S 3 AL 140/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 3 AL 140/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 1 AL 57/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Berücksichtigung der Kirchensteuer bei der Berechnung seines Arbeitslosengeldes ab 01.08.2002. Ihm wurde Arbeitslosengeld bewilligt nach einem Bemessungsentgelt von 1.050,- EUR wöchentlich, der Leistungsgruppe A und dem allgemeinen Leistungssatz, welches zu einer wöchentlichen Leistung von 316,12 EUR führte.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, da er nicht damit einverstanden war, dass ein Pauschalabzug von 8 % aus der Lohnsteuer für die Kirchensteuer vorgenommen wurde. Er zahle keine Kirchensteuer.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 15.11.2002 zurück. Sie führte zur Begründung aus, dass das Bemessungsentgelt um die gesetzlichen Ent¬geltabzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, vermindert werde. Zur Berech¬nung des Arbeitslosengeldes werde also ein pauschaliertes Netto-Arbeitsentgelt ermittelt. Dabei würden aber nicht die jeweiligen individuellen Abzüge berücksichtigt, sondern ein für das jeweilige Brutto-Arbeitsentgelt typischer Pauschalbetrag, der die gewöhnlich bei Arbeitnehmern anfallenden Abzüge errechne. Es würden also die Abzüge berücksichtigt, denen ein durchschnittlicher, für die Mehrheit repräsentativer Arbeitnehmer, mit gleichem Brutto-Arbeitsentgelt unterliege. Die Leistungsentgelte würden jährlich durch die SGB III-Leistungsentgeltverordnung durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung einheitlich für das gesamte Bundesgebiet bestimmt. Zu den gewöhnlich anfallenden Ent¬geltabzügen gehöre neben den Sozialversicherungsbeiträgen, der Lohnsteuer, dem So¬lidaritätszuschlag auch die Kirchensteuer, weil diese von der überwiegenden Zahl der Arbeitnehmer zu entrichten seien (§ 136 Sozialgesetzbuch 3. Buch – SGB III). Entspre¬chend § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III sei bei der Ermittlung des Leistungsentgelts als rechnerischer Lohnabzug für die Kirchensteuer die Steuer nach dem im Vorjahr in den Ländern geltenden niedrigsten Kirchensteuer-Hebesatz zugrunde zu legen. Es sei somit auch rechtlich unerheblich, ob der einzelne Arbeitslose als Arbeitnehmer Kirchensteuer entrichtet habe.

Diese gesetzliche Regelung sei auf die Besonderheiten der Arbeitslosenversicherung zugeschnitten. Sie solle sicher stellen, dass der Arbeitslose während der Arbeitslosigkeit eine Leistung erhalte, die sich an dem vor der Arbeitslosigkeit erzielten Arbeitsentgelt aus¬richte. Andererseits sei es wichtig, dass das Arbeitslosengeld schnell bewilligt und ausge¬zahlt werden könne. Die Regelungen des SGB III stellten hierbei einen angemessenen Kompromiss zwischen beiden Prinzipien dar. Die Pauschalierung der Abzüge vermeide im Interesse einer schnellen Bewilligung der Lohnersatzleistung umfangreiche Feststellungen über persönliche Verhältnisse des Antragstellers und ermögliche die Verwendung einfach zu handhabender Leistungstabellen. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits mit Be¬schluss vom 23.03.1994 entschieden, dass der pauschale Abzug in Höhe des Kirchen¬steuer-Hebesatzes, auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehören, rechtmäßig sei. Es habe festgestellt, dass dieser Abzug mit dem Grundgesetz vereinbar sei, solange eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer einer Kirche, die Kirchensteuer erheben dürfe, ange¬höre. Der Gesetzgeber sei aufgefordert worden, die Entwicklung der Zahl der kirchen¬steuerpflichtigen Arbeitnehmer zu beobachten, und dann mit einer Änderung der entspre¬chenden Vorschrift zu reagieren, wenn feststehe, dass im Bundesgebiet nicht mehr eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer einer Kirche angehöre.

