S 4 KN 122/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 4 KN 122/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.11.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2000 verurteilt, der Klägerin Waisenrente bis zur Beendigung der Ausbildung als islamische Theologin zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Waisenrente.

Die am 19.10.1981 geborene Klägerin ist die Tochter des bei der Beklagten versicherten D, der am 04.11.1994 verstorben ist. Sie erhielt von der Beklagten Waisenrente bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.

Am 05.11.1999 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf Weiterzahlung der Waisenrente und legte zur Begründung eine Bescheinigung über die Teilnahme am Seminar für islamische Theologie beim Verband der islamischen Kulturzentren e.V. vor. Darin wurde bescheinigt, dass die Klägerin zur Zeit am Seminar für Theologie teilnehme. Es handle sich um ein Vollzeitstudium. Für die Teilnahme an diesem Seminar werde keine Vergütung geleistet. Der Lehrgang dauere vom 01.10.1999 bis voraussichtlich zum 31.07.2002. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Lehrgangs könne der Teilnehmer in den Moscheegemeinden als islamischer Theologe/Theologin angestellt werden.

Mit Bescheid vom 19.11.1999 lehnte die Beklagte die Weiterzahlung der Waisenrente mit der Begründung ab, es handele sich bei der Teilnahme am Seminar für islamische Theologie nicht um eine Schul- bzw. Berufsausbildung. Die Voraussetzungen für die Zahlung der Waisenrente seien ab dem 01.11.1999 daher nicht mehr gegeben.

Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 12.12.1999 Widerspruch ein. Der Verband der islamischen Kulturzentren e.V. sei eine Religionsgemeinschaft im Rahmen des Artikel 140 Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137 der Weimarer Verfassung. Dies sei bereits mit dem Schreiben vom 12.08.1994 vom Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen anerkannt. Nach Artikel 137 der Weimarer Verfassung sei eine Religionsgemeinschaft berechtigt, ihre Angelegenheiten selbständig zu erledigen und ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinden zu verleihen. Auch dieses sei bereits im Hinblick auf das Seminar für islamische Theologie vom Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen bestätigt worden. Bei der Berufsausbildung zum islamischen Theologen handle es sich um eine Berufsausbildung im Sinne des § 2 Abs. 2 BKGG. Der Ablauf der Ausbildung stelle sich wie folgt dar: Die Ausbildung fände durch die Lehrkräfte Montags bis Freitags von 09:00 h bis 16:00 h statt. Daraus resultiere, dass die Zeit und die Arbeitskraft des Auszubildenden überwiegend durch die Ausbildung in Anspruch genommen werde. Sie dauere in der Regel drei Jahre. Lehrgänge erfolgten insbesondere in den Fächern Arabisch (Arabische Grammatik, - Rhetorik), Qur an - Rezitation, Phonetik (Taawid), Kelam (islamische Theologie), Faekh (islamisches Recht) und Manteak (Logik). Darüber hinaus erfolgten Predigerseminare und praktische Anwendungen religiöser Riten. Es gäbe Zwischen- und Abschlussprüfungen, die durch Lehrkräfte zu bestimmten Zeitpunkten abgenommen würden. Nach der Ausbildung in der BRD bestünde auch die Möglichkeit, dass die Absolventen in der Türkei eine weitere einjährige Zusatzausbildung in islamischer Theologie und Pädagogik erhielten. Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung könnten die Absolventen sowohl im Verband der islamischen Kulturzentren (VIKZ), als auch in einer beliebig anderen islamischen Religionsgemeinschaft im Angestelltenverhältnis beschäftigt werden. Die Hauptaufgabe der islamischen Gelehrten läge insbesondere in der Erteilung von Religionsunterricht an Gemeindemitglieder und deren Kinder, Abhalten von Predigten, der Vornahme religiöser Betreuung der Gemeindemitglieder und der Durchführung des Dialogs mit ihrer nichtmuslimischen Nachbarschaft. Es sei auch zu erwähnen, dass solch eine Ausbildung bundesweit nur vom VIKZ angeboten werde. Aus alledem ergäbe sich, dass die Berufsausbildung feste rechtliche und allgemeine Grundlagen habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.03.2000 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Bei dem absolvierten Lehrgang zur islamischen Theologin handle es sich nicht um eine Berufsausbildung im Rahmen von Ausbildungsverordnungen - hier: Berufsausbildungsgesetz -. Es sei auch keine mit einem anerkannten Ausbildungsberuf vergleichbare Berufsausbildung. Die Ausbildung zum Theologen der Bundesrepublik Deutschland (Ev. oder kath. Theologe) erfolge im Rahmen eines mehrsemestrigen Schulstudiums. Der von der Klägerin absolvierte Lehrgang sei mit einer derartigen Ausbildung nicht vergleichbar. Die Unterrichtung erfolge ausschließlich in vereinsinternen Schulungen. Nach Beendigung des Lehrgangs sei eine Tätigkeit nur in den zum Verein gehörenden Einrichtungen möglich. Eine Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt scheide demnach aus. Demzufolge könne der abgeleistete Lehrgang nicht als Berufsausbildung anerkannt werden. Damit läge für die Dauer des besuchten Lehrganges Berufsausbildung nicht vor, so dass ein Anspruch auf Waisenrente über den 30.10.1999 hinaus nicht mehr bestünde.

