L 13 SB 233/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 32 SB 101/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 233/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg

verkündet am: 26. September 2019
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 1. August 2018 aufgehoben sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 23. Februar 2016 in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2016 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 9. Dezember 2015 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).

Der Beklagte hatte bei der 1955 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 13. Novem-ber 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juni 2008 einen GdB von 40 festgestellt. Hierbei hatte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen (Einzel-GdB von 30), 2. Depression, psychosomatische Störungen (Einzel-GdB von 20), 3. chronische venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden) beider Beine (Einzel-GdB von 10), 4. Funktionsminderung beider Kniegelenke (Einzel-GdB von 10), 5. Carpaltunnelsyndrom beidseits (Einzel-GdB von 10).

Der Überprüfungsantrag der Klägerin vom Juni 2008 blieb erfolglos. Am 9. Dezember 2015 beantragte sie die Feststellung eines höheren GdB. Nach Durchführung medizinischer Ermittlungen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 23. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2016 die Neufeststellung ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

1. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 30), 2. psychosomatische Erkrankung, psychische Minderbelastbarkeit (Einzel-GdB von 20), 3. chronisch-venöse Insuffizienz beider Beine, Funktionsstörung beider Kniegelenke (Einzel-GdB von 10), 4. Funktionsstörung des rechten Ellenbogengelenks, Funktionsstörung beider Hände, Lymphödem beider Arme, Karpaltunnelsyndrom (Einzel-GdB von 10), 5. Kopfschmerzen (Einzel-GdB von 10), 6. Ohrgeräusche (Einzel-GdB von 10), 7. Harnblasenentleerungsstörung (Einzel-GdB von 10).

Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat die Klägerin einen GdB von 50 begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Praktischen Arztes M vom 16. Januar 2017 mit ergänzender Stellungnahme vom 15. März 2017 eingeholt, der den Gesamt-GdB bei der Klägerin auf 40 eingeschätzt hat. Hierzu hat der Sachverständige folgende GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigun-gen ermittelt:

1. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 30, ab Ende 2015 von 20), 2. chronische Verstimmung (Dysthymie), Kopfschmerzen (Einzel-GdB von 20), 3. Funktionsstörung des rechten Ellenbogengelenks, Funktionsstörung der Hän-de, Schwellneigung beider Arme, Karpaltunnelsyndrom beidseits (Einzel-GdB von 10, seit Juli 2015 von 20), 4. chronisch-venöse Insuffizienz beider Beine, Lipödem der Beine, Funktionsstö-rung beider Kniegelenke (Einzel-GdB von 10), 5. Ohrgeräusche (Einzel-GdB von 10), 6. Verlust der Gebärmutter, Blasenentleerungsstörung (Einzel-GdB von 20).

Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. M gehört. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 1. Februar 2018 vorgeschlagen, bei der Klägerin einen GdB von 50 auf der Grundlage folgender Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen.

1. Depression, Neurasthenie, Schmerzsyndrom (Einzel-GdB von 40), 2. Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 30), 3. Funktionsstörungen der Hände, Arthrose, Karpaltunnelsyndrom beidseits (Einzel-GdB von 30), 4. Migräne (Einzel-GdB von 20), 5. Kniegelenksbehinderungen beidseitig (Einzel-GdB von 20), 6. chronisch-venöse Insuffizienz (Einzel-GdB von 10), 7. Tinnitus (Einzel-GdB von 10), 8. Blasenentleerungsstörung (Einzel-GdB von 10), 9. Narbe an der Schläfe nach Basaliom-OP (Einzel-GdB von 10).

Gestützt auf die medizinischen Ermittlungen hat das Sozialgericht mit Urteil vom 1. August 2018 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei bei der Klägerin keine wesentliche Änderung eingetreten, die eine Anhebung des GdB auf 50 rechtfertige.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. August 2018 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 23. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2016 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 9. Dezember 2015 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Ver-handlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil zu Unrecht abgewiesen. Denn die Klägerin hat ab Antragstellung am 9. Dezember 2015 Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 50.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VMG) heranzuziehen.

