L 11 RJ 514/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 RJ 1875/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 RJ 514/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Provoziert der Beklagte durch eine falsche Rechtsmittelbelehrung ("Widerspruch zulässig") bei einem Bescheid, der nach § 86 SGG Gegenstand des bereits anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden ist, einen (unzulässigen) Widerspruch, so hat die Beklagte aus dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die Kosten des vom Kläger nach Aufklärung für erledigt erklärten Widerspruchsverfahrens zu erstatten; eine Kostenerstattungspflicht ergibt sich hingegen nicht aus § 63 SGB X.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 17. Dezember 2002 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Vorverfahrenskosten.

Die Beklagte gewährte dem am 1937 geborenen Kläger mit Bescheid vom 10.03.2000 ab 01.03.2000 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit. Im Oktober 2001 beantragte der Kläger unter Vorlage von Arbeitsbescheinigungen die ungekürzte Berücksichtigung der in Rumänien zurückgelegten Beitragszeiten. Mit Bescheid vom 15.11.2001 stellte die Beklagte unter Rücknahme des Bescheides vom 10.03.2000 die Rente neu fest, wobei die Zeiten ab 13.04.1961 als nachgewiesene Beitragszeiten ungekürzt anerkannt, für die nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anerkannten Zeiten jedoch nur 60% der maßgeblichen Entgeltpunkte berücksichtigt wurden (Faktor 0,6). Mit seinem dagegen erhobenen Widerspruch wandte sich der nunmehr durch einen Rentenberater vertretene Kläger gegen die Anwendung von § 22 Abs. 4 FRG (Kürzung der Entgeltpunkte für die FRG-Beitragszeiten auf 60%) und beantragte unter Hinweis auf die beim Bundesverfassungsgericht bereits anhängigen Vorlageverfahren die Anordnung des Ruhens des Verfahrens zu beschließen. Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 15.01.2002 mit, dass der Widerspruch bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurückgestellt werde.

Mit Bescheid vom 23.01.2002 wandelte die Beklagte die Rente antragsgemäß ab 01.01.2002 in eine Altersrente für langjährig Versicherte um. Die beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung enthielt den Hinweis, dass gegen diesen Bescheid innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe Widerspruch erhoben werden könne. Dies tat der Kläger über seinen bisherigen Bevollmächtigten mit der gleichen Begründung wie gegen den Bescheid vom 15.11.2001.

Die Beklagte teilte dem Bevollmächtigten mit Schreiben vom 11.02.2002 mit, dass der Bescheid vom 23.01.2002 Gegenstand des ruhenden Widerspruchsverfahrens geworden sei. Diese Regelung trete unabhängig von der fälschlich ausgewiesenen Rechtsmittelbelehrung ein. Der erneut eingelegte Widerspruch sei damit unzulässig.

Der Kläger erklärte daraufhin seinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.01.2002 in der Hauptsache für erledigt und bat um Kostengrundentscheidung (§ 63 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X -).

Die Beklagte lehnte die Übernahme von Kosten für die Vertretung im Widerspruchsverfahren mit der Begründung ab, der Widerspruch sei unzulässig gewesen (Bescheid vom 08.03.2002).

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, die Beklagte habe den Widerspruch selbst zugelassen. Es sei Sache der Behörde, den angefochtenen Bescheid zu einem Einbeziehungsbescheid zu machen. Da dieses Ziel durch den Widerspruch angestrebt und auch erreicht worden sei, seien die zweckentsprechenden Kosten der Rechtsverfolgung zu übernehmen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.06.2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück: Ein unzulässiger Widerspruch könne nicht erfolgreich i.S. von § 63 SGB X sein. Der Bescheid vom 23.01.2002 sei wegen des ruhenden Verfahrens bezüglich der Anwendung von § 22 Abs. 4 FRG nach § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kraft Gesetzes Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden. Hierzu habe es keiner besonderen Ausführungen im Bescheid bzw. in der Rechtsbehelfsbelehrung bedurft. Im übrigen liege auch in der Sache kein erfolgreicher Widerspruch vor. Nach § 66 Abs. 2 SGG verlängere eine fehlende oder unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung die Frist für Widerspruch und Klage von einem Monat auf ein Jahr. Der Kläger sei somit durch die unvollständige Rechtsbehelfsbelehrung nicht beschwert, sondern eher begünstigt.

