L 9 BA 66/19 WA

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 81 KR 785/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 BA 66/19 WA
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. August 2012 wird als unzulässig verworfen. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem die Beklagte im Rahmen eines Statusverfahrens festgestellt hat, dass die Beigeladenen zu 4) und 5) ab Juni 2006 für die Klägerin im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung tätig waren und Versicherungspflicht in allen Zweigen der Sozialversicherung eingetreten ist.

Die Klägerin, eine Aktiengesellschaft nach kanadischem Aktiengesetz (Canada Business Corporations Act), hat ihren Hauptsitz in H (Ontario), Kanada (Inc. steht als Abkürzung für "Incorporated"). Das Deutschlandgeschäft wurde von der Niederlassung mit Sitz in S (G London/Großbritannien) betreut. Die Klägerin hatte zum Unternehmensgegenstand, im Auftrag ihrer Kunden Testkäufe und Testbesuche in deren Filialen und Restaurants zu organisieren. Die Beigeladenen zu 4) und 5) arbeiteten für die Klägerin, der Beigeladene zu 5) als sog. Country Leader, die Beigeladene zu 4) als seine Assistentin. Die Klägerin schloss mit dem Beigeladenen zu 5) schriftlich einen "Vertrag für Dienstleistungen als Landesleiter" vom 5. Juni 2006. In Ziff. 6 des Vertrags wird das Stundenhonorar für die Beigeladene zu 4) erwähnt. Mit der Beigeladenen zu 4) schloss sie keinen schriftlichen Vertrag. Die Klägerin kündigte mit Schreiben vom 14. Juli 2009 und vom 27. Juli 2009 das Vertragsverhältnis mit der Beigeladenen zu 4). Die Beigeladenen zu 4) und 5) erhoben dagegen jeweils Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht H, welches die Klagen abwies (Urteil vom 24. März 2010 – 28 Ca 263/09 für die Beigeladene zu 4) sowie im Verfahren 16 Ca 258/09 betreffend den Beigeladenen zu 5)). Auf die Berufung zum Landesarbeitsgericht einigten sich die Klägerin und die Beigeladenen zu 4) und 5) im arbeitsgerichtlichen Verfahren auf die Beendigung der Vertragsverhältnisses der Beigeladenen zu 4) und 5) zum 14. Juni 2009.

Auf die getrennten Anträge der Beigeladenen zu 4) und 5) auf Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status für ihre jeweiligen Tätigkeiten stellte die Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 (für den Beigeladenen zu 5)) und vom 20. März 2009 (für die Beigeladene zu 4)) fest, dass die Tätigkeit jeweils ab dem 1. Juni 2009 im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde. Die Widersprüche der Klägerin wies die Beklagte, nachdem sie am 4. März 2010 einen Änderungsbescheid für den Beigeladenen zu 5) erlassen hatte, mit welchem sie die Sozialversicherungspflicht des Beigeladenen zu 5) feststellte, zurück (Widerspruchsbescheide vom 1. April 2010 und vom 25. Mai 2010). Für die Beigeladene zu 4) stellte die Beklagte mit Änderungsbescheid vom 2. Juli 2010 Versicherungspflicht zu allen Zweigen der Sozialversicherung ab dem 1. Juni 2006 fest.

Die von der Klägerin vor dem Sozialgericht Berlin am 7. Mai 2010 und am 25. Juni 2010 erhobenen beiden Klagen gegen die Widerspruchsbescheide hat das Sozialgericht zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 10. August 2012 abgewiesen und dies damit begründet, dass die Beigeladenen zu 4) und 5) in die Betriebsorganisation der Beklagten eingegliedert und weisungsgebunden gewesen seien. Sie hätten zudem nur ein geringes unternehmerisches Risiko gehabt, da sie einen vereinbarten festen Stundensatz er-halten hätten.