Die psychischen Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin sind mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Sie leidet, wie die Sachverständige Dr. M in ihrem Gutachten überzeugend und nachvollziehbar herausgearbeitet hat, an einer psychischen Erkrankung, die sich vor allem in der vermehrten Wahrnehmung der auch organisch bedingten Beschwerden – insbesondere der Schmerzen – äußert. Der Einschätzung des Sachverständigen M wird nicht gefolgt, da er die psychosomatische Erkrankung der Klägerin – die im Übrigen auch der Beklagte erkannte – nicht hinreichend be-rücksichtigt hat. Zu dieser chronischen Schmerzstörung ist auch der chronische Spannungskopfschmerz zu zählen. Der Senat hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass es sich um stärker behindernde Störungen handelt, die nach den Vorgaben in B 3.7 VMG mit einem Einzel-GdB von 30 zu belegen sind.

Das Wirbelsäulenleiden der Klägerin bedingt – bezogen auf die aus den fachärztlicherseits festgestellten degenerativen Veränderungen resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen – nach B 18.9 VMG durchgehend einen Einzel-GdB von 20.

Für die Behinderungen der Klägerin im Funktionssystem der oberen Extremitäten ist ab Antragstellung ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Nach der Untersuchung der Klägerin hat der Sachverständige M Funktionsstörungen des rechten Ellenbogenge-lenks und der Hände, eine Schwellneigung beider Arme und Karpaltunnelsyndrom beidseits festgestellt. Ferner hat er überzeugend dargelegt, dass im Bereich der Ge-lenksbeschwerden an den oberen Extremitäten im Juli 2015 eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Nach Auffassung des Senats, der insoweit dem Vorschlag des Sachverständigen folgt, rechtfertigen die zunehmenden Beschwerden der Hand- und Fingergelenke einen Einzel-GdB von 20 ab Antragstellung.

Die gutachterlich festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin im Funktionssystem der unteren Extremitäten, nämlich die chronisch-venöse Insuffizienz beider Beine, das Lipödem der Beine und die Funktionsstörung beider Kniegelenke, rechtfertigen nach den Vorgaben in B 18.14 VMG keinen höheren Einzel-GdB als 10. Entgegen der Einschätzung der Sachverständigen Dr. M kommt für die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke ein GdB von 20 nicht in Betracht, da bei der Klägerin weder relevante Bewegungseinschränkungen noch Reizerscheinungen festgestellt wurden.

Die von der Sachverständigen Dr. M festgestellte Migräne ist mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Eine mittelgradige Verlaufsform mit häufigeren Anfällen, jeweils einen oder mehrere Tage andauernd, die nach B 2.3 VMG für die Zuerkennung eines GdB von 20 vorausgesetzt wird, ist bei der Klägerin nicht nachgewiesen.

Der Tinnitus der Klägerin ist nach B 5.3 VMG mit einem Einzel-GdB von 10 anzusetzen. Erhebliche psychovegetative Begleiterscheinungen, die einen höheren GdB rechtfertigten, liegen bei der Klägerin nicht vor.

Zwischen den Beteiligten besteht – zu Recht – kein Streit, dass die Blasenentlee-rungsstörung bei der KIägerin nach B 12.2.4 VMG einen Einzel-GdB von 10 bedingt.

Für den Verlust der Gebärmutter im Jahre 1995 ist kein Einzel-GdB zu vergeben. Zwar befand sich die 1955 geborene Klägerin seinerzeit noch in jüngerem Lebensalter, jedoch ist ein noch bestehender Kinderwunsch nicht dokumentiert.

Ebenso wenig bedarf es des Ansatzes eines Einzel-GdB von 10 für die Narbe an der rechten Schläfe der Klägerin, da das 2017 entfernte Hautstück lediglich eine Fläche von 15 mm x 10 mm umfasst.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX a.F. bzw. § 152 Abs. 3 SGB IX n.F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach A 3c VMG ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist bei der Klägerin der Gesamt-GdB nicht höher als 40 festzusetzen.

Der Einzel-GdB von 30 für das seelische Leiden der Klägerin ist im Hinblick auf die Erkrankung der Wirbelsäule um einen Zehnergrad heraufzusetzen, da deren Auswir-kungen ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebensbetreffen. Eine weitere Erhöhung um einen Zehnergrad ist nach Überzeugung des Senats im Hin-blick auf die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden Funktionseinschränkungen der oberen Extremitäten trotz der bestehenden Überschneidungen entsprechend dem Vorschlag des Sachverständigen M geboten, da sich die Gelenkbeschwerden deutlich verschlimmert haben. Die übrigen Behinderungen wirken sich bei der Bildung des Gesamt-GdB nicht erhöhend aus. Denn leichte Funktionsbeeinträchtigungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtauswirkung, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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