L 2 U 38/02

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 7 U 382/97
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 38/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 07. Februar 2002 wird zurückgewiesen. II. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. zu gewähren hat.

Der Kläger erlitt am 11.07.1989 als Beifahrer in einem Pkw auf dem Weg zur Arbeit einen Verkehrsunfall. Der Pkw geriet bei einer Geschwindigkeit von mehr als 60 km/h ins Schleudern und prallte gegen einen Baum. Bei der ersten ärztlichen Untersuchung nach dem Unfall wurden eine Verletzung des rechten Sprunggelenkes, ein stumpfes Bauchtrauma, eine Kontusion der Lendenwirbelsäule (LWS) und des Steißbeines und eine Kinnplatzwunde, ferner diverse Schürfungen festgestellt.

Der Verkehrsunfall wurde von der Staatlichen Versicherung der DDR noch im Jahre 1989 als Arbeitsunfall anerkannt.

In einem ärztlichen Gutachten vom 31.07.1989 nach der stationären Behandlung, die bis zum 28.07.1989 angedauert hatte, ist u.a. ein Zustand nach stumpfem Bauchtrauma mit nachfolgenden Blasenentleerungsstörungen, ferner ein Zustand nach LWS- und Steißbeinprellungen mit anhaltenden Restbeschwerden aufgeführt. In einem weiteren Gutachten vom 11.06.1990 werden als Beschwerden Rückenbeschwerden nach langem Sitzen und ca. halbstündigem Stehen beschrieben, ferner werden Miktions- und Potenzstörungen aufgeführt. Eine Untersuchung im Bezirkskrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie A ... am 18.07.1991 ergab u.a. Sensibilitätsstörungen im Bereich S4 bis S5 links; die vorübergehend bestandene Impotenz und Beeinträchtigung der Blasenfunktion seien jetzt unauffällig. In einem Arztbrief vom 08.12.1995 ist weiter vermerkt, dass die Taubheit in der linken Gesäßseite weiterbestehe. Primär akute Blasenstörungen sind in einem weiteren Arztbrief, dieser vom 18.01.1996, erwähnt.

Am 26.11.1996 erstatteten Prof. Dr. D1 ... und der Facharzt für Orthopädie Dipl.-Med. S1 ... ein Gutachten für die Beklagte. Der Kläger habe ein Instabilitätsgefühl mit lumbalen Schmerzen im Bereich der LWS beschrieben und es bestünden Taubheitsgefühle perianal mit Störungen des Wasserlassens seit dem Unfall, ferner Taubheitsgefühle im Bereich des linken Oberschenkels besonders bei langem Sitzen bzw. Stehen. Die Gehstrecke sei aufgrund des rechten Fußes deutlich limitiert. Der Kläger müsse hohes Schuhwerk tragen, um seiner Tätigkeit nachgehen zu können. Infolge des Unfalles bestehe eine den Kläger in seiner jetzigen Tätigkeit deutlich einschränkende Instabilität des rechten Sprunggelenkes mit witterungsabhängigen Schmerzen und klinisch massiver Überbeweglichkeit sowie Aufklappbarkeit des oberen fibularen Sprunggelenksanteiles. Es sei nahezu keine fibulare Bandstruktur mehr tastbar. Das linke Sprunggelenk sei altersentsprechend und beschwerdefrei. Röntgenologisch zeigten sich keine wesentlichen Frakturfolgen der LWS. Es bestehe eine Spondylolisthesis (Wirbelgleiten Grad I nach MEYERDING), die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als vorbestehende, angeborene Erkrankung gesehen werden müsse. Die Kaudasymptomatik mit Störung des Wasserlassens und Gefühlsstörung im Analbereich sowie die rezidivierenden lokalen pseudoradikulären Beschwerden seien durch diese vorbestehende Erkrankung zu erklären. Deshalb werde empfohlen, lediglich die Verletzung des Sprunggelenkes als Unfallfolge mit einem Dauerschaden nach einer MdE von 10 v.H. anzuerkennen. Als Unfallfolge seien die Arthrose des rechten oberen Sprunggelenkes mit freiem Gelenkkörper sowie Instabilität zu nennen. Mit einer wesentlichen Änderung der Unfallfolgen in naher Zeit sei nicht zu rechnen. Lediglich eine deutliche voranschreitende schwere Arthrose des Sprunggelenkes rechts könne im Sinne einer Spätfolge zu einer deutlichen Veränderung der MdE führen, sei jedoch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Mit Bescheid vom 10.12.1996 lehnte die Beklagte daraufhin die Gewährung einer Verletztenrente ab. Als Folge des Arbeitsunfalles vom 11.07.1989 wurden geringgradige Bewegungseinschränkungen und Instabilität im rechten Sprunggelenk sowie röntgenologisch nachweisbare Veränderungen nach Bruch des Sprunggelenkes anerkannt. Als Unfallfolgen nicht anerkannt wurden deutliche röntgenologisch nachweisbare anlagebedingte Veränderungen, insbesondere im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) und LWS mit Störungen beim Wasserlassen, lumbalem, lokalem bis pseudoradikulärem Schmerzsyndrom und Gefühlsstörungen im Bein.

