Reduzierung des GdB von 50 auf 30 sowie die Aberkennung des Merkzeichens G ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat seit Erlass dieses Änderungsbescheides vom 11.08.2011 keinen Anspruch mehr auf einen höheren Gesamt-GdB sowie auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichen G. Diese zutreffende Einschätzung des Beklagten beruht hinsichtlich des Hüftgelenks auf eine Änderung der rechtlichen Grundlage und hinsichtlich des Kniegelenks sowohl auf einer Änderung der Tatsachengrundlage (Knieoperation August 2010) als auch der rechtlichen Grundlage. Insoweit ist der Vortrag der Klagepartei, der Gesundheitszustand des Klägers habe sich seit 2003 nicht verändert, unzutreffend.

Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) in der Neufassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 29.12.2016 (BGBl. I, S. 3234) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und einem Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Diese Vorschrift knüpft materiell rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnes- Beeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigen Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderungen bedroht, wenn eine Behinderung nach Satz 1 zu erwarten ist. Nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Nach § 153 Abs. 2 SGB IX wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des Grades der Behinderung, die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Die hierfür maßgebenden Grundsätze sind in der am 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I, S. 2412) zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl. I, S. 2122) aufgestellt worden. Vor dem 01.01.2018 waren die jetzt in § 152 SGB IX geregelten Voraussetzungen im Wesentlichen inhaltsgleich in § 69 SGB IX geregelt.

Nach § 2 VersMedV sind die für die Beurteilung des Schweregrades maßgebenden Grundsätze in der Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze – Anlage zu § 2 VersMedV [Anlageband zu BGBl. I Nr. 57 vom 15.12.2008, G 5702] als deren Bestandteil festgelegt und damit der Beurteilung der erheblichen medizinischen Sachverhalte mit der rechtlichen Verbindlichkeit einer Rechtsverordnung zugrunde zu legen (BSG; Urteil vom 23.04.2009, B 9 SB 3/08 R, juris Rn. 27). Sie ersetzen die bis dahin der Rechtsanwendung zugrundeliegenden Anhaltspunkte (AHP). Als Rechtsverordnung binden sie Verwaltung und Gerichte. In jedem Einzelfall sind alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischen Gebiet zu berücksichtigen und im Rahmen der in Teil A Nr. 2e der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Funktionssysteme (Gehirn einschließlich; Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz-Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschliesslich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf) zusammenfassend zu beurteilen. Die Beurteilungsspannen tragen den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung (Teil B Nr. 1a der Anlage zur VersMedV).

Rechtsgrundlage für die Entscheidung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Es liegt ein bestandskräftiger Bescheid vom 05.12.2003 über die Feststellung eines GdB von 50 sowie des Merkzeichens G vor. Dieser ist mit Wirkung für die Zukunft (ab Bekanntgabe des Bescheids vom 11.08.2011) aufzuheben, weil in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Mit der 3. Änderungsverordnung zur Versorgungsmedizinverordnung vom 17.12.2010 (BGBl. I Seite 2124) wurde Teil B der Anlage zur VersMedV geändert. In Nr. 18.12. war bis dahin für die einseitige Hüftgelenksendoprothese ein GdB von 20, für die einseitige Kniegelenksendoprothese ein GdB von 30 vorgesehen. Nunmehr wurden die Bewertungsvorgaben abgesenkt auf Kniegelenk einseitig 20, Hüftgelenk einseitig 10, wobei es sich dabei – wie zuvor – um Mindestwerte handelt. Die Absenkung der Werte wurde begründet mit einer Verbesserung der Behandlungsergebnisse (BR-Drucksache 713/10 vom 05.11.2010: "Klinische Studien belegen, dass sich das auf die Teilhabe auswirkende Behandlungsergebnis nach endoprothetischem Ersatz des Hüft- und Kniegelenks im Vergleich zu den Erkenntnissen vor 15 Jahren gebessert hat.") Nach der Ansicht von Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, Anlage zu § 2 Versorgungsmedizinverordnung, Kommentar 7. Auflage, Seite 341, stellt die Änderung der Bewertungsvorgaben zwar eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X dar, es sei aber der der Änderung der Bewertungsvorgaben zugrunde liegende Sachverhalt – nämlich ein nunmehr besseres Behandlungsergebnis – nicht auf früher implantierte Endoprothesen anwendbar. Deswegen hätten behinderte Menschen mit früher implantierten Endoprothesen nicht mit einer entsprechenden Absenkung des ihnen bereits zugestandenen GdB zu rechnen.

