S 20 AL 131/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 AL 131/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 31.07;2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.2002 verurteilt, den Bescheid vom 06.02.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2001 abzuändern und der Klägerin Arbeitslosengeld für die Dauer von 22 Monaten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld.

Die am 21.01.1954 geborene Klägerin war vom 16.05.1978 bis 31.12.2000 beschäftigt gewesen und hatte sich am 27.12.2000 bei der Beklagten gemeldet. Den Leistungsantrag gab sie am 25.01.2001 ab.

Mit Bescheid vom 06.02.2001 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem 01.01.2001 für 18 Monate.

Dagegen wandte sich die Klägerin mit Widerspruch vom 26.02.2001. Sie habe am 18.01.2001 ihre Unterlagen bei der Beklagten eingereicht. Bei dieser Gelegenheit habe sie die Sachbearbeiterin gefragt, ob sie nicht besser erst am Montag, den 22.01.2001, kommen könnte, da sie dann schon 47 Jahre alt sei und Anspruch auf 22 Monate Arbeitslosengeld hätte. Sie habe die Auskunft erhalten, dass es keine Rolle spiele. Es handele sich ja nur um einige Tage. lm Übrigen würde sich die Bearbeitung noch etwas hinziehen. Nun habe sie zu ihrer Enttäuschung feststellen müssen, dass ihr nur 18 Monate bewilligt worden seien. Man habe ihr eine falsche Auskunft erteilt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.04.2001 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld richte sich gern. § 127 Abs. 1 SGB III nach dem Lebensalter, das der Arbeitslose bei Entstehung des Leistungsanspruchs vollendet habe und der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der um 4 Jahre erweiterten Rahmenfrist. Diese Rahmenfrist beginne mit dem Tag vor der Erfüllung einer sonstigen Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Die. Rahmenfrist ende am 31.12.2000. Zu diesem Zeitpunkt der Entstehung des Leistungsanspruchs sei die Klägerin 46 Jahre alt gewesen. Damit betrage die Anspruchsdauer 18 Monate. Die Klägerin könne sich auch nicht auf einen Beratungsfehler der Beklagten berufen. Eine Vorsprache am 18.01.2001 habe nicht festgestellt werden können.

Am 26.07.2002 beantragte die Klägerin die Überprüfung der Dauer des Anspruchs. Ihr Anspruch betrüge 22 Monate. Insofern sei sie durch die Beklagte falsch beraten worden. Einige Tage vor ihrem 47. Geburtstag sei sie bei der Beklagten gewesen, um sich arbeitslos zu melden. Es sei ihr zugesichert worden, dass das Arbeitslosengeld 22 Monate betragen werde, da sie in einigen Tagen 47 Jahre alt werden würde.

Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 31.07.2002 ab, der Klägerin eine höhere Anspruchsdauer zu bewilligen. Sie verwies auf den bestandskräftigen Bescheid. Eine Falschberatung könne nicht festgestellt werden. Auch eine schriftliche Zusicherung für eine Anspruchsdauer von 22 Monaten läge nicht vor.

Dagegen wandte sich die Klägerin mit Widerspruch vom 08.08.2002. Als die Klägerin den Antrag auf Arbeitslosengeld abgeholt habe, habe sie die Sachbearbeiterin darauf aufmerksam gemacht, dass sie in einigen Tagen 47 Jahre alt werden würde. Man habe ihr erklärt, dies spiele keine Rolle, weil der Antrag auf Arbeitslosengeld erst später eingereicht werden würde. Zu dem Zeitpunkt sei die Klägerin schon 47 Jahre alt. Sie habe dann den Antrag am 25.01.2001 mit den Arbeitgeberunterlagen wieder abgegeben. Dabei habe man ihr zugesagt, dass ihr Anspruch 22 Monate betrage.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.08.2002 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Beklagte habe bei Erlass des Bescheides vom 06.02.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2001 das Recht nicht unrichtig angewandt. Sie sei auch nicht von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich im nachhinein als unrichtig erwiesen habe. Insofern verwies sie auf die Ausführungen des bestandskräftigen Bescheides.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit der am 20.09.2002 erhobenen Klage. Als sie die Kündigung erhalten habe, habe sie beabsichtigt, sich arbeitslos zu melden. Deshalb sei sie Ende Dezember 2000 lm Beisein ihres Ehemannes zum Arbeitsamt gegangen, um sich die entsprechenden Formulare zu holen. Schon bei diesem ersten Besuch habe sie den Sachbearbeiter gefragt, ob es für sie nicht günstiger sei, den Antrag erst nach dem 21.01.2001 zu stellen, da sie am 21.01.2001 47 Jahre alt würde. Sie hätte gelesen, dass ihr dann ein Arbeitslosengeld von 22 Monaten zustehen würde, Der Sachbearbeiter habe ihr dann er klärt, darauf komme es nicht an. Wenn die Unterlagen vollständig seien, habe sie ihren 47, Geburtstag schon erreicht. Damit müssten ihr dann 22 Monate Arbeitslosengeld zustehen. Tatsächlich habe die Klägerin dann den Antrag am 25.01.2001 abgegeben. Auch bei diesem Gespräch sei ihr Ehemann dabei gewesen. Man habe ihr bei dieser Gelegenheit versichert, dass ihr daraus keine Nachteile entstehen würden. Insofern sei sie zweimal durch die Beklagte falsch beraten worden. Im Übrigen hätte auch dann schon eine falsche Beratung durch die Beklagte vorgelegen, wenn die Klägerin von sich aus nicht die Beratung besucht hätte. Denn auch ohne Nachfrage hätte es für die Beklagte nahegelegen, sie auf diese Gestaltungsmöglichkeit hinzuweisen. Insofern verweist die Klägerin auf verschiedene sozialgerichtliche Urteile (BSG 05.08.1999 Az.: B 7 AL 15/98 R; LSG Rheinland-Pfalz. 22.11.2001 Az.: L 1 AL 74/01; SG Dortmund 06.12.2001 Az.: S 5 AL 202/02).