Der Kläger legte Widerspruch gegen den Bescheid ein und wies u.a. auf Beschwerden beim Wasserlassen und auf Gefühlsstörungen im Analbereich hin. Dem Widerspruchsschreiben beigefügt war ein Befundbericht nach einem MRT vom 29.09.1992, in dem deutliche Zeichen eines von rechts lateral leicht eingeengtem Rückenkanals durch knöcherne Verletzung der Lamina rechts in Höhe S1 beschrieben werden. Die Beklagte gab daraufhin bei Dr. T1 .../Dr. S2 ... ein weiteres Gutachten in Auftrag, das am 03.07.1997 nach einer Untersuchung des Klägers erstellt wurde. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass eine strukturelle Verletzung der LWS nicht belegt werden könne, so dass kein ursächlicher Zusammenhang mit den geklagten Beschwerden bestehe. Vielmehr handele es sich zweifelsfrei um eine lumbosacrale Aufbaustörung, die durch den Unfall nicht verschlimmert worden sei. Als Unfallfolge sei nur eine reizlose Narbe am Kinn verblieben, während am rechten Sprunggelenk keine relevanten objektiven Unfallfolgen mehr festgestellt werden könnten. Die unfallbedingte MdE sei daher nicht messbar bzw. mit deutlich unter 10 v.H. zu beziffern.

Ferner wurde von Dr. W1 ... am 10.07.1997 nach einer Untersuchung ein nervenfachärztliches Gutachten erstellt. Der Kläger beschrieb auch gegenüber diesem Gutachter, dass er seit dem Unfall Schwierigkeiten mit Blase und Darm habe, ferner Taubheitsgefühle am Darm und um den After, anfangs auch linksseitig an der Innenseite des Oberschenkels bis zum Knie. Hinsichtlich der Schwierigkeiten mit der Blase gab der Kläger an, dass die Entleerung nicht mehr so kräftig wie früher sei, insbesondere der Strahl nicht. Er habe Schwierigkeiten mit dem Stuhl, wenn er Durchfall habe, könne er ihn nicht halten. Mit der Potenz sei es auch nicht mehr so gut, es sei etwas mühsam und er brauche mehr Zeit. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass die bestehende Symptomatik und das Bescherdebild einem Konussyndrom entsprächen. Es liege eine Schädigung des Rückenmarkendes in Höhe des ersten Lendenwirbelkörpers vor. Die Störung der Blasenentleerung, die Schwierigkeiten, den Stuhlgang zu halten und auch die Beeinträchtigung der Sexualfunktion seien hierfür relativ typisch. Ebenso typisch seien die Empfindungsstörungen. Diese Schädigung des Konus könne nur eintreten, wenn eine entprechende mechanische Beeinträchtigung der LWS vorgelegen habe, die in der Lage gewesen sei, das Rückenmarkende zu beeinflussen. Dann bestehe allerdings auch zu Anfang die Symptomatik einer Querschnittsläsion zu Anfang, die in dieser Form nicht beschrieben worden sei und auch nach der Schilderung des Klägers nicht vorgelegen habe. Er - der Gutachter - könne einen Unfallzusammenhang nicht bestätigen, weil, wie schon ausgeführt, eine traumatische Beeinträchtigung des Rückenmarkendes am Anfang zu schwerwiegenden Symptomen führe, die allmählich abklängen und besser würden. Wesentliche Unfallfolgen vonseiten seines Fachgebietes lägen somit nicht vor.