Deswegen erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG). Zur Begründung trug er im wesentlichen vor, die Beklagte verkenne das auch im Sozialrecht herrschende Veranlassungsprinzip. Es könne für den Versicherten durchaus risikohaft sein, eine falsche Rechtsbehelfsbelehrung unbeanstandet zu lassen. Die von der Beklagten gewählte Rechtsbehelfsbelehrung vermittle zunächst den Eindruck, dass ein eigenständiger Regelungsgehalt getroffen worden sei, der selbständig angefochten werden könne. Es sei in solchen Fällen sowohl aus Versichertensicht als auch aus dem Blickwinkel eines zur Wahrung des sicheren Weges verpflichteten Bevollmächtigten geboten, zunächst Widerspruch gegen einen solchen die Widerspruchserhebung ausdrücklich zulassenden Bescheid zu erheben. Die Rechtspraxis der Beklagten verstoße weiter gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, der widersprüchliches Verhalten verbiete.

Die Beklagte hielt an ihrer im Widerspruchsbescheid vertretenen Auffassung fest.

Mit Urteil vom 17.12.2002, der Beklagten zugestellt am 13.02.2003, hob das SG den Bescheid vom 08.03.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.06.2002 auf und verurteilte die Beklagte dem Grunde nach, die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 23.01.2002 zu erstatten. Die Berufung wurde zugelassen. In den Entscheidungsgründen führte es aus, der Kläger habe aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs Anspruch auf Erstattung seiner außergerichtlichen Kosten. Die Pflichtverletzung der Beklagten bestehe darin, dass diese den Bescheid vom 23.01.2002 mit einer sachlich unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehen habe. Die Beklagte habe damit gegen die in § 36 SGB X normierte Pflicht verstoßen, den durch einen schriftlichen Verwaltungsakt beschwerten Beteiligten über den Rechtsbehelf, die hierfür zuständige Behörde, deren Sitz, die einzuhaltende Frist und die Form schriftlich zu belehren. Die Pflicht erstrecke sich insbesondere auch darauf, dem Bescheidadressaten eine inhaltlich zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung zu erteilen. Dem Kläger sei aufgrund dieser Pflichtverletzung ein Schaden entstanden, denn er habe sich durch die unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung dazu veranlasst gesehen, seinen Bevollmächtigten mit der Einlegung des darin angegebenen Rechtsbehelfs zu beauftragen, wodurch Honoraransprüche entstanden seien. Die Zubilligung eines Kostenerstattungsanspruchs sei in derartigen Fällen angesichts der Schwierigkeit bei der (direkten oder analogen) Anwendung des § 86 SGG sowie der umfangreichen, zu dieser Problematik ergangenen Rechtsprechung interessengerecht.

Dagegen richtet sich die am 13.02.2003 eingelegte Berufung der Beklagten. Zur Begründung trägt sie vor, zwar sei der Bescheid vom 23.01.2002 mit einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung versehen gewesen, es habe sich aber hierbei um einen Verfahrensfehler gehandelt, der durch die "Nachbesserung" mit Schriftsatz vom 11.02.2002 geheilt worden sei. Das SG habe nicht beachtet, dass das ungeschriebene Rechtsinstitut "sozialrechtlicher Herstellungsanspruch" keine Anwendung finde, wenn geschriebenes Recht - wie hier § 63 SGB X, der die Erstattungsfähigkeit von Kosten des Widerspruchsverfahrens regle - existiere. Kosten eines Widerspruchsverfahrens gegen einen Bescheid, der bereits Gegenstand eines anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden sei, seien in der Kostenentscheidung für das bereits anhängige Verfahren nach bzw. bei dessen Abschluss mitzuentscheiden. Eine gesonderte Erstattung der Kosten nach § 63 SGB X komme nicht in Betracht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 17. Dezember 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erachtet das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Beklagte verkenne, dass im Verwaltungs- und Sozialrechtsverhältnis besondere Fürsorgepflichten existierten, die ihren Ursprung im Grundsatz von Treu und Glauben fänden. Gemessen daran, dass er kein erneutes Widerspruchsverfahren in Bezug auf die Anwendung von § 22 Abs. 4 FRG gewünscht habe, sei der Widerspruch aus seiner Sicht "erfolgreich" gewesen. Entscheidend sei in jedem Fall, dass die Widerspruchserhebung zu einer für beide Seiten verbindlichen Klärung der Rechtslage geführt habe. Objektiv habe er daher sein Widerspruchsziel erreicht. Auch unter Berücksichtigung der von der Beklagten zitierten Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18.12.2001 (B 12 KR 42/00 R) habe das SG zu Recht angenommen, dass die Einlegung des Widerspruchs durch das Verhalten der Beklagten verursacht worden sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist nicht begründet.