Gegen das ihren Bevollmächtigten am 3. September 2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 1. Oktober 2012 Berufung eingelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. August 2012 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 10. März 2009 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 4. März 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Mai 2010 sowie den Bescheid vom 20. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2010 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 2. Juli 2010 aufzuheben und festzustellen, dass die Beigeladenen zu 4) und 5) im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Klägerin vom 1. Juni 2006 bis zum 14. Juli 2009 nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung, der Rentenversicherung sowie dem Recht der Arbeitsförderung unterlagen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf das erstinstanzliche Urteil.

Am 10. März 2014 ist über das Vermögen der Klägerin in Kanada ein vorläufiges Insolvenzverfahren bzw. Sanierungsverfahren eröffnet worden. Der mit gerichtlicher Entscheidung vom 26. März 2014 für das Insolvenzverfahren eingesetzte trustee in bankruptcy ist im Dezember 2016 durch weitere gerichtliche Verfügung ("court order") des Superior Court of Justice des District of Ontario/Kanada nach Beendigung des Insolvenzverfahrens entlassen worden.

Der Senat hat den Beteiligten am 21. August 2019 mitgeteilt, dass beabsichtigt ist, die Berufung mittels Beschluss als unzulässig zu verwerfen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung war. II.

Der Senat konnte die Berufung durch Beschluss verwerfen, denn die Voraussetzungen hierfür liegen vor; die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise angehört worden (§ 158 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Nach § 158 SGG gilt: Ist die Berufung nicht statthaft oder nicht in der gesetzlichen Frist oder nicht schriftlich oder nicht in elektronischer Form oder nicht zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt, so ist sie als unzulässig zu verwerfen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 20. Juli 2011, B 13 R 97/11 B) ist eine Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 1 SGG nicht auf die ausdrücklich genannten Punkte (Statthaftigkeit, Frist und Form der Berufung) beschränkt, sondern bezieht sich auch auf die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen.

Die Entscheidung kann vorliegend durch Beschluss ergehen. Eine Entscheidung durch Beschluss ist ausgeschlossen, wenn die erstinstanzliche Entscheidung nicht aufgrund mündlicher Verhandlung ergangen ist (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt: SGG, 12. Aufl, § 158 Rn. 6). Im vorliegenden Fall hat das Sozialgericht durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden. Im Hinblick darauf, dass die klägerische Gesellschaft nach Beendigung des Insolvenzverfahrens beendet ist und die Beteiligten hinreichend Gelegenheit zur Äußerung hatten, hält es der Senat für ermessensgerecht, durch Beschluss zu entscheiden.

Die Berufung der Klägerin ist aufgrund ihrer Beendigung nach Abschluss eines Insolvenzverfahrens nach der kanadischen Insolvenzordnung (Bankruptcy and Insolvency Act – BIA) unzulässig geworden.

Es kann offen bleiben, ob die Klägerin, nachdem sie nach Abschluss des Insolvenz-verfahrens in Kanada gemäß dem kanadischen Recht aufgehört hat zu existieren, ihre Rechtsfähigkeit auch für das hiesige Verfahren verloren hat und sie damit auch nicht mehr gemäß § 70 Abs. 1 Nr. 1 SGG beteiligungsfähig ist. (Lindacher, in Münchener Kommentar zur ZPO, § 50 Rn. 14 m.w.N., Bundesgerichtshof – BGH –, Beschluss vom 20. Mai 2015, VII ZB 53/13, juris). Die Rechtsfähigkeit juristischer Personen oder von Personenvereinigungen bestimmt sich nach dem jeweiligen Gesellschaftsstatut, d.h., dem für die Innen- und Außenbeziehungen maßgeblichen Recht. Dieses ist für die Klägerin das kanadische Recht sowohl nach der sog. Gründungstheorie, wonach das Recht des Gründungsstaates für die Gesellschaft maßgeblich ist (so für eine nach englischem Recht gegründete Limited, Kammergericht – KG –, Beschluss vom 15. Oktober 2009 – 8 U 34/09 unter Berufung auf die Rechtspr. des EuGH, für Kanada unter Berufung auf das CETA-Abkommen, Cranshaw, jurisPR-HaGesR 12/2014 Anm. 6), als auch der Sitztheorie. Nach letzterer richtet sich die Beteiligungs- und Prozessfähigkeit bei Gesellschaften, die außerhalb der Europäischen Union gegründet worden sind, nach dem Recht des Staates, in dem die Hauptverwaltung der Gesellschaft ihren Sitz hat (VG Frankfurt, Beschluss vom 11. Dezember 2012 – 1 L 4060/12.F –, Rn. 16, juris unter Berufung auf Rechtsprechung des Reichsgerichts und des BGH). Die Klägerin hat den Sitz ihrer Hauptverwaltung in Kanada.