In Anlehnung an diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes gehe das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtssprechung davon aus, dass trotz rückläu-figer Tendenz der kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer noch keine Änderung des pau-schalen Abzuges bei Arbeitslosen erforderlich sei. Zum Jahresende 1999 seien nach den Meldungen der Evangelischen Kirche Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz 65,6 % der Bevölkerung Mitglied einer Kirche. Analog zu den Ergebnissen aus den Vor¬jahren könne damit auch weiterhin angenommen werden, dass eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer einer die Kirchensteuer erhebenden Kirche angehöre.

Hiergegen richtet sich die Klage. Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, dass ein Kir-chensteuerabzug nicht erfolgen dürfe. Nach letzten Angaben des BMA errechne sich un-ter Zugrundelegung eines Differenzbetrages von 8 %-Punkten zum Jahresende 1995 und einem Anteil von 64,9 % Kirchenmitgliedern an der Gesamtbevölkerung zum Jahresende 2000 ein Anteil von 56,9 % Kirchenmitgliedern. Somit sei seit dem Urteil des BSG vom 25.06.2002 ein weiterer Rückgang um 0,7 % zu verzeichnen. Fakt sei, dass der Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung von Jahr zu Jahr geringer werde und somit eine deutliche Mehrheit im Jahr 2002 äußerst fraglich sei.

Grundsätzlich halte er auch den pauschalen Abzug der Kirchensteuer mit dem Grundge-setz nicht für vereinbar, da dieser nicht im Einklang mit dem Recht auf Ausübung der Reli¬gionsfreiheit stehe und den tatsächlichen Verhältnissen widerspreche. Inzwischen lägen dem statistischen Bundesamt Ergebnisse von 1998 bzw. Berechnungen unter bestimmte Annahmen bis 2001 vor, die eine Handlungspflicht des Gesetzgebers erfordere, da der Anteil derjenigen Arbeitnehmer, die einer steuererhebenden Kirche angehörten, mit berechneten 54,3 % bzw. 53,9 % für das Jahr 2001 unter 55 % gesunken sei.

Der Kläger hat eine Übersicht der Lohn- und Einkommenssteuerstatistik für das Jahr 1998 übersandt. Außerdem hat er eine Kommentierung zu den Übersichten übersandt.

Der Kläger ist der Auffassung, dass eine Anfrage an das statistische Bundesamt zu richten sei, ob es sich bei der Kirchensteuer um eine Abgabe handele, die von der überwiegenden Mehrheit der Arbeitnehmer zu zahlen sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Bescheid vom 12.09.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2002 sowie dem Bescheid vom 08.11.2002 in der Fassung des Wider- spruchsbescheides vom 17.12.2002 sowie den Bescheid vom 18.01.2003 abzu- ändern und die Beklagte zu verurteilen, das Arbeitslosengeld ab 01.08.2002 ohne Berücksichtigung eines Kirchensteuerhebesatzes zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich im wesentlichen auf die Begründung der angefochtenen Bescheide.

Wegen der Einzelheiten im übrigen wird auf den Inhalt der Streitakte und der Leistungs-akten der Beklagten (Kd.-Nr. 313 A 068 085), die Gegenstand der mündlichen Verhand-lung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nicht beschwert, da diese nicht rechtswidrig sind.

Die Beklagte hat zu Recht der Berechnung des dem Kläger zustehenden Arbeits-losengeldes unter Berücksichtigung des Kirchensteueransatzes errechnet und gezahlt. Gemäß § 136 Abs. 1 SGB III ist das Bemessungsentgelt zur Ermittlung des Leistungsent-geltes pauschal nach Maßgabe des Abs. 3 um die gesetzlichen Entgeltabzüge zu vermindern, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen. Aufgrund der Verordnungs-ermächtigung des § 151 Abs. 2 Nr. 2 SGB III bestimmt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung – BMA – durch Rechtsverordnung jeweils für ein Kalenderjahr die für die Bemessung des Arbeitslosengeldes maßgeblichen Leistungsentgelte. Entsprechend hat die Beklagte die Leistung errechnet. Darüber hinausgehende Ansprüche stehen dem Kläger nicht zu. § 136 SGB III schreibt ausdrücklich vor, dass auch Kirchensteuer in An-satz zu bringen ist.

