L 6 SB 552/03 B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 2607/02 AR-RH
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 552/03 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Eine Verwaltungsbehörde (hier: Versorgungsamt) kann gem. § 22 Abs. 1 SGB X Amtshilfe im Wege der gerichtlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen nur beanspruchen, wenn sie zuvor alle ihr zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen hat.

2. Hierzu gehört auch, einen Arzt, der die von ihm geforderte schriftliche Auskunft nicht erteilt, zunächst zur mündlichen Vernehmung zu laden.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des So-zialgerichts Ulm vom 28.01.2003 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Zu entscheiden ist, ob das Sozialgericht Ulm (SG) verpflichtet ist, dem Amtshilfeersuchen des Antragstellers (Ast) auf Vernehmung des Internisten Dr. M. stattzugeben.

In dem bei dem Versorgungsamt Ulm (VA) anhängigen Verfahren von W. B. zur Fest-stellung des Grades der Behinderung nach § 69 des Neunten Buches des Sozialge-setzbuchs (SGB IX) forderte das VA mit Schreiben vom 06.03.2002 den behandelnden Internisten Dr. M. auf, einen Befundschein über Art und Ausmaß der Funktionsausfälle in Folge einer bestimmten Erkrankung zu erstellen. Nach den Angaben des Ast wurde dieser am 11.04. und 28.05.2002 schriftlich erinnert und mit Schreiben vom 09.08.2002 auf die rechtlichen Bestimmungen der §§ 21, 22 des Zehnten Buches des Sozialge-setzbuchs (SGB X) unter Fristsetzung hingewiesen. Dr. M. reagierte hierauf nicht.

Am 22.10.2002 beantragte die Leiterin des VA beim SG die Vernehmung von Dr. M. unter Hinweis auf die §§ 21, 22 und 100 SGB X. Auf die Rückfrage des SG vom 05.11.2002, ob der Ast alle ihm zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft habe, insbesondere den zu vernehmenden Arzt zu einer persönlichen Vernehmung geladen habe, erwiderte das VA unter dem 15.11.2002, einer vorherigen Vorladung zur persönlichen Vernehmung beim Antragsteller habe es nicht bedurft. Das Verwaltungsverfahren nach dem SGB X erfordere nicht, daß dem Arzt die "Gelegenheit" eingeräumt werden müsse, seine Aussage als sachverständiger Zeuge bei einer per-sönlichen Vorsprache zu Protokoll zu geben. Im nichtförmlichen Verwaltungsverfahren habe er ein weitgehendes Ermessen, mit welchen Mitteln er den entscheidungserhebli-chen Sachverhalt aufkläre. Unter mehreren Möglichkeiten könne er nach pflichtgemä-ßem Ermessen, auch unter Beachtung von haushaltsrechtlichen Gesichtpunkten, ent-scheiden. Aus den Bestimmungen der §§ 21 und 22 SGB X lasse sich nicht ableiten, daß ein Rechtshilfeersuchen erst dann zulässig sein solle, wenn "alle nach § 21 SGB X möglichen Erkenntnismittel erfolglos abgearbeitet" worden seien. Wäre dies der Fall, dann hätte er gerade keine Wahlmöglichkeit mehr hinsichtlich der zur Verfügung ste-henden Beweismittel. Im übrigen habe Dr. M. bereits in der Vergangenheit Befund-scheinanforderungen des VA "in gehäufter Form ignoriert" bzw. die Berichte erst kurz vor dem gerichtlich festgesetzten Termin zur Beweiserhebung gefertigt. Infolgedessen habe das VA bereits 1998 bei der Bezirksärztekammer Süd-Württemberg in Reutlingen die Durchführung eines berufsrechtlichen Ermittlungsverfahrens beantragt, das zu der Verhängung einer Geldbuße geführt habe.

Mit Beschluss vom 28.01.2003 - dem Antragsteller am 29.01.2003 zugestellt - wies das SG das Vernehmungsersuchen zurück. In den Gründen, auf die im übrigen Bezug ge-nommen wird, führte es aus, aus § 21 Abs. 1 Satz 2 SGB X, wonach es im pflichtgemä-ßem Ermessen der Behörde stehe, ob sie einen Zeugen vernehme oder nur eine schriftliche Äußerung einhole, folge zwingend, daß vor Einreichung eines Verneh-mungsersuchens der zu vernehmende Arzt zu einer persönlichen Vernehmung einzu-bestellen sei, falls dieser der Aufforderung, eine schriftliche Äußerung abzugeben, nicht Folge geleistet habe. Das Tatbestandsmerkmal "Verweigerung der Aussage" in § 22 Abs. 1 SGB X beinhalte nach seinem Wortsinn und nach dem Regelungsgehalt der Vorschrift nur die Verweigerung von persönlich zu machenden Angaben vor dem Leis-tungsträger. Schließlich ließen die Ausführungen des Ast im Schriftsatz vom 15.11.2002, wonach er bei der Wahl zwischen verschiedenen Ermittlungsmöglichkeiten auch unter Beachtung von haushaltsrechtlichen Gesichtspunkten entscheide, nur den Schluss zu, daß er die von ihm nach § 21 SGB X geforderten Aufklärungsanstrengun-gen auch aus Kostengründen auf das ersuchte Gericht abzuwälzen versuche.