Dieser Ansicht folgt das Gericht nicht (so bereits Urteil vom 21.02.2017, 9 SB 69/15). Zwar ist das grundsätzlich bessere Behandlungsergebnis aufgrund des Fortschritts von Medizin und Medizintechnik nicht pauschal auf ältere Prothesen anwendbar, dies wird jedoch dadurch berücksichtigt, dass nach Teil B Nr. 18.12 der Anlage zur VersMedV Mindest-GdB-Werte angegeben werden, die für Endoprothesen bei bestmöglichem Behandlungsergebnis gelten. Bei eingeschränkter Versorgungsqualität sind höhere Werte angemessen. Die Versorgungsqualität kann insbesondere beeinträchtigt sein durch eine Beweglichkeits- oder Belastungseinschränkung, eine Nervenschädigung, eine deutliche Muskelminderung und/oder eine ausgeprägte Narbenbildung. Aufgrund der Berücksichtigung des tatsächlichen Zustands und der Möglichkeit der Erhöhung der GdB-Werte ist mit der Neufassung der VersMedV für die Bewertung von Endoprothesen grundsätzlich keine Benachteiligung vorhanden. Soweit der Kläger geltend macht, aus Vertrauensschutzgründen dürfe im Hinblick auf Artikel 2, 20 Grundgesetz keine Änderung der Feststellung erfolgen, ist darauf zu verweisen, dass dieser Vertrauensschutz einfachgesetzlich u.a. durch § 48 SGB X konkretisiert wurde. § 48 SGB X regelt in verfassungsmäßiger Ausgestaltung des Vertrauensschutzes die Angleichung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung an wesentlich veränderte tatsächliche und rechtliche Verhältnisse. Auch wenn sich die versorgungsmedizinischen Grundsätze (VersMedV) ändern (z.B. durch die Einführung abgeänderter Bewertungsmaßstäbe) oder wenn sich die medizinische Lehrmeinung ändert, kann der GdB unter Berufung auf § 48 SGB X geändert werden. Die Änderung der medizinischen Lehrmeinung ist dabei genauso zu behandeln wie eine Rechtsänderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X (BSG, Urteil v. 11.10.1994, 9 RVs 1/93, s. auch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.03.1995, 1 BvR 60/95, beide zu den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit, im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, der Vorgängervorschrift zu den versorgungsmedizinischen Grundsätzen). Dem Vertrauensschutz wird hierbei insoweit Rechnung getragen, dass die Änderungen in der GdB-Bewertung regelmäßig nur für die Zukunft vorgenommen werden. Dies ist auch im vorliegenden Fall geschehen, indem mit dem Änderungsbescheid vom 11.08.2011 nicht für die Vergangenheit, sondern erst ab Bekanntgabe dieses Bescheides diese Änderungen festgestellt wurden.

Vorliegend hat der Beklagte zutreffend festgestellt, dass zu dem für die hier vorliegende Anfechtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt, Erlass des Bescheides vom 11.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.2013 (betreffend Feststellung des GdB) bzw. des Widerspruchsbescheids vom 26.01.2016 (Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens G) kein höherer GdB als 30 und damit auch nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G vorliegen. Durch die im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten medizinischen Unterlagen, Befundberichte und ärztliche Sachverständigengutachten steht für das Gericht fest, dass der Kläger zum o.g. Zeitpunkt an folgenden GdB-relevanten und für die Feststellung von Merkzeichen relevanten Funktionsbeeinträchtigungen leidet: künstliches Hüftgelenk links, künstliches Kniegelenk rechts, Funktionsbeeinträchtigung des unteren Sprunggelenks links sowie Fußdeformität, Funktionsbeeinträchtigung des unteren Sprunggelenks rechts, Lymphödem/Phlebödem, leichter Bluthochdruck.

