S 16 SO 58/07 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
16
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 16 SO 58/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig weiterhin Leistungen der Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII i. V. m. § 264 SGB V zu gewähren bis zur Widerspruchsentscheidung des Oberbürgermeisters der Stadt N. zu der Thematik, ob und gegebenenfalls bei wem der Antragsteller ab dem bzw. ab dem 01.07.2007 anderweitig gesetzlich krankenversichert ist. Die Antragsgegnerin trägt die dem Antragsteller entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten. Weitergehende Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten ...

Gründe:
I.
In dem Rechtsstreit geht es um die Gewährung von Krankenversicherungsschutz im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der am 00.00.1938 geborene früher möglicherweise auch zur Zeit einer selbständigen Tätigkeit privat versicherte demente Antragsteller steht unter Betreuung. Mit Verfügung vom 01. August 2005 gewährte die Antragsgegnerin voraussetzungslos sowie scheinbar andauernd, jedenfalls ohne zeitliche Befristung dem Antragsteller Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII i.V.m. § 264 SGB V. Mit Bescheid vom 02. April 2007 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass aufgrund einer Gesetzesänderung die Übernahme des Krankenschutzes zum 31. März 2007 ende und verfügte mit Bescheid vom 06. Juni 2007 die Gewährung von Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII mit Wirkung vom 30. Juni 2007 zurückzunehmen und ordnete die sofortige Vollziehung an. Hiergegen legte der Antragsteller am 25. Juni 2007 Widerspruch ein und beantragte die "Weiterversicherung" durch die Antragsgegnerin. Zur Begründung bezog er sich darauf, dass die AOK die Aufnahme der Versicherung verweigert habe. Nachdem der Antragsteller bei der AOK, bei der er definitiv bis zum 13. Dezember 1991 krankenversichert war und der D. Krankenversicherungs AG keinen Krankenversicherungsschutz erlangte, hat der Antragsteller am 29. Juni 2007 beim Sozialgericht Münster den Erlass einer einstweiligen Anordnung eingereicht mit dem sinngemäßen Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, weiterhin Hilfen zur Gesundheit zu gewähren, bzw. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 25. Juni 2007 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 06. Juni 2007 (Az.: 50 32 37 00 00 20) anzuordnen. Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass der Antragsteller als Folge des GKV- Wettbewerbsstärkungsgesetzes mit Wirkung ab dem 01.04.2007 kraft Gesetzes versicherungspflichtig geworden sei. Eine fortlaufende Hilfegewährung nach § 48 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) i. V. m. § 264 SGB V über den 31.03.2007, bzw. dem 30.06.2007 hinaus sei deshalb nicht möglich. %.

II.
Der Antrag ist begründet. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell¬rechtlichen Anspruch auf die Leistung, voraus sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System: Ist die Klage (der Widerspruch) in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage (der Widerspruch) in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Sollte es sich um einen Antrag nach § 86 b Abs. 1 SGG handeln, hätte ebenfalls eine Interessensabwägung stattzufinden. Nach diesen Maßstäben hat der Antragsteller mit seinem Antrag Erfolg.

