S 11 RJ 99/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 RJ 99/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 RJ 66/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.10.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.1999 verurteilt, dem Kläger ab dem 01.09.1998 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte trägt 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der 0000 geborene Kläger erlernte den Beruf des Malers und Lackierers, den er auch zuletzt von 1980 bis 1995 bei der Firma N. L. in I. ausübte. Von 1994 bis 1995 war er arbeitsunfähig krank. Seit dem 10.07.1995 ist er arbeitslos.

Am 10.08.1998 beantragte er eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Berufsunfähigkeit. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Untersuchung und Begutachtung durch den Orthopäden Dr. S. Dieser stellte in seinem Gutachten von September 1998 bei dem Kläger ein Wirbelgleiten ersten Grades im Lenden/Kreuzsegment, einen geringen Verschleiß des linken Sprunggelenkes nach Bruch und OP-Behandlung, einen verheilten Schlüsselbeinbruch beidseits, einen Verdacht auf Alkoholmissbrauch, sowie darüber hinaus als nicht wesentliche Einschränkung eine erhebliche Erhöhung der Blutfette und eine leichte Erhöhung der Harnsäure fest. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger noch mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen in wechselnder Körperhaltung vollschichtig verrichten könne.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte nach Einholung einer Arbeitgeberauskunft der Firma Küppers mit Bescheid vom 22.10.1998 den Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab. Mit dem vorhandenen Leistungsvermögen sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers in seinem gelernten Beruf zwar gemindert, er sei jedoch noch in der Lage, weiter in seinem bisherigen Beruf vollschichtig zu arbeiten.

Dagegen legte der Kläger am 19.11.1998 Widerspruch ein. Bei einem Unfall sei sein linker Fuß zertrümmert worden und er leide an erheblichen Rückenbeschwerden, Beschwerden an der rechten Schulter aufgrund eines Schlüsselbeinbruchs, sowie Nackenbeschwerden. Wegen dieser Beschwerden könne er keine Tätigkeiten mehr in längerer gebückter Haltung, bei denen der Arm nach hinten gedreht werden und der Kopf längere Zeit nach oben gehalten werden müsse, verrichten, so dass ihm die Ausübung des bisherigen Berufes als Maler und Lackierer unmöglich sei.

Mit Bescheid vom 11.03.1999 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die von dem Kläger angeführten körperlichen Beeinträchtigungen seinen medizinisch ausreichend gewürdigt worden. Auch wenn er seinen erlernten Beruf als Maler und Lackierer nicht mehr ausüben könne, sei er jedoch noch in der Lage, die Tätigkeit als Lackierer von Kleinteilen und Kleingeräten, Fachberater im Tapetengroßmarkt und auch Hauswart, vollschichtig auszuüben.

Mit der am 15.04.1999 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Entgegen der Auffassung der Beklagten seien seine Beeinträchtigungen so groß, dass eine Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich sei. Bei der Tätigkeit als Maler und Lackierer sei er gezwungen, den Kopf nach hinten zu dehnen bzw. nach oben zu schauen, sowie den rechten Arm nach hinten zu dehnen und eine Leiter zu besteiten. Derartige Haltungen würden jedoch zu ganz erheblichen Schmerzen führen, die es ihm somit unmöglich machen würden, seinen erlernten oder einen vergleichbaren Beruf auszuüben.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.10.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.1999 zu verurteilen, ihm ab dem 01.09.1998 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie sieht sich durch das Ergebnis der Beweisaufnahme in ihrer bisherigen sozialmedizinischen Beurteilung bestätigt. Der Kläger sei weiterhin in der Lage, die genannten Verweisungstätigkeiten vollschichtig auszuüben.

Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes und des Leistungsvermögens des Klägers im Erwerbsleben die Leistungsakte des Arbeitsamtes B. beigezogen, die Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. T. und Dr. I. sowie ein Gutachten des Chirurgen und Unfallchirurgen Dr. T. mit Fachradiologischem Zusatzgutachten des Dr. T. eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die genannten Unterlagen verwiesen. Das Gericht hat folgende berufskundliche Unterlagen in das Verfahren eingeführt und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht:

1.Zum Stichwort "Maier und Lackierer" einen Auszug aus dem Heft Mr. 511 a des Grundwerks ausbildungs- und berufskundlicher Informationen - GABI - der Bundes-anstalt für Arbeit; 2.Zum Stichwort "Hauswart/Hausmeister" einen Auszug aus dem Heft Nr. 793 a des Grundwerks ausbildungs- und berufskundlicher Informationen - GABI - der Bundesanstalt für Arbeit; 3.Zum Stichwort "Kundenberater eine Auskunft verschiedener Bau- und Fachmärkte auf Anfrage des Sozialgerichtes B. vom 05.04.1989.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und beschweren den Kläger im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 Sozalgerichtsgesetz (SGG) dahingehend, als dass der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hat, worauf der Antrag in der mündlichen Verhandlung vom 11.06.1999 beschränkt worden ist.

