L 14 R 394/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 51 R 657/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 14 R 394/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 2/19 BH
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Berücksichtigung von Zeiten der schulischen Ausbildung während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe und damit letztlich eine höhere Rente.

Der am 00.00.1973 geborene Kläger wurde am 23.02.2010 vom Landgericht F zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Er war zunächst 17 Monate in einer Klinik für Forensische Psychiatrie untergebracht; ab dem 04.08.2011 saß er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) T ein, in der Zeit vom 07.11.2012 bis zum 05.07.2013 in der JVA G und anschließend wieder in der JVA T.

Vom 07.11.2012 bis zum 20.07.2013 besuchte der Kläger die Berufsoberschule Wirtschaft im Bildungszentrum der JVA G und erlangte dort die Fachhochschulreife; die wöchentliche Lern- und Unterrichtszeit betrug 41 Stunden. Einer auf Bitte der Beklagten seitens der JVA T unter dem 21.01.2014 erteilten Auskunft zufolge lagen während dieser Zeit die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzugs gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) nicht vor.

Auf seinen Antrag hin gewährte die Beklagte dem Kläger nach Beendigung eines diesbezüglichen sozialgerichtlichen Verfahrens durch Vergleich mit Bescheid vom 12.11.2013 aufgrund eines Leistungsfalls am 31.03.1994 ab dem 01.06.2011 unbefristet Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem monatlichen Zahlbetrag von 672,25 EUR ab dem 01.01.2014.

Mit Schreiben vom 30.12.2013 monierte der Kläger die Nichtberücksichtigung der Zeit des Besuchs der Berufsoberschule Wirtschaft im Bildungszentrum der JVA G im Rahmen der Berechnung seiner Rente.

Mit Bescheid vom 29.04.2014 nahm die Beklagte eine Neufeststellung der Rente des Klägers von Beginn an vor. Die streitige Ausbildungszeit erkannte sie weiterhin nicht als Anrechnungszeit an, da die Voraussetzungen für die Lockerung des Strafvollzugs gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG im maßgeblichen Zeitraum nicht gegeben gewesen seien.

Den vom 26.05.2014 datierenden Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wies die Beklagte mit Bescheid vom 05.11.2014 zurück und führte zur Begründung aus, Zeiten einer schulischen Ausbildung, die während des Strafvollzugs zurückgelegt worden seien, seien nur als Anrechnungszeiten zu berücksichtigen, wenn für den Versicherten die theoretische - Möglichkeit bestanden habe, während des Strafvollzugs aufgrund einer Beschäftigung Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben. Dies sei hier jedoch nicht der Fall gewesen.

Der Kläger hat am 24.11.2014 Klage erhoben, um sein Begehren weiterzuverfolgen. Zur Begründung hat er unter anderem ausgeführt, er habe sich in der Zeit der schulischen Ausbildung in der JVA G aufgehalten, so dass diese und nicht die JVA T für die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzugs zuständig gewesen sei. Im Übrigen handele es sich bei der Schulausbildung um eine Lockerung des Vollzugs im Sinne des Gesetzes.

Auf Anfrage hat die JVA G mit Schreiben vom 15.08.2016 mitgeteilt, eine Entscheidung über die Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen sei nicht veranlasst gewesen.

Nachdem die Beteiligten im Erörterungstermin am 18.10.2017 ihr Einverständnis mit dieser Verfahrensweise erklärt hatten, hat das Sozialgericht Gelsenkirchen die Klage durch Urteil vom 16.04.2018 ohne mündliche Verhandlung abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die von dem Kläger geltend gemachten Zeiten der Schul- bzw. Hochschulausbildung seien keine Anrechnungszeiten im Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI):

"Gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung), insgesamt jedoch höchstens bis zu acht Jahren. Der Begriff der Schulausbildung ist im Gesetz nicht definiert. Die Rechtsprechung (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 23.08.1989 - 10 RKg 5/86 und 10 RKg 8/86) geht bei der Auslegung des Begriffs "Schulausbildung" vom allgemeinen Sprachgebrauch aus. Danach ist unter diesem Begriff der Besuch allgemeinbildender und weiterführender Schulen zu verstehen. Außerdem wird verlangt, dass die Ausbildung an allgemeinbildenden, öffentlichen oder privaten Schulen erfolgt und der Unterricht nach staatlich genehmigten Lehrplänen erteilt wird. Dabei muss es sich - unbeschadet der Hochschulausbildung - um eine Ausbildung handeln, die zumindest annähernd derjenigen an (weiterführenden) Schulen im herkömmlichen Sinn entspricht (BSG, Urteil vom 25.11.1976 - 11 RA 146/75). Des Weiteren muss die Schulausbildung die Zeit und Arbeitskraft des Auszubildenden überwiegend in Anspruch genommen haben, wobei auch die notwendige Vorbereitung hinzuzählt.