Grundsätzlich besteht ein Anspruch des Antragstellers auf Hilfe bei Krankheit gemäß § 48 SGB XII i. V. m. § 264 SGB V auch über den 31.03.2007 hinaus. Denn diese Vorschriften sind trotz der neuen Regelungen in § 5 Abs. 1 Nr. 13, Abs. 8 a SGB V i. d. F. des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV- Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG) vom 26.03.2007, BGBl. I S. 378 nicht aufgehoben worden. § 48 SGB XII lautet: "Um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern, werden Leistungen zur Krankenbehandlung entsprechend dem dritten Kapitel fünften Abschnitt ersten Titel des Fünften Buches erbracht. Die Regelungen zur Krankenbehandlung nach § 264 des Fünften Buches gehen den Leistungen der Hilfe bei Krankheit nach Satz 1 vor." § 264 Abs. 2 Satz 1 SGB V ergänzt: "Die Krankenbehandlung von Empfängern von Leistungen nach dem Dritten bis Neunten Kapitel des Zwölften Buches, von Empfängern laufender Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleitungsgesetzes und von Empfängern von Krankenhilfsleistungen nach dem Achten Buch, die nicht versichert sind, wird von der Krankenkasse übernommen." Aus diesen Vorschriften folgt zunächst, dass an sich nur die Leistungsempfänger nach dem SGB XII erfasst werden sollten, die auch laufende Leistungen erhalten. In erweiternder Auslegung dieser Vorschriften zählen hierzu aber auch diejenigen Personen, die ausschließlich Leistungen der Hilfe bei Krankheit beanspruchen (so Wahrendorf in GrubeA/Vahrendorf SGB XII, 2005, Rd.-Nr. 15 zu § 48 SGB XII). Dementsprechend wurde bei dem Antragsteller auch von der Regelung des § 48 Satz 2 SGB XII i. V. m. 264 SGB V bis zum 31.03.2007 Gebrauch gemacht durch Begründung eines Betreuungsverhältnisses mit einem Kostenerstattungsanspruch der vom Leistungsempfänger gewählten Krankenkasse gegenüber dem Sozialhilfeträger, vgl. § 264 Abs. 7 SGB V. Andererseits wird deutlich, dass die Inanspruchnahme von Leistungen nach § 48 SGB XII nicht in Betracht kommt, wenn ein anderweitiger Krankenversicherungsschutz besteht, auch wenn dies in § 48 SGB XII nicht ausdrücklich ausgeführt wird (vgl. auch insoweit Wahrendorf a. a. O., Rd.-Nr. 3 u. 4; deutlich dagegen geregelt in § 264 Abs. 2 Satz 1 SGB V: "die nicht versichert sind"). Ein solcher anderweitiger Krankenversicherungsschutz für den Antragsteller dürfte ab 01.04.2007 in Übereinstimmung mit der Auffassung der Antragsgegnerin und wohl auch der Beigeladenen bestehen. Denn durch das GKV-WSG wurde unter anderem der Krankenversicherungsschutz der Leistungsempfänger nach dem SGB XII neu geregelt, vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 13, Abs. 8 a SGB V. Diese Regelungen sind auch bereits mit Wirkung zum 01.04.2007 in Kraft getreten, Art. 46 Abs. 1 GKV-WSG (praktisch also ohne Vorlauffrist, in der die Versicherten, aber auch die betroffenen Leistungsträger sich auf die veränderten Zuständigkeiten hätten einstellen können).

§ 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V bestimmt nunmehr, dass (auch) die Personen versicherungspflichtig (in der Krankenversicherung) sind, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und a) zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder b) bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Absatz 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift dürften beim Antragsteller erfüllt sein: Er hat keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall (abgesehen von dem hier streitigen) und war aktuell nicht gesetzlich oder privat krankenversichert (wobei allerdings nicht ganz klar ist, was der Gesetzgeber mit "bisher" meint: Genügt hierfür eine entsprechende Versicherung irgendwann einmal in der Vergangenheit oder müsste diese zumindest in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang zur Gegenwart stehen; jedenfalls ist das bisherige Betreuungsverhältnis nach § 264 SGB V , durchgeführt durch die Landwirtschaftliche Krankenkasse NRW, keine gesetzliche Versicherung im Sinne dieser Vorschrift sein, da Voraussetzung für die Anwendung dieser Vorschrift ja gerade ist, dass der Betreffende nicht gesetzlich krankenversichert ist. Kostenträger ist in einem solchen Fall letztlich auch nicht die Krankenkasse, sondern