Daraufhin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.11.1997 der Widerspruch zurückgewiesen. Am 18.12.1997 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Dresden (SG) erhoben.

Das SG hat im Rahmen seiner umfangreichen Ermittlungen ein Gutachten bei dem Facharzt für Urologie Dr. E1 ... vom 13.09.1999 eingeholt, in dem zunächst ausgeführt wird, dass der Kläger ein seit dem Unfall deutlich verändertes Füllungsempfinden der Blase beschrieben habe, die Blasenfüllung werde nur noch im Sinne eines unspezifischen Druckempfindens im Unterbauch registriert. Die Zeit vom ersten unspezifischen Füllungsempfinden bis zum ersten Drang sei deutlich verkürzt. Zur Miktionseinleitung sei weiterhin der Einsatz der Bauchpresse notwendig. Ferner habe der Kläger Startschwierigkeiten in der Entwicklung der Gliedsteife beklagt; eine Gliedsteife sei nur unter massiver sexueller Stimulanz mit hinreichender Stärke zu erzielen. Kongruent zu diesen Beschwerden sei hinsichtlich der neuro-urologischen Komplexdiagnostik eine Schädigung der viscero-motorischen Achse beschrieben worden. Die Befundkonstellation sei eine typische Folge für Verletzungen im Lendenwirbelbereich. Die neurogene Blasenstörung, areflexive Blase bei kompletter Läsion der viscero-motorischen Achse und Erektionsstörung stünden in Zusammenhang mit dem Unfallereignis. Die MdE vonseiten des urologischen Fachgebietes werde mit 30 v.H. festgesetzt.

Ein weiteres Gutachten ist von dem Facharzt für Orthopädie und Chirurgie/Unfallchirurgie, Dr. P1 ... am 13.01.2000 erstellt worden. Der Gutachter hat ausgeführt, dass eine in Fehlstellung verheilte Fraktur des Kreuzbeines mit Störungen der dort austretenden Rückenmarknerven bestehe. Die Gesundheitsstörungen seien die unmittelbare Folge des Ereignisses vom 11.07.1989. Unfallunabhängige Kausalfaktoren hätten nicht festgestellt werden können. Die Gesamt-MdE sei mit 35 v.H. zu beziffern.

Hierzu ist von Dr. T1 .../Dr. S2 ... am 14.03.2000 eine gutachtliche Beurteilung nach Aktenlage vorgelegt worden, in der die Gutachter nochmals darauf hingewiesen haben, dass es sich ihrer Ansicht nach beim Kläger um eine ungewöhnlich deutlich ausgeprägte lumbosakrale Aufbaustörung und Formvariante des Kreuzbeines handele, deren Folgen auch durch den Unfall nicht hätten verschlimmert werden können.

Prof. Dr. D1 ... hat in einer Stellungnahme vom 22.05.2000 ausgeführt, dass im Bereich S1/S2 eine stumpfwinklige Abknik-kung zwischen S1 und S2 mit inkomplettem Zwischenwirbelraum vorhanden sei. Insgesamt liege eine sehr komplexe Fehlbildung am lumbosacralen Übergang vor. Dass die Fehlform bei S1/S2 mit Einengung des Wirbelkanales unfallbedingt sei, könne auch durch das MRT vom 16.08.1999 nicht nachgewiesen werden. Das Krankheitsbild des Klägers könne auch durch eine fehlbildungsbedingte Formvariante hervorgerufen werden. Aufgrund unfallchirurgischer Erfahrungen halte er eine unfallbedingte Verursachung der Deformation im Bereich S1/S2 nicht für möglich.