Die Endoprothese des Hüftgelenks wird nach Teil B Nr. 18.12 der Anlage zur VersMedV bei einseitiger Endoprothese mit einem GdB von mindestens 10 bewertet. Eine höhere Bewertung ist vorliegend nicht angezeigt. Der Gutachter Dr. Z. hat eine gute Funktion und eine nur endgradig eingeschränkte Beweglichkeit festgestellt. Eine Beweglichkeits- und Belastungseinschränkung, eine Nervenschädigung, eine deutliche Muskelminderung oder eine ausgeprägte Narbenbildung, die zu einer höheren Bewertung führen könnte, ist nicht festgestellt worden. Der GdB beträgt 10.

Der GdB für die Endoprothese des Kniegelenks beträgt nach Teil B Nr. 18.12 der Anlage zur VersMedV bei einseitiger Totalendoprothese mindestens 20. Auch hier ist keine Erhöhung vorzunehmen, es besteht nach den Feststellungen des Gutachters lediglich ein endgradiges Streckdefizit, sodass von einer regelhaften Knieprothesenimplantation mit normaler Funktion ausgegangen werden kann. Das geringe Streckdefizit von 5 Grad sowie die im Wesentlichen erhaltene Beugefähigkeit von 95 Grad ermöglichen eine normale Mobilisation, sodass eine regelhafte Knieprothesenimplantation mit normaler Funktion resultiert, die mit einem GdB von 20 zu bemessen ist.

Die Bewegungseinschränkung des Sprunggelenks rechts ist nach Teil B Nr. 18.14 der Anlage zur VersMedV je nach Bewegungseinschränkung zu bemessen, bei einer Bewegungseinschränkung mittleren Grades, Heben/Senken 0/0/30 Grad ist ein GdB von 10, bei einer Bewegungseinschränkung stärkeren Grades ein GdB von 20 zu vergeben. Die fußrückenseitige Bewegung des rechten Sprunggelenks ist nach den Feststellungen von Dr. Z nicht derart kraftvoll möglich wie auf der linken Seite. Aufgrund der Achillessehnenverletzung 1974 mit einer Schwäche der rechten Beinmuskulatur, sodass am rechten Fuß ein GdB summarisch für die Achillessehnenverletzung, die Kraftminderung und die Bewegungsdefizite des unteren Sprunggelenks und der Zehen nach der Einschätzung des Gutachters von 20 zu bemessen ist. Dem ist zuzustimmen. Am linken Sprunggelenk ist die Beweglichkeit seitengleich zum rechten unteren Sprunggelenk hälftig eingeschränkt. Unter Mitberücksichtigung der Fußdeformität, Plattfuß und Fußlängs- und Quergewölbsdeformierung ist hierfür ein Einzel-GdB von 10 angemessen.

Das Lymphödem ist nach Teil B Nr. 9.2.2 der Anlage zur VersMedV wie folgt zu bewerten: Lymphödem an einer Gliedmaße ohne wesentliche Funktionsbehinderung, Erfordernis einer Kompressionsbandage 0 bis 10, mit stärkerer Umfangsvermehrung (mehr als 3 cm) je nach Funktionseinschränkung 20 bis 40.