Hiergegen hat die Klägerin binnen Monatsfrist Klage erhoben. Unter Wiederholung ihres Vorbringens im Widerspruchsverfahren hat sie darauf hingewiesen, dass die Ausbildung zur islamischen Theologin analog der Entscheidung über ein Praktikum auch als eine Berufsausbildung anzuerkennen sei, weil hier Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen vermittelt würden, die als Grundlagen für die Ausübung des angestrebten Berufes geeignet seien. Dies gelte unabhängig davon, ob das Praktikum nach der maßgeblichen Ausbildungs- oder Studienordnung vorgeschrieben sei. Daher scheide auch ein Vergleich mit der Ausbildung zur ev. oder kath. Theologin im Rahmen eines mehrsemestrigen Schulstudiums aus. Außerdem dauere die Ausbildung zur islamischen Theologin auch mindestens drei Jahre, welches der üblichen Ausbildungsdauer auf dem Arbeitsmarkt entspreche. Der Lehrgang zur islamischen Theologin diene der Erlangung der angestrebten beruflichen Qualifikation und damit stünde der Ausbildungscharakter im Vordergrund. Auch wenn die Ausübung des Berufes als islamische Theologin ein Beruf von und für Minderheiten sei, so sei diese den allgemeinen Richtlinien entsprechend als ein Beruf, der in Form einer Berufsausbildung bei einer anerkannten Religionsgemeinschaft erlernt werden könne, anzuerkennen und dementsprechend zu behandeln.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.11.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2000 zu verurteilen, ihr Waisenrente bis zur Beendigung der Ausbildung als islamische Theologin zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf ihren Widerspruchsbescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Gerichts- und Verwaltungsakten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne die Klägerin im Termin vom 31.10.2001 verhandeln und entscheiden, da die Klägerin auf diese Möglichkeit in der ihr ordnungsgemäß durch Postzustellungsurkunde vom 24.08.2001 zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

Die zulässige Klage ist auch begründet.

Die Klägerin ist durch den angegriffenen Bescheid vom 19.11.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2000 im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, denn es steht ihr ein Anspruch auf Weiterzahlung der Waisenrente über den Wegfallzeitpunkt hinaus bis zur Beendigung der Ausbildung als islamische Theologin zu.

Gemäß § 48 Abs. 2 SGB VI haben Kinder nach dem Tode eines Elternteiles Anspruch auf Waisenrente, wenn der verstorbene Elternteil die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Gemäß § 48 Abs. 4 SGB VI besteht der Anspruch längstens bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres oder bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wenn die Waise sich in Schulausbildung oder Berufsausbildung befindet oder ein freiwilliges soziales Jahr oder ein freiwilliges ökologisches Jahr leistet.

Da die Klägerin bereits das 18. Lebensjahr vollendet hat, besteht ein Anspruch auf Waisenrente bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres nur, wenn sich die Klägerin in Berufsausbildung befindet.

Diese Voraussetzungen sind gegeben. Berufsausbildung ist die einem zukünftigen, gegen Entgelt auszuübenden Beruf dienende Ausbildung, sofern sie Zeit und Arbeitskraft der Waise zumindest überwiegend beansprucht (BSG SozR 2200, § 1267 Nr. 19). Der Begriff ist so auszulegen, dass er den jeweiligen Zeitverhältnissen und der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen kann (BSG SozR Nr. 39 zu § 1267).

Unter Beruf in diesem Sinne ist jede für die Dauer vorgesehene Arbeit zu verstehen, die geeignet ist, in der Gesellschaft auftretende materielle oder auch geistige Bedürfnisse zu befriedigen, die außerdem der Existenzsicherung dient und bei der schließlich die Befähigung zu ihrer Ausführung durch eine Ausbildung erworben wird (BSGE 39, 213). Darunter fallen z.B. auch die Seelensorge, der Gottesdienst und Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Religion (vgl. Kassler-Kommentar-Gürtner, § 48 SGB VI, Randnr. 31).