Nach § 136 Abs. 2 Nr. 2 SGB III ist bei der Bestimmung der pauschalierten Entgeltabzüge, "die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen", generell die Kirchensteuer zu berück-sichtigen, und zwar in Höhe des im Vorjahr in den Ländern geltenden niedrigsten Kirchen¬steuer-Hebesatzes. Angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlautes kommt es für den Ansatz der Kirchensteuer weder darauf an, ob der Arbeitslose einer kirchen-steuererhebenden Kirche angehört, noch ist Raum für eine Berücksichtigung regionaler Unterschiede bei der Kirchenzugehörigkeit, insbesondere mit Blick auf die neuen Bundes¬länder.

Die Anwendung des § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III auf den Arbeitslosengeld-Anspruch des Klägers ab 01.08.2002 ist auch nicht verfassungswidrig. Dies ergibt sich aus den Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht zur vergleichbaren Rechtslage nach dem am 31. Dezember 1997 außer Kraft getretenen AFG aufgestellt hat. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 1994 – 1 BvL 8/95 – war es mit dem Grund¬gesetz, insbesondere dessen Art. 3, 4 und 14 vereinbar, dass nach § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehörten, bei der Berechnung des für die Höhe des Arbeitslosengeldes maßgebenden Nettoentgeltes als "gewöhnlich" anfallende Abzug auch ein Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen war. Der vom Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung dem Gesetzgeber aufgegebenen Be¬obachtungs- und Handlungspflicht ist der Gesetzgeber seit der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts im März 1994 bis zum jetzigen Zeitpunkt in nicht zu bean-standender Weise nachgekommen. Das Bundessozialgericht hat die Verfahrensweise des BMA für die Datenermittlung ausdrücklich gebilligt (vgl. zuletzt Urteil des BSG vom 25.06.2002 – B 11 AL 55/01 R – m.w.N.). In Fortführung dieser höchstrichterlichen Rechtssprechung ist die Anwendung des § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III auch im hier streitigen Zeitraum von August 2002 bis August 2003 nicht verfassungswidrig. Bei Erlass der den angefochtenen Bescheiden zugrundeliegenden Leistungsentgeltverordnungen im Dezember 2001 und Dezember 2002 lagen keine neueren amtlichen Daten über die Kirchenlohnsteuerpflichtigen vor, die eine Änderung der gesetzlichen Grundlage des § 136 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB III erfordert hätten. Mit den Ergebnissen der turnusmäßigen Lohn- und Einkommenssteuerstatistik für das Jahr 1998 konnte erst Ende 2002 bzw. zum Frühjahr 2003 gerechnet werden. Für das Jahr 2002 liegen auch heute noch keine statistischen Angaben vor. Der Gesetzgeber hat allerdings inzwischen aufgrund der von den Kirchen für das Jahr 2001 veröffentlichten Mitgliederzahlen ab 01.01.2005 bei der Ermittlung des Leistungsentgeltes auf die Kirchensteuer als Rechengröße verzichtet.

Dass der Wegfall des Kirchensteuerabzuges nicht schon früher zum Tragen kommt, ist nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber hat innerhalb weniger Monate auf die Daten-auswertung der Lohn- und Einkommenssteuerstatistik 1998 reagiert, die Ende Mai 2003 vorlag. Eine rückwirkende Berücksichtigung ist verfassungsrechtlich nicht geboten, wie sich auch aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entnehmen lässt (vgl. Landessozialgericht Berlin, Urteil vom 25.06.2004 – L 4 AL 45/03; LSG für den Freistaat Sachsen, Urteil vom 07.08.2003 – L 3 AL 10/03; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.07.2003 – L 13 AL 4869/02; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.09.2004 – L 9 AL 105/03; LSG NRW, Urteil vom 01.07.2004 – L 9 AL 232/03).

Die Entscheidung des Sozialgerichts Chemnitz vom 30.09.2004 – S 6 AL 58/02 und S 6 AL 1602/03 – überzeugt dagegen nicht. Sie steht eindeutig im Widerspruch zur Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts.

Nach alledem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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