Der Ast hat am 04.02.2003 beim SG Beschwerde erhoben und zur Begründung auf die Ausführungen im Schreiben vom 15.11.2002 sowie in dem Schreiben der Leiterin des VA vom 30.01.2003 an das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg Bezug ge-nommen. Die Verwaltung sehe bei der gegebenen Sachlage die gesetzlichen Voraus-setzungen eines Rechtshilfeersuchens an das SG als erfüllt an. Eine dem Gesetzes-zweck widersprechende Verlagerung der Aufgaben zur Ermittlung des Sachverhalts auf das Sozialgericht sei nicht gegeben. Dem Wortlaut des § 21 Abs. 1 SGB X könne keine Verpflichtung der Behörde entnommen werden, dem Zeugen Gelegenheit zu bieten, eine verweigerte schriftliche Aussage mündlich vor dem Versorgungsamt abzugeben. Ebenso wenig könne dieser Bestimmung entnommen werden, daß die Verwaltung bei Verweigerung der Zeugenaussage verpflichtet sei, den Zeugen vor Anrufung der Sozi-algerichtsbarkeit vorzuladen. Haushaltsrechtliche Erwägungen spielten in diesem Zu-sammenhang keine erwähnenswerte Rolle.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen, sondern sie dem Senat zur Entschei-dung vorgelegt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Nach § 22 Abs. 1 SGB X kann die Behörde das für den Wohnsitz des Zeugen zuständi-ge Sozialgericht um die Vernehmung ersuchen, wenn dieser ohne Vorliegen eines der in der Zivilprozessordnung (ZPO) bezeichneten Gründe die Aussage verweigert, zu der er nach § 21 Abs. 3 SGB X verpflichtet ist. Nach der letztgenannten Vorschrift besteht für Zeugen eine Pflicht zur Aussage, wenn sie durch Rechtsvorschrift vorgesehen ist. Eine solche Rechtsvorschrift zur Auskunftserteilung ist in § 100 Abs. 1 SGB X zu sehen. Danach sind Ärzte verpflichtet, auf Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit die Auskunft für die Durchführung von Aufgaben des die Auskunft verlangenden Leistungsträgers erforderlich ist, und sie gesetzlich zugelassen ist oder der Betroffene eingewilligt hat.

Das Vernehmungsersuchen des Antragstellers ist hier schon deshalb zurückzuweisen, weil Dr. M. nicht als Zeuge "die Aussage verweigert" hat. Zwar ist Dr. M. als (sachver-ständiger) Zeuge angegangen worden, da er Angaben zu Tatsachen machen sollte, die er kraft seiner Sachkunde als Arzt wahrgenommen hatte. Das Vernehmungsersuchen scheitert ferner nicht an dem Umstand, daß Dr. M. nie erklärt hat, die gewünschte Aus-kunft nicht erteilen zu wollen, sondern auf die an ihn gerichteten Schreiben des An-tragstellers schlicht nicht reagiert hat. Ein "Verweigern" im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegt nämlich auch dann vor, wenn ein Zeuge der an ihn gerichteten Aufforde-rung zur Aussage einfach nicht Folge leistet (KassKomm-Krasney, Randziff. 3 zu § 22 SGB X; Pickel, Kommentar zum SGB X, Randziff. 8 zu § 22).