Bei einer wöchentlichen Lern- und Unterrichtszeit des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum von 41 Stunden ist zwar beim Kurs zur Erlangung der Fachhochschulreife grundsätzlich von einer schulischen Ausbildung auszugehen. Allerdings waren entgegen der Auffassung des Klägers die Zeiten des Kurses zur Erlangung der Fachhochschulreife bereits deshalb nicht zu berücksichtigen, weil der Kläger nicht wegen der Ausbildung an einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gehindert war und dies ausgehend vom Zweck der Regelung des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI Voraussetzung für das Vorliegen eines Anrechnungszeittatbestandes ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 06.05.2010 - B 13 R 118/08 R; Urteil vom 24.10.1996, 4 R 52/95) stellt die an sich dem Versicherungsprinzip widersprechende Berücksichtigung von Ausbildungs-/Anrechnungszeiten als Zeiten ohne Beitragsleistung einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür dar, dass der Versicherte durch die Ausbildungszeiten ohne sein Verschulden gehindert war, einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen und so Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu leisten. Diese gesetzliche Konzeption ist Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge und ein Akt des sozialen Ausgleichs. Damit stellt die schulische Ausbildung des Versicherten keine Eigenleistung des Versicherten zu Gunsten der Rentenversicherung dar; sie liegt vielmehr laut dem BSG in seinem eigenen Interesse und Verantwortungsbereich. Zweck ist es demnach, dem Versicherten einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür zu verschaffen, dass er durch bestimmte Umstände aus seinem persönlichen Bereich unverschuldet an der Zahlung von Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung gehindert war (vergleiche BSG, Urteil vom 06.05.2010 B 13 R 118/08 R). Dementsprechend können Zeiten, für die aus Rechtsgründen keine wirksamen Pflichtbeiträge entrichtet werden konnten, auch keine Anrechnungszeiten sein.

Während der Strafhaft können aus Rechtsgründen keine wirksamen Pflichtbeiträge entrichtet werden. Grundsätzlich besteht während der Strafhaft gemäß § 41 StVollzG Arbeitspflicht. Häftlinge, die während der Haft aufgrund dieser Arbeitspflicht arbeiten, sind allerdings mangels eines besonderen Bundesgesetzes, das die in § 190 Nr. 13 des StVollzG vom 16.03.1976 (BGBl I S. 581) vorgesehene Einbeziehung von Strafgefangenen in das System der gesetzlichen Rentenversicherung in Kraft setzen würde (§ 198 Abs. 3 StVollzG), nicht versicherungspflichtig. Hierin ist kein Verstoß gegen das Grundgesetz zu sehen (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 01.07.1998, 2 BvR 441/90, 2 BvR 493/90, 2 BvR 618/92, 2 BvR 212/93, 2 BvL 17/94, vgl. auch BSG, Urteil vom 26.05.1988, 5/5b RJ 20/87).

Seit dem 01.01.1976 unterliegen allerdings Freigänger bei Abschluss eines freien Arbeitsvertrags der Sozialversicherungspflicht. Es besteht demnach die Möglichkeit, als Freigänger Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben.

Aus diesen Grundsätzen folgt, dass der Kläger in der Zeit der schulischen Ausbildung nicht wegen der Ausbildung daran gehindert war, einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen, denn er befand sich, nachdem er (rechtskräftig) verurteilt worden war, in Strafhaft. Während des Kurses zur Erlangung der Fachhochschulreife war der Kläger ausschließlich wegen Verbüßung der Strafhaft an der Ausübung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit gehindert.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Ausnahmeregelung für Freigänger. Für den Kläger bestand nicht die - theoretische - Möglichkeit während des Strafvollzuges aufgrund einer Beschäftigung Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zu erwerben. Die Justizvollzugsanstalt T hat mit Schreiben vom 21.01.2014 mitgeteilt, dass für den Kläger im Zeitraum der schulischen Ausbildung die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzuges gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG nicht gegeben waren. Entgegen der Ansicht des Klägers war die Justizvollzugsanstalt T für die Abgabe dieser Erklärung auch zuständig. Zum einen wurde die Anfrage an die Justizvollzugsanstalt G an die Justizvollzugsanstalt T weitergeleitet und zum anderen hat die Justizvollzugsanstalt G auch im Rahmen des Klageverfahrens erklärt, dass eine Entscheidung über die Gewährung von vollzugsöffnenden Maßnahmen in der Justizvollzugsanstalt G nicht veranlasst war. Die Justizvollzugsanstalt T konnte eine eigene Prüfung vornehmen, da die Voraussetzungen für die Lockerung des Vollzugs einheitlich festgeschrieben sind und die Justizvollzugsanstalt T anhand der dortigen Verwaltungsakte eine Entscheidung treffen konnte."

Gegen das ihm am 27.04.2018 zugestellte Urteil hat der Kläger am 25.05.2018 Berufung eingelegt.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheides vom Bescheid vom 29.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2014 die Beklagte zu verpflichten, seine Rente wegen voller Erwerbsminderung von Beginn an neu festzustellen und dabei die Zeit vom 07.11.2012 bis zum 20.07.2013 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und sieht ihre Auffassung durch dieses bestätigt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Der Senat kann trotz Ausbleibens des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung über die Berufung entscheiden (§§ 153 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), denn er ist von dem Termin ordnungsgemäß benachrichtigt und auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 110 Abs. 1 SGG).

Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, insbesondere ist sie statthaft und form- und fristgerecht erhoben (§§ 143 und 151 SGG), sie ist aber nicht begründet.

Der Klage könnte es schon an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlen, da der Zeitraum, den der Kläger als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI berücksichtigt wissen will, bereits als Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI berücksichtigt ist. Jedenfalls aber hat das Sozialgericht die Klage deshalb zu Recht abgewiesen, weil der Kläger aus den von der Kammer zutreffend und erschöpfend dargestellten Gründen keinen Anspruch darauf hat, dass die Beklagte die Zeit seiner während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe ohne Vollzugslockerungen in der JVA G absolvierten schulischen Ausbildung als Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI berücksichtigt. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG abgesehen.

Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens Rechnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 160 Nrn 1 und 2 SGG genannten Gründe vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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