Berufsunfähig sind gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Zur praktischen Ausführung dieser Rechtssätze hat das Bundessozialgericht (BSG) die Arbeiterberufe in verschiedene Gruppen aufgegliedert, welche durch Leitberufe charakterisiert werden. Es sind dies die des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des gelernten Facharbeiters, des angelernten Arbeiters und des ungelernten Arbeiters (vgl. BSG SozR 3 - 2200 § 1246 Nr. 41, 44, 45, 49 m.w.N.).

Wer in seinem "bisherigen Beruf" nicht mehr arbeiten kann, ist erst berufsunfähig, wenn er Tätigkeiten der nächst niedrigeren Gruppe unterhalb derjenigen, der sein bisheriger Beruf zuzuordnen ist, nicht mehr verrichten kann. Dabei ist stets auch zu berücksichtigen, dass der Versicherte nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden kann, die er nach einer Einarbeitungs- oder Einweisungszeit von längstens 3 Monaten im Wesentlichen vollwertig beherrscht. Auch darf für evtl. zumutbare Verweisungsberufe der Arbeitsmarkt nicht verschlossen sein (Kasseler Kommentar zu Sozialversicherungsrecht SGB VI § 43 Rdnr. 96,100m.w.N.).

Unter Bezugnahme auf diese Grundsätze steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger berufsunfähig ist. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist er nicht mehr in der Lage, in seinem erlernten und ausgeübten Beruf als Maler und Lackierer zu arbeiten. Ausweislich des Heftes Nr. 511 a GABI handelt es sich bei der Tätigkeit eines Malers und Lackierers um eine leichte, überwiegend mittelschwere bis gelegentlich schwere Arbeit, überwiegend im Stehen mit zeitweiser Zwangshaltung wie Überkopfarbeit, Hocken, Knien und Bücken. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. T. leidet der Kläger an einem vorzeitigen Verschleiß im Bereich des oberen Sprunggelenkes, beginnend auch im unteren Sprunggelenk aufgrund einer Luxationsfraktur des linken oberen Sprunggelenkes, einer Verschiebung des 5. Lendenwirbelkörpers gegenüber dem Kreuzbein auf dem Boden einer angeborenen Bogenschlussbildung der Wirbelsäule mit belastungsabhängigen Schmerzen im Bereich des Segmentes L5/ Sl, ausgeprägten Verschleißveränderungen im Bereich der unteren Halswirbelsäule, betont im Segment C5/6 sowie einer das Leistungsvermögen nicht wesentlich einschränkenden Druckschmerzhaftigkeit im Bereich der ehemaligen Bruchlinie des rechten Schlüsselbeines. Als Folge der festgestellten Diagnosen ist der Kläger nur noch in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten wechselweise im Gehen, Stehen und Sitzen unter Meidung von Arbeiten in längerer gebückter Haltung sowie einseitiger körperlicher Belastung zu verrichten. Diese noch vorhandene Leistungsfähigkeit des Klägers ergibt sich schlüssig und nachvollziehbar aus der Untersuchung und Begutachtung durch den Sachverständigen Dr. Sikorski. Da der Kläger somit nicht mehr in der Lage ist, auch zeitweise schwere Arbeiten überwiegend im Stehen zu verrichten, kann er seine bisherige Berufstätigkeit als Maler und Lackierer nicht mehr gesundheitlich zumutbar ausüben.

Ausgehend von seinem erlernten und ausgeübten Beruf als Maler und Lackierer kann der Kläger den Berufsschutz eines Facharbeiters beanspruchen, da es sich hierbei um eine Tätigkeit mit einer drei-jährigen Ausbildung handelt und der Kläger auch bei seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit bei der Firma N. L. in I. als solcher beschäftigt war und entsprechend entlohnt wurde.

Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen ist der Kläger auch nicht in der Lage, die Tätigkeit eines Lackierers von Kleinteilen zu verrichten, auf den die Beklagte den Kläger im Widerspruchsbescheid verwiesen hat. Davon ausgehend, dass bei einer Tätigkeit eines Lackierers von Kleinteilen nur leichte Arbeiten anfallen, ist die Tätigkeit eines Lackierers von Kleinteilen entsprechend der eines Malers und Lackierers auch mit einer einseitigen Körperhaltung sowie Arbeiten in gebückter Haltung verbunden. Hinsichtlich des Lackierens von Gegenständen ist unabhängig von deren Größe eine einseitige Körperhaltung einzunehmen. Darüber hinaus erscheint es der Kammer auch nicht möglich kleinere Gegenstände im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen zu lackieren.

Der Kläger ist auch, nicht mehr in der Lage, die genannte Verweisungstätigkeit eines Hauswartes/Hausmeisters auszuüben. Aus dem Heft 793 a GABI ist ersichtlich, dass es sich hierbei um eine leichte bis mittelschwere Arbeit im Gehen und Stehen mit Arbeiten in Zwangshaltungen wie Bücken handelt. Eine dem noch verbliebenen gesundheitlichen Leistungsvermögen des Klägers entsprechende Arbeit im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen stellt die Tätigkeit eines Hauswarts bzw. Hausmeisters jedenfalls nicht dar. Darüber hinaus ist der Kläger eben nicht mehr in der Lage, Arbeiten in längerer gebückter Haltung sowie einseitige körperliche Belastung auszuüben, welche jedoch bei der Tätigkeit eines Hauswarts bzw. Hausmeisters anfallen. Nicht ausreichend ist dabei, dass es sich hierbei um eine leichte bis mittelschwere Arbeit handelt, die weiter vorhandenen Einschränkungen müssen auch hier berücksichtigt werden.

Der Kläger kann darüber hinaus auch nicht zumutbar auf die weiter im Widerspruchsbescheid von der Beklagten genannten Tätigkeit eines Kundenberaters im Tapetengroßmarkt verwiesen werden. Die Befragung verschiedener Fach- und Baumärkte im Großraum B. (z.B. Bau- und Heimwerkermarkt H., Obi, Ultra-Bau-Zentrum, Extra- Bau- und Hobbymarkt, Mobau, Praktika-Markt und Bauhaus) hat ergeben, dass die Einarbeitungszeit für einen Handwerker, der einigermaßen kontaktfreudig ist, für eine Tätigkeit als Facharbeiter mehr als drei Monate beträgt (so z.B. bei Bau-Haus 3 - 6 Monaten, Extra-Bau-Markt 3 - 6 Monate, Extra-Bau und Hobby 2 Jahre, Mobau 1 1/2 bis 2 Jahre, Obi 6-12 Monaten). Unter Berücksichtigung der bereits dargelegten Grundsätze für die Verweisung eines Facharbeiters auf angelernte Tätigkeiten stellt die Tätigkeit eines Fachberaters keine sozial zumutbare Verweisungstätigkeit dar, da diese eben nicht innerhalb von drei Monaten von dem Kläger erlernt werden kann. Hinsichtlich der längeren Einarbeitungszeit von drei Monaten haben die einzelnen Fachmärkte nachvollziehbar dargelegt, dass es den meisten Handwerkern an verkäuferischen Fähigkeiten fehlt und diese erst erlernt werden müssen. Bei einem Fachberater sind eben nicht nur Fachkenntnisse erforderlich, sondern auch die Fähigkeit, diese Fachkenntnisse dem Kunden zu vermitteln und entsprechende Materialien zu verkaufen. Über diesen sozialen Aspekt der Tätigkeit eines Fachberaters hinaus geht aus den Mitteilungen der verschiedenen Bau- und Fachmärkte hervor, dass die Tätigkeit eines Fachberaters im Wesentlichen fast ständiges Gehen und Stehen beinhaltet. Unter Berücksichtigung seines Restleistungsvermögens soll der Kläger jedoch nur noch solche Tätigkeiten ausüben, die im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen verrichtet werden. Einem Fachberater dürfte dies während seiner Verkaufstätigkeit im Hinblick auf die Kundenfreundlichkeit sicherlich nicht zugestanden werden, sich zeitweise zu setzen. Bei hoher Kundenfrequenz besteht somit grundsätzlich keine Möglichkeit, eine wechselnde Körperhaltung im Gehen, Stehen und Sitzen einzunehmen. Evtl. andere gesundheitlich und sozial zumutbare Verweisungstätigkeiten sind der Kammer nicht ersichtlich, so dass der Kläger in jedem Fall berufsunfähig ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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