Das Vernehmungsersuchen scheitert jedoch daran, daß Dr. M. nicht die Aussage ver-weigert hat. Gem. § 20 Abs. 1 SGB X ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt dabei Art und Umfang der Ermittlungen. Sie bedient sich der Be-weismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält und kann insbesondere Zeugen vernehmen oder die schriftliche Äuße-rung von Zeugen einholen (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 SGB X). Die in § 377 Abs. 3 ZPO für das gerichtliche Verfahren vorgesehene Einschränkung von schriftlichen Zeugenaussagen gilt für das Verwaltungsverfahren nicht, da der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Be-weisaufnahme hier nicht anzuwenden ist (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsver-fahrensgesetz, 6. Auflage 2001, Randziff. 77 zu § 26 Abs. 1, der § 21 Abs. 1 SGB X entspricht). Diese Freiheit in der Art des Vorgehens gegenüber Zeugen entspricht zugleich dem im Verwaltungsverfahren maßgeblichen Grundsatz der Nichtförmlichkeit (§ 9 SGB X). Im vorliegenden Fall hatte der Ast nach pflichtgemäßem Ermessen dar-über zu entscheiden, Dr. M. entweder zur Vernehmung ins Versorgungsamt zu laden oder aber von ihm eine schriftliche Äußerung einzuholen. Selbst erzwingen konnte er beides nicht, weil das Gesetz hierfür keine Handhabe bietet. Zwar besteht für Zeugen gem. § 21 Abs. 3 Satz 1 SGB X eine Pflicht zur Aussage, wenn sie durch Rechtsvor-schrift vorgesehen ist. Eine solche Rechtsvorschrift stellt der bereits zitierte § 100 Abs. 1 SGB X dar. Anders als § 98 Abs. 5 SGB X, der die Auskunftspflicht des Arbeitgebers betrifft, enthält er jedoch keine Ermächtigung, die unberechtigte Zeugnisverweigerung durch die Verhängung einer Geldbuße zu sanktionieren. Der gegebenenfalls notwendi-ge Zwang soll den Gerichten vorbehalten bleiben (vgl. zum Normzweck des § 22 SGB X Krassney in KassKomm Anmerkung II zu § 22 SGB X).

§ 22 SGB X bietet jedoch nicht die Möglichkeit, jedwede Art von Ermittlungen, die in dem - nicht abschließenden - Katalog des § 21 Abs. 1 SGB X aufgeführt sind, durch Einschaltung des Gerichts zu erzwingen. Auch wenn Zeugen ihrer Zeugnispflicht nicht nachkommen, lässt § 22 Abs. 1 die Einschaltung eines Gerichts nicht uneingeschränkt zu. Vorausgesetzt wird vielmehr ebenso wie in der in Bezug genommenen Vorschrift des § 21 Abs. 3 Satz 1 SGB X die Verweigerung der Aussage. Die Pflicht zur Aussage kann jedoch nur verletzt sein, wenn der Zeuge zur mündlichen Vernehmung ordnungs-gemäß geladen worden ist. Die Verletzung der aus § 100 SGB X in Verbindung mit § 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X folgenden Pflicht zur Erstattung einer schriftlichen Auskunft genügt hierfür entgegen der von Schneider-Danwitz (Gesamtkommentar, Anm. 5a zu § 22 SGB X) vertretenen Ansicht nicht. Denn der Gesetzgeber wollte § 22 Abs. 1 SGB X ersichtlich auf wenige Fälle beschränken und im Sinne einer "ultima ratio" sicherstellen, daß die Verwaltungsbehörde zunächst alle ihr möglichen und zumutbaren Anstrengun-gen zur Aufklärung des Sachverhalts unternimmt, bevor sie gerichtliche Hilfe in An-spruch nimmt. Hierzu gehört auch, einen Arzt, der die von ihm geforderte schriftliche Auskunft nicht erteilt, zunächst zur mündlichen Vernehmung zu laden, bevor das Ge-richt um Amtshilfe angegangen wird.

In diesem Zusammenhang kann ferner nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Rege-lungen des § 22 Abs. 1 und 2 SGB X den Grundsatz der Gewaltenteilung zwar nicht verletzen (vgl. BVerfGE 7, 183, 188f), aber jedenfalls tangieren, indem ein Gericht durch die Verpflichtung zur Amtshilfe in den Vollzug von Aufgaben der Exekutive einge-bunden wird. Dies lässt eine restriktive Auslegung angezeigt erscheinen.

Hierfür spricht schließlich auch die Gefahr einer missbräuchlichen Verlagerung von Ar-beit und insbesondere Kosten auf die Gerichte, weil das geltende Recht für die geleiste-te Amtshilfe keine Kostenerstattung vorsieht. Die in § 22 SGB X liegende Missbrauchs-gefahr hat auch der Gesetzgeber erkannt, wie sich aus § 22 Abs. 4 SGB X ergibt, wo-nach das Amtshilfeersuchen einem bestimmten, fachlich besonders qualifizierten Per-sonenkreis der Behörde vorbehalten ist.

Das VA hätte nach alledem den sachverständigen Zeugen Dr. M. zunächst zur Ver-nehmung vorladen müssen. Ob das Vernehmungsersuchen im Hinblick auf die im Schriftsatz des VA vom 15. 11. 2002 angesprochenen "haushaltsrechtlichen Gesichts-punkte" auch wegen fehlerhafter Ermessensausübung zurückzuweisen war, kann offen bleiben, weil schon deren Voraussetzungen nicht vorlagen. Die Voraussetzungen für ein Amtshilfeersuchen sind derzeit nicht erfüllt, weswegen die Beschwerde zurückzu-weisen war.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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