L 1 AS 1246/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 2835/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 AS 1246/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12.03.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens über die Höhe bewilligter Leistungen nach dem SGB II für das Jahr 2017, wobei die Klägerin einen höheren Regelbedarf geltend macht.

Die 1984 geborene Klägerin steht bei dem Beklagten seit längerem im laufenden Bezug von Arbeitslosengeld II. Sie beantragte mit Schreiben vom 20.12.2017 und 18.01.2018 die Überprüfung der (bestandskräftigen) Bewilligungsbescheide vom 14.03.2017, 26.06.2017, 03.08.2017, 02.10.2017, sowie gegebenenfalls aller Leistungs- und Änderungsbescheide das Jahr 2017 betreffend. Zur Begründung machte sie geltend, der anerkannte Regelsatz sei verfassungswidrig. Mit den genannten Bescheiden hatte der Beklagte der Klägerin SGB II Leistungen u.a. für das Jahr 2017 bewilligt und hierbei jeweils der Berechnung eine Regelleistung in Höhe von 409,00 EUR zu Grunde gelegt.

Mit Bescheid vom 26.07.2018 lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag bezüglich der oben genannten Bescheide ab. Einen hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.09.2018 als unbegründet zurück. Der berücksichtigte Regelbedarf entspreche den gesetzlichen Bestimmungen. Soweit die Klägerin vortrage, der anerkannte Regelbedarf sei verfassungswidrig, sei dem nicht zu folgen.

Hiergegen hat die Klägerin am 07.09.2018 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und zur Begründung vorgetragen, die Regelsätze seien nicht bedarfsdeckend. Ihr stehe ein weitaus höherer Betrag als Regelbedarf zu. Eine Berechnung der geltenden Regelsätze habe nicht auf der Grundlage der Einkommens- und Verbraucherstatistik (EVS) 2008 stattfinden dürfen. Die Fortschreibung des Regelbedarfssatzes für das Jahr 2016 mit den Daten der EVS 2008 sei nicht zulässig gewesen. Die gegenwärtige Fortschreibung des Regelbedarfs verstoße zusammenfassend gegen das Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums und sei daher verfassungswidrig. Bei Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergebe sich für 2017 ein Regelbedarf von mindestens 575,00 EUR. Das Verfahren sei hilfsweise dem Bundesverfassungsgericht zur Klärung und Prüfung vorzulegen.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.03.2019 hat das SG die Klage abgewiesen.

Gegen den ihr am 14.03.2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 09.04.2019 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie im Wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und erneut die Auffassung vertreten hat, dass das Verfahren auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen sei.

Die Klägerin beantragt demnach sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des SG Karlsruhe vom 12.03.2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.09.2018 aufzuheben, und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin für das Jahr 2017 unter Rücknahme entgegenstehender Bescheide höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Anerkennung eines Regelbedarfs in Höhe von 575,00 EUR zu gewähren.

Hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erachtet die Entscheidung des SG für zutreffend und verweist auf die Begründung des Widerspruchsbescheids vom 04.09.2018.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann hier gemäß § 124 Abs.2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 12.03.2019 zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 26.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.09.2018, mit dem der Beklagte den Überprüfungsantrag gemäß §§ 40 SGB II, 330 SGB III, 44 SGB X der Klägerin auf höherer Regelleistungen in Höhe von mindestens 575,00 EUR für das Jahr 2017 abgelehnt hat, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Streitgegenstand des Verfahrens ist die Gewährung höherer monatlicher Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum Januar bis Dezember 2017 ohne die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Die Klägerin hat den Streitgegenstand insoweit bereits in ihrem Überprüfungsbegehren ("für das Jahr 2017") in zulässiger Weise begrenzt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 04.06.2014 - B 14 AS 42/13 R -, Rn. 10, m.w.N., juris).

Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin auf Abänderung der Bescheide 14.03.2017, 26.06.2017, 03.08.2017, und 02.10.2017 und eine höhere Leistungsbewilligung für das Jahr 2017 sind die §§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, 330 Abs. 1 SGB III, 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Aus § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II folgt, dass zugunsten der leistungsberechtigten Person auch im Bereich des SGB II § 44 SGB X eingreift (Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 40 1. Überarbeitung, Rn. 9). Hiernach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung (§ 77 SGG) eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (BSG, Urteil vom 04.02.1998 - B 9 V 16/96 R = SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSG, Urteil vom 28.01.1981 - 9 RV 29/80 = BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 5; BSG SozR 2200 § 1268 Nr. 29). Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss die Verwaltung in eine erneute Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (BSG, Urteil vom 25.09.2006 - B 2 U 24/05 R = BSGE 97, 54 = juris, RdNr. 12 m.w.N.). § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X führt zwei Alternativen an, weswegen ein Verwaltungsakt zurückzunehmen sein kann: Das Recht kann unrichtig angewandt oder es kann von einem Sachverhalt ausgegangen worden sein, der sich als unrichtig erweist. Nur für die zweite Alternative kommt es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel an, woran sich ggf. ein abgestuftes Prüfungsverfahren (Vorlage neuer Tatsachen oder Erkenntnisse Prüfung derselben, insbesondere ob sie erheblich sind – Prüfung, ob Rücknahme zu erfolgen hat – neue Entscheidung) anschließt (BSG, Urteil vom 25.09.2006, a.a.O., RdNr. 13). Bei der ersten Alternative handelt es sich demgegenüber um eine rein juristische Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, zu der von Seiten des Klägers zwar Gesichtspunkte beigesteuert werden können, die aber letztlich umfassend von Amts wegen zu erfolgen hat.