Selbst wenn die Klägerin nach Entlassung des trustee in bankruptcy (ein dem deutschen Insolvenzverwalter vergleichbares Organ nach dem kanadischen Insolvenz-recht) als Inc. aufgehört hat zu existieren, könnte eine etwaige Nachgesellschaft (auch im Sinne einer Rest- oder Spaltgesellschaft der ausländischen Gesellschaft) aber beteiligtenfähig sein (für die ausländische Gesellschaft aus dem EU und EWR-Raum, OLG Hamm, Urteil vom 11. April 2014 – I-12 U 142/13 mit Anmerkung von Cranshaw, jurisPR-HaGesR 12/2014 Anm. 6). Für die GmbH nach deutschem Recht ist die Beteiligungsfähigkeit der Nachgesellschaft anerkannt (Lindacher, in Münchener Kommentar zur ZPO, § 50 Rn. 14 m.w.N., BGH, Beschluss vom 20. Mai 2015, VII ZB 53/13, juris). Gemessen daran geht es der Klägerin in diesem Aktivprozess letztlich durch den Angriff des für sie negativen Statusfeststellungsbescheides der Beklagten nur um die Abwehr einer etwaigen Beitragsforderung und vordergründig nicht um die Realisierung eines monetären Anspruches. Jedoch stünden der Klägerin im Falle des Obsiegens ggf. Kostenerstattungsansprüche zu, die ihrer Vermögenslosigkeit und damit einem möglichen Verlust ihrer Beteiligtenfähigkeit entgegen stehen (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 6. April 2011, L 2 AL 51/07, juris; Schmidt, in: Scholz, GmbHG 12. Auflage 2018, § 74 , Rn. 17 ff.). Obwohl es aufgrund der Entlassung des trustee in bankruptcy und des Fehlens eines Nachtragsliquidators zumindest an einem vertretungsberechtigten Organ der Klägerin fehlt, bedurfte es vorliegend gleichwohl keiner Unterbrechung des Verfahrens gemäß § 202 SGG i.V.m. § 241, 246 ZPO, da die Prozessbevollmächtigten der Klägerin von dieser bereits vor der Beendigung mit der Prozessführung beauftragt wurden und die Vollmacht gemäß § 73 Abs. 6 Satz 7 SGG i.V.m. § 86 ZPO fortwirkt.

Wird im Hinblick auf die Abwehr der Beitragsforderung eine Beteiligtenfähigkeit zugunsten der Klägerin unterstellt, ist mit der Beendigung der klägerischen Gesellschaft ("Inc.") aber eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen dergestalt eingetreten, dass jedenfalls das Rechtsschutzinteresse für sie entfallen ist. Insofern gilt der all-gemeine Grundsatz, dass niemand die Gerichte grundlos Anspruch nehmen darf. Unzulässig ist ein Rechtsmittel daher dann, wenn ein sachliches Bedürfnis des Rechtsmittelführers hieran nicht mehr besteht, weil die weitere Rechtsverfolgung im Rechtsmittelverfahren offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen, dass Rechtsschutzziel also nicht mehr erreicht werden kann (BSG, Urteil vom 6. April 2011, B 4 AS 5/10 R, juris). Nach Ansicht des Senates fehlt der Klägerin aufgrund ihrer Vollbeendigung mit Blick auf die von ihr im Berufungsverfahren verfolgte Anfechtungs- und Feststellungsklage das allgemeine Rechtschutzbedürfnis (vgl. Beschlüsse des Senates vom 1. Juni 2015, L 9 K R 149/15 B PKH und vom 15. April 2019 - L 9 KR 2/16, juris).