Dr. P1 ... hat die Ausführungen von Dr. S2 ... und Prof. Dr. D1 ... in einer Stellungnahme vom 24.08.2000 nicht für überzeugend gehalten. An der Einschätzung, dass die Deformität im Bereich S1/S2 und die hiermit zusammenhängenden Beschwerden unfallbedingt entstanden seien, sei festzuhalten, da ein Unfallereignis mit geeigneter Gewalteinwirkung und eindeutige Brückensymptome vorlägen. Die Annahme einer anlagebedingten Missbildung beruhe hingegen auf allgemeinen Erfahrungssätzen, die den Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht gerecht würden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der als Sachverständige befragte Facharzt für Urologie Dr. E1 ... ausgeführt, dass eine Läsion der viscero-motorischen Achse auch anlagebedingt möglich sei. Im vorliegenden Fall spreche für einen Unfallzusammenhang eindeutig der Zeitablauf. Vor dem Unfall seien überhaupt keine Miktions- oder Erektionsbeschwerden dokumentiert, nach dem Unfall jedoch durchgängig bis heute. Die urologische Diagnostik bis zu seiner Untersuchung im Jahre 1999 sei völlig insuffizient gewesen, da keine neuro-urologische Komplettdiagnostik durchgeführt worden sei. Unter der visceromotorischen Achse verstehe man die Nervenverbindung zur Steuerung der Blase. Um diese Nervenstränge zu schädigen, sei eine Fraktur im Bereich der Wirbelsäule überhaupt nicht erforderlich, eine kurzfristige Verschiebung der Wirbelkörper zueinander reiche aus, um eine solche Läsion zu verursachen. Wegen der Läsion der viscero-motorischen Achse könne der Kläger seinen Blasenschließmuskel nicht mehr willentlich steuern. Auch die Erektionsbeschwerden seien durch die Läsion der Achse bedingt. Angeborene Schädigungen der viscero-motorischen Achse machten sich in der Regel im Kleinkindalter bemerkbar, wenn die Blasenfunktion willentlich beherrscht werden könne. Er habe noch nie einen Fall gesehen, bei der eine anlagebedingte Anomalie im lumbosacralen Übergangsbereich einfach so und ohne wesentliches Trauma zu einer Läsion der viscero-motorischen Achse geführt habe. So etwas sei höchstens schleichend möglich, nicht aber so akut wie im vorliegenden Fall. So sei in der Akte dokumentiert, dass der Kläger nach dem Unfall ein paar Tage inkontinent gewesen sei.