Zur Ausbildung gehören Anleitung, Belehrung und Unterweisung durch sachkundige Personen (Ausbilder), die - wenn auch nicht unbedingt planmäßig, so doch der Zielsetzung nach - darauf ausgehen, dem Auszubildenden Kenntnisse und Fähigkeiten für die Ausübung des erstrebten künftigen Berufes zu vermitteln (BSG SozR Nr. 18 zu § 1267 RVO). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur herkömmliche oder rechtlich geordnete, förmliche Ausbildungsverhältnisse aufgrund eines schriftlichen Berufsausbildungsvertrages mit wechselseitigen Rechten und Pflichten erfasst werden. Die Vorschrift begünstigt auch davon abweichend gestaltete Ausbildungsverhältnisse. Die vom BSG zur Auslegung des Begriffs "Berufsausbildung" entwickelten Grundsätze bilden im Ergebnis ein für die Bereiche des Kindergeldgesetzes und des SGB VI maßgeblichen Begriff der Berufsausbildung, der nicht identisch ist mit gleichlautenden Begriffen, insbesondere des Berufsbildungsgesetzes. Berufsausbildung in diesem Sinne umfasst alle Bildungsmaßnahmen, die dazu dienen, die Fähigkeiten zu erlangen, die die Ausübung des zukünftigen Berufes ermöglichen. Dabei wird man unter "Fähigkeit" die erforderlichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen zu verstehen haben. Die Berufsausbildung umfasst sowohl den theoretischen Unterricht, als auch die Unterweisung in der Praxis.

Das Seminar für islamische Theologie, an der die Klägerin teilnimmt, erfüllt insoweit alle entsprechenden Voraussetzungen, um als Berufsausbildung im Sinne des § 48 SGB VI angesehen werden zu können. Es gibt einen ausführlichen Lehrplan zur Ausbildung der islamischen Theologen mit Unterteilung in drei Ausbildungsabschnitte, der auch eine Zwischen- und Abschlussprüfung vorsieht. Die Arbeitskraft wird durch die Ausbildung auch vollständig in Anspruch genommen, da die Ausbildung durch die Lehrkräfte Montags bis Freitags von 09:00 h bis 16:00 h stattfindet. Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung können die Absolventen nicht nur im VIKZ, sondern auch in einer anderen beliebigen islamischen Religionsgemeinschaft im Angestelltenverhältnis beschäftigt werden, so dass die Ausbildung zu einer Tätigkeit führt, die später gegen Entgelt ausgeübt wird. Die Tatsache schließlich, dass eine Vermittlung der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach Beendigung der Ausbildung nicht möglich ist, weil sie in aller Regel lediglich sowohl im Verband der islamischen Kulturzentren bzw. in einer anderen islamischen Religionsgemeinschaft tätig werden kann, spielt für die Frage der Anerkennung einer Ausbildung im Sinne des § 48 SGB VI keine Rolle. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass das Seminar für islamische Theologie der Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten für den später gegen Entgelt ausgeübten Beruf als islamische Theologin dient. Eine Berufsausbildung setzt lediglich voraus, dass ein echtes Ausbildungsverhältnis besteht, welches nach dem Vortrag der Klägerin nicht verneint werden kann. Ein Ausbildungsverhältnis erfordert keinen schriftlichen Ausbildungsvertrag, sondern ist schon dann anzunehmen, wenn ein sachkundiger Ausbilder bestellt ist, der den Auszubildenden anleitet, belehrt und ihn mit dem Ziel unterweist, ihm die für den erstrebten Beruf notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln (Berliner Kommentar, SGB VI, § 48 Randnr. 55). Der Ausbildungszweck muss somit im Vordergrund stehen und die Verwertung der Arbeitskraft in den Hintergrund treten.

Zu Recht hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass die Ausübung des Berufes als islamische Theologin zwar ein Beruf von und für Minderheiten ist, gleichwohl jedoch als ein Beruf anzuerkennen ist, der in Form einer Berufsausbildung bei einer anerkannten Religionsgemeinschaft erlernt werden kann und dementsprechend auch behandelt werden muss. Die Kammer hat keine Zweifel, dass es sich bei dem Seminar für islamische Theologie nach dem vorgelegten Ausbildungsplan, der sich in drei Ausbildungsabschnitte unterteilt, um eine Berufsausbildung im Sinne der dargestellten Grundsätze handelt. Nach den vorgelegten Unterlagen ist der Verband der islamischen Kulturzentren eine anerkannte islamische Religionsgemeinschaft, dem bundesweit 300 Gemeinden angeschlossen sind, so dass auch für die Klägerin eine faktische Möglichkeit besteht, bei dem Verband als hauptamtlich beschäftigte Predigerin bzw. Katechetin zu arbeiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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