Mit dem Erfordernis eines Rechtsschutzbedürfnisses, das sich im Allgemeinen ohne weiteres aus der formellen Beschwer des Rechtsmittelklägers ergibt, der mit seinem Begehren in der vorangegangenen Instanz unterlegen ist, soll erreicht werden, dass das Rechtsmittel nicht eingelegt wird, ohne dass ein sachliches Bedürfnis des Rechtsmittelklägers hieran besteht (BGH, Urteil vom 3. November 1971 - IV ZR 26/70, BGHZ 57, 224, 225). Es gilt der allgemeine Grundsatz, dass niemand die Gerichte grundlos oder für unlautere Zwecke in Anspruch nehmen darf. Trotz Vorliegens der Beschwer kann in seltenen Ausnahmefällen das Rechtsschutzinteresse fehlen, wenn der Rechtsweg unnötig, zweckwidrig oder missbräuchlich beschritten wird (BGH aaO; Meyer-Ladewig, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, vor § 143 RdNr 5 mwN). Unnütz und deshalb unzulässig ist ein Rechtsmittel insbesondere dann, wenn durch die angefochtene Entscheidung keine Rechte, rechtlichen Interessen oder sonstigen schutzwürdigen Belange des Rechtsmittelführers betroffen sind und die weitere Rechtsverfolgung ihm deshalb offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (BSG, Urteil vom 8. Mai 2007; B 2 U 3/06 R; Rn. 13, juris).

Eine obsiegende Entscheidung brächte der Klägerin keinen rechtlichen Vorteil mehr. Gegen die nicht mehr existente Klägerin kann die Beklagte einen im Anschluss ggf. zu erlassenen Beitragsbescheid nicht mehr durchsetzen. Eine Vollstreckung ist aus-geschlossen, solange die Klägerin über kein Vermögen verfügt. Die bloße Existenz eines für die Klägerin negativen Statusfeststellungsbescheides, der dazu berechtigte, für die Beigeladenen zu 4) und 5) Beitragsnachforderungen gegenüber der Klägerin zu erheben, begründet kein schutzwürdiges Interesse an der Fortführung der ursprünglich zulässigen Klage, da eine Beitragsforderung mangels Vermögens nicht durchsetzbar wäre. Der begehrte Rechtsschutz ist für die Klägerin derzeit ohne rechtliche Bedeutung und soll deshalb "quasi nur auf Vorrat" für den Fall in Anspruch genommen werden, dass die Klägerin später gegebenenfalls einmal Vermögen erwirbt. Für diesen Fall ist es der Klägerin jedoch nach Ansicht des Senates zuzumuten, die Bescheide der Beklagten über § 44 Sozialgesetzbuch/ Zehntes Buch (SGB X) erneut anzufechten (vgl. Beschluss des Senates vom 1. Juni 2015, L 9 K R 149/15 B PKH, juris). Dies ist auch bei einem Statusfeststellungsbescheid nach § 7a Sozialgesetzbuch/Viertes Buch (SGB IV) möglich, da auf dessen Grundlage "Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind" (vgl. Pietrek, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl. 2016, § 7a SGB IV, Rn. 160). Die zeitliche Grenze des § 44 Abs. 4 SGB X steht dem nicht entgegen, denn sie erfasst Bescheide über zu Unrecht erhobene Beiträge nicht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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