Das SG hat mit Urteil ebenfalls vom 07.02.2002 die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. ab 01.01.1996 verurteilt und zur Begründung u.a. ausgeführt, dass das Gericht außer der bereits mit Bescheid vom 10.10.1996 als Unfallfolge anerkannten Funktionsbeeinträchtigung des rechten Sprunggelenkes auch eine neurogene Blasenstörung, eine Beeinträchtigung der Gliedsteife und eine Schädigung der LWS mit geringgradigen funktionellen Auswirkungen als Folge des Arbeitsunfalles vom 11.07.1989 ansehe. Der Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne sei schon aufgrund des zeitlichen Zusammenhanges offensichtlich. Es lasse sich nicht plausibel begründen, dass die Rücken-, Miktions- und Erektionsbeschwerden auch ohne den streitgegenständlichen Arbeitsunfall zum etwa gleichen Zeitpunkt in etwa gleicher Ausprägung aufgetreten wären. Anlagebedingte Faktoren könnten nur dann in die Kausalitätsprüfung einbezogen werden, wenn sie im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen seien. Insofern stehe zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Arbeitsunfalles eine komplexe Fehlbildung am lumbosakralen Übergang vorgelegen habe. Es könne unterstellt werden, dass diese Fehlbildung die Miktions-, Erektions- und Rückenbeschwerden des Klägers mitverursacht habe, da auch bei dieser für den Kläger ungünstigen Annahme der streitgegenständliche Arbeitsunfall als rechtlich allein wesentliche Ursache der Beschwerden des Klägers anzuerkennen sei. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerden des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch ohne das streitgegenständliche Unfallereignis durch beliebig austauschbare Einwirkungen des unversicherten Alltagslebens zu annähernd gleicher Zeit und mit annähernd gleicher Schwere aufgetreten wären. Auch den im Übrigen beigezogenen medizinischen Unterlagen lasse sich nicht entnehmen, dass beim Kläger bereits vor dem Unfall eine entsprechend gravierende Schadensanlage vorgelegen habe. Hinweise auf eine erhöhte Schädigungsanfälligkeit der viscero-motorischen Achse fehlten völlig. Aufgrund der Unfallfolgen sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers um 20 v.H. gemindert. Die Beschwerden im Bereich des rechten Fußes seien mit einer MdE von unter 10 v.H. zu bewerten. Hinsichtlich der Funktionsstörungen der Wirbelsäule werde zur Begründung der MdE ergänzend auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit abgestellt. Zwar entfalteten diese im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung keine unmittelbare Wirkung. Jedoch bestünden nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich weder rechtlich noch medizinisch fundierte Unterschiede zwischen der MdE-Bemessung im Unfallversicherungs- und im Schwerbehindertenrecht. Insgesamt betrachtet seien die funktionellen Auswirkungen der LWS-Schädigung als geringgradig einzustufen und mit einer MdE von höchstens 10 v.H. zu bewerten. Auch die Miktionsbeschwerden rechtfertigten keine MdE von mindestens 10 v.H. Jedoch müssten die unfallbedingten Erektionsbeschwerden eine MdE von 20 v.H bewertet werden. Für den vollständigen Verlust des Penis halte das Gericht eine MdE von 40 bis 50 v.H. für angemessen. Die Beischlafunfähigkeit sowie der vollständige Ausfall der Gliedsteife seien etwas niedriger und damit mit einer MdE von 30 bis 40 v.H. zu bewerten. Da bei einer Schwäche der Gliedsteife die Beischlaffähigkeit grundsätzlich noch gegeben sei, sei die MdE abhängig von der Einschränkung beim Beischlaf mit 10 bis 25 v.H. angemessen bewertet. Aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers sei dieser in seinem Sexualleben jedoch erheblich eingeschränkt, so dass das Gericht in Übereinstimmung mit Dr. E1 ... für die Erektionsbeschwerden und die damit verbundenen Einschränkungen des Sexuallebens eine MdE von 20 v.H. als gerechtfertigt ansehe. Die Gesamt-MdE sei angesichts der nur leichteren Beeinträchtigungen im Übrigen ebenfalls mit 20 v.H. zu bewerten.

Gegen das ihr am 04.04.2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 12.04.2002 Berufung eingelegt und zur Begründung zunächst darauf hingewiesen, dass das Unfallereignis und die durch den Unfall verursachten Gesundheitsstörungen in vollem Umfang und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein müssten. Es könne nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Kläger eine Kompressionsfraktur im Bereich S1/S2 erlitten habe, auch stehe nicht fest, ob eine kurzfristige Verschiebung der Wirbelkörper zu einer Schädigung der viscero-motorischen Achse geführt habe. Auch könne das Krankheitsbild des Klägers durch eine allgemeine körperliche Erkrankung auch psychischer Art hervorgerufen werden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30.01.2004 hat der Kläger ausgeführt, dass die Miktionsbeschwerden seit dem Unfall unverändert fortbestünden. Er habe kein Gefühl für die Füllung der Blase und sei ständig gezwungen, darauf Rücksicht zu nehmen. Hierin liege eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung für ihn. Die einigermaßen schmerzfreie Gehstrecke betrage ca. 2 km. Die dann auftretenden starken Schmerzen gingen hauptsächlich von der LWS aus. Das rechte Sprunggelenk schmerze nur gelegentlich, er könne aber nicht wandern und wenn er nicht Acht gebe, knicke er sehr stark um. Bei der beruflichen Tätigkeit müsse er deshalb feste und knöchelhohe Schuhe tragen. Hinsichtlich seiner Erektionsprobleme sei es so, das er versucht habe, einen Psychologen zu finden, mit dem er habe reden können. Er habe aber niemanden gefunden, zu dem er das erforderliche Vertrauensverhältnis habe aufbauen können.

Die Beteiligten haben sich mit Schreiben vom 27.05.2003 und 04.06.2003 mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin entscheiden, da die hierfür gemäß § 155 Abs. 4, 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderlichen Einverständniserklärungen vorliegen.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht zur Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. ab 01.01.1996 verurteilt.