Zutreffend hat das SG entschieden, dass der Kläger Anspruch auf Erstattung seiner Kosten für das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 23.01.2002 aufgrund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat. Insoweit nimmt der Senat auf die ausführlichen Entscheidungsgründe des SG Bezug und verzichtet auf deren erneute Darstellung (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend ist folgendes auszuführen: Richtig ist, dass die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 10. Buch -Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz- (SGB X) vorliegend nicht gegeben sind, denn der Widerspruch des Klägers war nicht erfolgreich im Sinne des § 63 Abs. 1 SGB X. Der Bescheid vom 23.01.2002 ist gemäß § 86 SGB X kraft Gesetztes Gegenstand des ruhenden Widerspruchsverfahrens geworden. Der Widerspruch des Klägers war damit unzulässig und wurde nach dem entsprechenden Hinweis der Beklagten auch für erledigt erklärt.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist eine analoge Anwendung von § 63 Abs. 1 Satz 2 auf die in § 42 geregelten Fälle, in denen ein Verfahrens- oder Formfehler dann keine Bedeutung hat, wenn keine andere Sachentscheidung hätte getroffen werden können, wegen des eindeutigen Gesetzeswortlautes nicht möglich (vgl. Hauck/Haines, Kommentar zum SGB X, § 63 Rdnr. 5). Auch einer erweiternden Auslegung des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X (vgl. Roos in von Wulffen, SGB X, § 63 Rdnr. 22) steht nach Auffassung des Senats die eindeutige gesetzliche Regelung für die Erstattung von Kosten im Vorverfahren entgegen.

Dem Kläger sind jedoch durch die von der Beklagten veranlasste "unnötige" Widerspruchseinlegung Kosten entstanden. Indem die Beklagte den Bescheid vom 23.01.2002 mit einer unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehen und damit den Eindruck erweckt hat, der Bescheid sei mit dem Widerspruch anzufechten, ist die Einlegung des Widerspruchs eindeutig durch das Verhalten der Beklagten verursacht worden, was nach dem Veranlassungsprinzip einen Kostenerstattungsanspruch des Klägers rechtfertigt (vgl. BSG Urteile vom 18.12.2001 -B 12 KR 42/00 R- und vom 30.08.2001 -B 4 RA 87/00 R-). Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist in der Rechtssprechung des BSG dort anerkannt worden, wo der Versicherte durch ein Verhalten der Verwaltung entweder von einer rechtzeitigen Wahrnehmung ihm zustehender Rechte abgehalten oder veranlasst wurde, eine für ihn ungünstige Erklärung abzugeben. Der Herstellungsanspruch ist nicht beschränkt auf eine Verletzung der Aufklärungs-, Beratungs- oder Auskunftspflicht der § 13 bis 15 SGB I. Das BSG hat ihn auch zugebilligt bei andersartiger Fehlinformation des Bürgers (vgl. BSG SozR 3-2600 § 300 SGB VI Nr. 5). In jedem Fall handelt es sich um Sachverhalte, bei denen durch ein objektives Fehlverhalten der Verwaltung die Entscheidung des Versicherten über die Wahrnehmung von Rechten fehlgeleitet wurde (vgl. BSG aaO). Im Falle des Klägers ist ein solcher Sachverhalt gegeben, denn die unrichtige Rechtsmittelbelehrung der Beklagten hat zu einer für den Kläger im Hinblick auf die Kosten ungünstigen Rechtsposition beigetragen.

Soweit die Beklagte unter Hinweis auf das BSG -Urteil vom 18.12.01- B 12 KR 42/00 R- geltend macht, Kosten eines Widerspruchsverfahrens gegen einen Bescheid, der bereits Gegenstand eines anhängigen Widerspruchsverfahrens geworden sei, seien in der Kostenentscheidung für das bereits anhängige Verfahren nach bzw. bei dessen Abschluss mitzuentscheiden, kann dem der erkennende Senat für den vorliegenden Fall nicht folgen, da der Kläger -anders als in dem der BSG-Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt- den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.01.2002 für erledigt erklärt hat. Insoweit wird auch nach Abschluss des ruhenden Widerspruchsverfahrens nur über die Kosten des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 15.11.2001, der auch den Bescheid vom 23.01.2002 umfasst, entschieden und zwar abhängig vom Ausgang des Verfahrens. Der Kostenerstattungsanspruch für den von der Beklagten veranlassten (erledigten) Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.01.2002, der unabhängig vom Ausgang des Widerspruchsverfahrens besteht, kommt dabei gerade nicht zum Tragen.

Der Senat stimmt dem SG auch insoweit zu, dass die keineswegs leichte Prüfung der Voraussetzungen des § 86 SGG nicht dem Kläger auferlegt werden kann, auch wenn er fachkundig vertreten ist. Schon aus haftungsrechtlichen Gründen ist ein Bevollmächtigter gehalten, entsprechend einer Rechtsbehelfsbelehrung zu verfahren, auch wenn letztere unzutreffend ist. Soweit die Beklagte einen ausdrücklichen Auftrag des Klägers, den Bescheid vom 23.01.2002 anzufechten, anzweifelt und die Vereinbarung eines Pauschalhonorars vermutet, handelt es sich lediglich um eine hier unerhebliche Behauptung.

Die Berufung konnte hiernach keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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