der Sozialhilfeträger, vgl. § 264 Abs. 7 SGB V). Diese Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 b SGB V ist auch nicht nach § 5 Abs. 8 a SGB V ausgeschlossen: Weder ist der Antragsteller nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 12 SGB V versicherungspflichtig, noch ist er - soweit ersichtlich - freiwilliges Mitglied einer Krankenversicherung (nach § 9 SGB V) oder über § 10 SGB V familienversichert, § 5 Abs. 8 a Satz 1 SGB V. Nach § 5 Abs. 8 a Satz 2 SGB V gilt der Ausschluss der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V entsprechend für Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des Zwölften Buches und für Empfänger laufender Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Hierunter fällt der Antragsteller aber nicht, weil er keine laufenden Leistungen nach den genannten Kapiteln erhält, sondern lediglich Leistungen nach dem Fünften Kapitel des Zwölften Buches (bzw. diese geltend macht). Insbesondere wird auch das in § 264 SGB V geregelte Betreuungsverhältnis nicht als Ausschlusstatbestand in § 5 Abs. 8 a SGB V genannt. Dürfte damit in der Tat ab 01.04.2007 wohl eine gesetzliche Krankenversicherungspflicht des Antragstellers eingetreten sein, so bestimmt sich die für die Durchführung der Versicherung zuständige Krankenkasse nach Maßgabe des ebenfalls mit Wirkung ab dem 01.04.2007 neu eingefügten § 174 Abs. 5 SGB V. Danach werden abweichend von § 173 SGB V Versicherungspflichtige nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V Mitglied der Krankenkasse oder des Rechtsnachfolgers der Krankenkasse, bei der sie zuletzt versichert waren, andernfalls werden sie Mitglied der von Ihnen nach § 173 Abs. 1 SGB V gewählten Krankenkasse; im Übrigen gilt § 173 SGB V. Da vieles dafür spricht, dass der Antragsteller zuletzt nicht versichert war, dürfte vorliegend in erster Linie die Beigeladene als " gewählte" Krankenkasse in Betracht kommen, wenn das bisherige Verhalten des Antragstellers als die Ausübung eines entsprechenden Wahlrechts angesehen werden könnte (etwas unklar, da ersieh auch an die D. KrankenversicherungsAG gewandt hat). Die danach für die Durchführung der - gesetzlichen - Krankenversicherung des Antragstellers ab 01.04.2007 aller Wahrscheinlichkeit nach zuständige AOK (B.) hat dies aber verweigert (zumindest die eigene Zuständigkeit nicht bejaht). Es kann allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller irgendwann in der Vergangenheit "zuletzt" Mitglied einer (anderen) Krankenkasse war mit der Folge, dass dann die Beigeladene in der Tat nicht zuständig wäre, sondern eben diese andere Krankenkasse. Dem Antragsteller ist aber nicht zuzumuten, das Ergebnis des Widerspruchsverfahrens abzuwarten, in dem die Zuständigkeit für die Durchführung der gesetzlichen Krankenversicherung endgültig geklärt wird, zumal er glaubhaft gemacht hat, dass weitere Kosten in absehbarer Zeit aufgrund seiner zahlreichen Krankheiten anfallen. Bis zur Klärung der Zuständigkeitsfrage muss vielmehr eine vorläufige Regelung getroffen werden. Diese Regelung folgt dabei auch der gesetzlichen Regelung des § 43 Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Diese Vorschrift lautet: "Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann der unter Ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Er hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablaufeines Kalendermonats nach Eingang des Antrags." Dass der Antragsteller Anspruch auf Leistungen zur Hilfe bei Krankheit hat, ist unstreitig; streitig ist lediglich die Form der Leistungsgewährung und der zuständige Leistungsträger. Als erstangegangene Behörde ist dabei vorliegend die Antragsgegnerin anzusehen, da sie mit ihrem Bescheiden vom 02. April und 06. Juni 2007 den Zuständigkeitsstreit (wenn im Ergebnis wohl durchaus berechtigterweise) ausgelöst hat. Sie ist auch die bewusst vom Antragsteller als Antragsgegner gewählte Behörde. Es bestünde, wie oben im Rahmen der Interessensabwägung zu § 86 b Abs. 1 SGG angesprochen, auch ein Anordnungsgrund; der Krankenschutz des 1938 geborenen Antragstellers muss sofort gesichert sein. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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