Hinsichtlich des Vorliegens von Unfallfolgen - neurogene Blasenstörung, Beeinträchtigung der Gliedsteife und Schädigung der LWS mit leichteren funktionellen Auswirkungen - wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Gründe der Entscheidung des SG verwiesen, denen sich das Gericht nach eigener Prüfung insoweit anschließt. Auch zur Überzeugung des Berufungsgerichtes steht angesichts der für eine Schädigung der visceromotorischen Achse typischen Beschwerden, die vor dem Unfallereignis nicht vorhanden waren, fest, dass die visceromotorische Achse des Klägers am 11.07.1989 mit den bereits genannten Folgen geschädigt wurde. Aus dem Vorbringen der Beklagten ergibt sich insbesondere angesichts des engen zeitlichen Zusammenhanges zwischen Unfallereignis und Eintritt der Beschwerden nichts anderes. Hinweise darauf, dass die Beschwerden des Klägers auf sonstige Erkrankungen -z. B. im psychischen Bereich - beruhen könnten, sind nicht vorhanden.

Hinsichtlich der der Bemessung der MdE zugrunde liegenden Normen wird ebenfalls gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidung des SG verwiesen. Hinsichtlich der Schätzung der Gesamt-MdE ist zwar mit dem SG von einer MdE von 20 v.H. auszugehen. Jedoch kann sich das Gericht den Ausführungen des SG nicht anschließen, soweit dieses für die Erektionsprobleme eine MdE von 20 v.H. als angemessen betrachtet, für die Sprungsgelenksbeschwerden und die Miktionsbeschwerden jedoch nur eine MdE von jweils unter 10 v. H. und für die LWS-Beschwerden eine MdE von allenfalls 10 v.H. für angemessen hält.

Vielmehr ist nach Auffassung des Berufungsgerichtes hinsichtlich der Funktionseinschränkungen bzw. Beschwerden im rechten Sprunggelenk und der LWS, die bezüglich des Gehvermögens eine Funktionseinheit bilden, von einer MdE von 10 v.H. auszugehen. Insoweit hat das Gericht auch berücksichtigt, dass Prof. Dr. D1 ... schon in seinem im November 1996 erstellten Gutachten allein für die Funktionsstörungen im Bereich des rechten Sprunggelenkes von einer MdE von 10 v.H. auf Dauer ausging.

Die beim Kläger vorhandenen Miktionsbeschwerden rechtfertigen ebenfalls eine MdE von jedenfalls 10 v.H. Nach den MdE-Erfahrungswerten bedingt eine Blasenschwäche leichten Grades eine MdE von 10 bis 20 v.H., eine Blasenschwäche schweren Grades eine MdE von 20 bis 40 v.H.(Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung; Stand August 2002, Anhang 12 J 020). Da der Kläger seit dem Unfallereignis unter einem mangelndem Gefühl für die Füllung der Blase leidet und zudem Wasserlassen nur unter Einsatz der Bauchpresse möglich ist, erscheint eine MdE von 10 v.H. angemessen. Hinsichtlich der Erektionsprobleme des Klägers ist die MdE mit 10 v.H. ebenfalls angemessen bewertet. Nach den MdE-Erfahrungswerten (a.a.O.) bedingt eine Schwäche der Gliedsteife eine MdE von 10 bis 20 v. H. Da der Kläger in seinem Sexualleben nach seinen Angaben zwar beeinträchtigt ist, jedoch eine Beischlafunfähigkeit (die eine MdE von 20 bis 40 v.H. bedingen würde) nicht vorliegt, kann die Einzel-MdE für die Erektionsschwäche lediglich mit 10 v.H. bewertet werden.

Zur Überzeugung des Gerichtes steht fest, dass die Funktionsstörungen insgesamt eine MdE von 20 v.H. bedingen. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass in der Regel eine Einzel-MdE von 10 v.H. bei der Bemessung der Gesamt-MdE nicht berücksichtigt wird. Doch hält das Gericht im Rahmen einer Gesamtschau die MdE mit 20 v.H. angesichts der insgesamt doch erheblichen Beeinträchtigung des Klägers durch die Unfallfolgen für angemessen bewertet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG). -
Rechtskraft
Aus
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