Die Voraussetzungen für eine Korrektur der angegriffenen Entscheidungen der Beklagten nach §§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, 330 Abs. 1 SGB III, 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind nicht erfüllt.

Mit den zur Überprüfung gestellten Bescheiden vom 14.03.2017, 26.06.2017, 03.08.2017, und 02.10.2017 bewilligte der Beklagte der Klägerin u.a. für das zur Überprüfung gestellte Jahr 2017 Leistungen nach dem SGB II, denen ein Regelbedarf von 409,00 EUR zugrunde lag. Hierbei kann dahinstehen, ob einzelne der von der Klägerin aufgeführten Bescheide durch spätere Änderungsbescheide aufgehoben wurden. Anhaltspunkte für eine unrichtige Rechtsanwendung oder für einen neuen Sachverhalt liegen mit Bezug auf die Regelleistung für das Jahr 2017 nämlich durchgängig nicht vor. Der vom Beklagten zu Grunde gelegte Regelbedarf von 409,00 EUR entspricht § 20 Abs. 1, Abs. 1a, Abs. 2 Satz 1 SGB II i.V.m. § 28 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) i.V.m. dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 SGB XII in der Fassung vom 22.12.2016 (Regelbedarfsermittlungsgesetz - RBEG). Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Gewährung eines höheren Regelbedarfs besteht nicht. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Bemessung der Regelbedarfe für 2017 den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Berechnung der Leistungen liegen im Übrigen nicht vor und werden auch nicht geltend gemacht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) kommt dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Höhe und der Art der Leistungen zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.07.2016 - 1 BvR 371/11 -, Rn. 38 f, juris). Dieser Gestaltungsspielraum führt dazu, dass sich die verfassungsrechtliche Kontrolle der Höhe der Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz auf die Prüfung beschränkt, ob die Leistungen evident unzureichend sind (BVerfG, Beschluss vom 27.07.2016, a.a.O, Rn. 40 ff). Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur dann, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist. Jenseits dieser Evidenzkostrolle wird lediglich überprüft, ob die Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen sind (BVerfG, Beschluss vom 27.07.2016, a.a.O.). Trotz der Kritik verschiedener Wohlfahrtsverbände haben das BVerfG und auch das Bundessozialgericht (BSG) unter Berücksichtigung dieser Prämissen die Ermittlung der Regelsätze aufgrund der Auswertung einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) als verfassungsgemäß angesehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 - 1 BvL 10/12 - u.a., juris; BSG, Urteil vom 12.07.2012 - B 14 AS 153/11 R -, Rn. 21 ff, juris).

Da die hier streitige Regelbedarfsermittlung für 2017 nach denselben Grundsätzen erfolgt ist, ist der Senat davon überzeugt, dass die durch das RBEG von 2016 aufgrund der EVS 2013 samt Sonderauswertung festgelegten Regelbedarfe ebenfalls verfassungsgemäß sind (vgl. wie hier: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.09.2018 – L 2 AS 1466/17 – sowie Beschluss vom 19.12.2017 - L 2 AS 1900/17 B -, beide jeweils juris; Bayerisches LSG, Beschluss vom 23.08.2017 - L 11 AS 529/17 NZB -, Rn. 16 ff, juris; LSG Niedersachsen Bremen, Beschluss vom 07.03.2017 - L 13 AS 336/16 B -, Rn. 4, juris; Hessisches LSG, Beschluss vom 09.10.2017 - L 4 SO 166/17 B -, Rn. 16, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.08.2018 - L 18 AS 267/18 -, Rn. 20, juris; Sächsisches LSG, Urteil vom 24.05.2018 - L 7 AS 1105/16 -, Rn. 15 ff, juris).

Mangels verfassungsrechtlicher Bedenken an der Höhe der Regelleistung 2017 sah sich der Senat auch nicht zur Vorlage des Rechtsstreits nach Art. 100 Grundgesetz an das BVerfG veranlasst.

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat im Übrigen auf die ausführlichen und zutreffenden Darstellungen des SG Bezug und macht sich diese zu eigen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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