Dr. Z. hat bei seiner Begutachtung eine Umfangsvermehrung des rechten Unterschenkels von plus 7 cm durch eine ödematöse Schwellung bei gleichzeitiger deutlicher Rötung beider Unterschenkel festgestellt. Auch der internistische Gutachter Dr. Y. hat eine erhebliche Umfangsvermehrung des rechten Unterschenkels festgestellt und fotografisch dokumentiert. Das Landessozialgericht folgt der Einschätzung des Gutachters Dr. Y. und des Sozialgerichts mit einem Einzel-GdB von 20 für das Lymphödem, im Ergebnis, jedoch nicht in der Begründung. Soweit ein höherer Einzel-GdB im Hinblick auf die nicht durchgeführte Kompressionstherapie abgelehnt wird, und darauf abgestellt wird, dass durch eine adäquate Behandlung eine signifikante Minderung der Ödem an den Beinen und Füßen möglich wäre und aufgrund der Weigerung des Klägers, die maßangefertigten Kompressionsstrümpfe zu tragen, kein höherer GdB als 20 zugestanden werden, entspricht dies nur dann der finalen Betrachtungsweise des Schwerbehindertenrechts, wenn in die Würdigung mit eingestellt wird, dass der Kläger offensichtlich nur einen geringen Leidensdruck verspürt, wenn er die grundsätzlich mögliche und zumutbare Kompressionstherapie nicht durchführt. Denn es kommt beim Lymphödem nicht auf den hypothetischen Zustand nach Kompressionstherapie an, sondern auf den tatsächlichen Zustand. Jedoch kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger es vorzieht, die naheliegende und wenig belastende Kompressionstherapie durch angepasste Kompressionsstrümpfe nicht durchzuführen und dagegen lieber die Schwellung in Kauf nimmt, was auf eine geringe Beeinträchtigung im Sinne eines geringen Leidensdrucks hinweist. Dadurch ist die Funktionsbeeinträchtigung insgesamt mit einem GdB von 20 zutreffend eingeschätzt.

Der Bluthochdruck des Klägers ist nach Teil B Nr. 9.3 der Anlage zur VersMedV als leichte Form mit fehlender oder geringer Leistungsbeeinträchtigung mit einem Einzel-GdB von 10 zutreffend bewertet, eine Organbeteiligung leichten bis mittleren Grades, die eine mittelschwere Form mit einem GdB von 20 bis 40 nach sich ziehen würde, ist nach den Feststellungen der Gutachter nicht nachgewiesen.

Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsstörungen zusammen dürfen nach Teil A Nr. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV die einzelnen Teil-GdB-Werte nicht einfach addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Dabei führen indes leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Teil-GdB von 10 bedingen, nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamt-Beeinträchtigung, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte. Auch bei leichten Behinderungen mit einem Teil-GdB um 20 ist es regelmäßig nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Bei der Bestimmung des Gesamt-GdB ist daher in der Regel von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und damit im Hinblick auf alle weiteren Funktionsstörungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsstörungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Gesamtbehinderung gerecht zu werden.

Ausgehend von einem Einzel-GdB von jeweils 20 für das rechte Kniegelenk und das Lymphödem sowie einem Einzel-GdB von jeweils 10 für das Hüftgelenk und dem Bluthochdruck ist die Gesamt-GdB-Bildung von 30 zutreffend und nicht zu beanstanden. Soweit der Gutachter Dr. Y einen Gesamt-GdB von 40 vorschlug, hat er die maßgeblichen Grundsätze der Gesamt-GdB-Bildung verkannt, sodass ihm lediglich hinsichtlich der Einzel-GdB-Bildung nicht jedoch der Gesamt-GdB-Bildung gefolgt werden konnte.

Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G liegen nicht vor. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach § 145 Abs. 1 SGB IX (jetzt § 228 Abs. 1 SGB IX) nur schwerbehinderte Menschen, also Behinderte mit einem Gesamt-GdB von mindestens 50 (§ 2 Abs. 2 SGB IX) Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr haben (BSG, Urteil v. 11.11.1987, 9 ARVS 6/86, und Urteil v. 13.07.1988, 99 ARVS 14/87). Damit liegen die Voraussetzungen zur Feststellung des Merkzeichens G bei dem Kläger mit einem GdB von 30 schon deshalb nicht vor, weil er keinen GdB von mindestens 50 hat. Im Übrigen lägen auch die Voraussetzungen im Einzelnen nach § 69 Abs. 4 (jetzt § 152 Abs. 4) SGB IX i.V.m. Teil D Nr. 1 der Anlage zur VersMedV nicht vor. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid verwiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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