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.07.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.08.2002 zu verurteilen, den Bescheid vom 06.02.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2001 abzuändern und der Klägerin Arbeitslosengeld für die Dauer von 22 Monaten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist im Wesentlichen auf ihr bisheriges Vorbringen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin ist beschwert lm Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig. Die Klägerin kann von der Beklagten die Abänderung des Bescheides vom 06.02.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2001 dahingehend verlangen, dass ihr ein Arbeitslosengeldanspruch von 22 Monaten zusteht.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X-).

Die Beklagte hatte bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 06.02.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2001 das Recht unrichtig an gewandt. Sie hat der Klägerin lediglich ein Arbeitslosengeldanspruch von 18 Monaten bewilligt, obwohl der Klägerin ein Anspruch auf 22 Monate Arbeitslosengeld zustand.

Gemäß § 127 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) richtet sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld nach der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der um vier Jahre erweiterten Rahmenfrist und dem Lebensalter, das der Arbeitslose bei der Entstehung des Anspruchs vollendet hat.

Gemäß § 117 Abs. 1 SGB III haben Anspruch auf Arbeitslosengeld Arbeitnehmer, die 1. arbeitslos sind, 2. sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und 3. die Anwartschaftszeit erfüllt haben.

Der Anspruch auf Arbeitslosengeld entsteht somit, wenn alle Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.

Insofern stellt die Beklagte für die Berechnung der Rahmenfrist auf den 01.01.2001 ab, da sich die Klägerin bereits Ende Dezember 2000 arbeitslos gemeldet hat, die Anwartschaftszeit erfüllt hat und seit dem 01.01.2001 arbeitslos ist. Zu diesem Zeitpunkt sei die Klägerin noch nicht 47 Jahre alt gewesen, so dass sie, gemessen an ihrer Beschäftigungsdauer und ihrem Alter, gemäß § 127 Abs. 2 SGB III einen Anspruch von 18 Monaten erworben habe. Der Anspruch auf 22 Monate Arbeitslosengeld stünde ihr nicht zu, da sie erst am 21.01.2001 47 Jahre alt geworden sei.

Dem ist zwar grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings beruht die Arbeitslosmeldung vor Vollendung des 47. Lebensjahres auf einer Falschberatung durch die Beklagte.

Nach ständiger sozialgerichtlicher Rechtsprechung kann die Verletzung von. Nebenpflichten, die dem Versicherungsträger gegenüber dem Versicherten aus dem Sozialrechtsverhältnis obliegen, für den Versicherten einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen. Zu diesen Nebenpflichten gehört ins besondere die Beratungspflicht gemäß § 14 SGB 1. Diese hat die Beklagte verletzt, wobei es offen bleiben kann, ob die Klä9erin tatsächlich mit den Sachbearbeitern über diese Frage ausdrücklich gesprochen hat, was die Beklagte bestreitet. Denn auch wenn die Klägerin nicht konkret um eine Beratung bei der Beklagten nachgesucht hätte, wäre diese von sich aus verpflichtet gewesen, die Klägerin auf die Möglichkeit eines weiteren Aufschubs ihres Arbeitslosengeldantrages und auf eine spätere Arbeitslosmeldung hinzuweisen (vgl. BSG 03.08.1999 Az.: B 7 AL 38/98 R). Denn die Beklagte ist auch von Amts wegen gehalten, Leistungsempfänger bei Vorliegen eines konkreten Anlasses von sich aus "spontan" auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, dass sie ein verständiger Versicherter mutmaßlich nutzen würde. Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit zu Tage liegt, allein nach den objektiven Merkmalen zu beurteilen (BSG aaO).

Diese Umstände lagen hier vor. Als die Klägerin erstmals am 27, 12.2000 bei der Beklagten vorsprach, hatte sie ihre persönlichen Daten abgegeben. Für den Antragsannehmer stand somit fest, dass die Klägerin 22 Jahre lückenlos gearbeitet hatte und am 21.01.1954 geboren war. Somit lag gleichzeitig auf der Hand, dass die Klägerin bei Arbeitslosmeldung und Antragstellung am 21.01.2001 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld von 22 Monaten hatte, während ihr bei einer Arbeitslosmeldung und Antragstellung vor dem 21.01.2001 nur ein solcher Anspruch für 18 Monate zustand. Diese Gestaltungsmöglichkeit hätte die Klägerin ergriffen, wie sie dem Gericht glaubhaft dargelegt hat. Das wird auch bestätigt dadurch, dass die Klägerin bereits am 26.02.2001, als sie den Bescheid erhielt, den Bescheid hinsichtlich der Dauer widersprochen hat und schon zum damaligen frühen Zeitpunkt klargemacht hat, dass sie sich entsprechend verhalten wollte.

Die Beklagte hat die Klägerin daher im Wege des sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruch so zu stellen, als habe sie sich erst nach Vollendung des 47. Lebensjahres arbeitslos gemeldet.

Zwar war die Klägerin am 21.01.2001 arbeitsunfähig. Allerdings hat sie sich nach Ende der Arbeitsunfähigkeit am 29.03.2001 bei der Beklagten erneut gemeldet. Insofern steht eine Leistungsgewährung ab diesem Zeitpunkt für die Dauer von 22 Monaten nichts entgegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Zweigertstraße 54, 45130 Essen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem

Sozialgericht Gelsenkirchen, Ahstraße 22, 45879 Gelsenkirchen,

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.

Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.
Rechtskraft
Aus
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