S 11 AL 307/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 11 AL 307/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AL 70/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch - SGB III – über den 31.10.2015 hinaus.

Die Klägerin war nach Absolvierung ihres Studiums der Humanmedizin seit 1. Mai 2006 als Ärztin in verschiedenen Kliniken tätig, zuletzt seit 1.1.2013 im Kreiskrankenhaus C Stadt. In der Zeit vom 14.1.2014 bis 2.6.2015 bezog sie Krankengeld.

Die Klägerin meldete sich bei der Beklagten am 31.3.2015 zum 3.6.2015 arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. Im Antrag ergab sie u. a. an, sie sei seit dem 03.12.2013 bis "auf Weiteres" arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Fragen unter Nr. 2a im Antragsformular, ob sie alle zumutbaren Möglichkeiten nutzen werde, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden, bejahte die Klägerin. Unter Nr. 2e gab sie an, sie könne bestimmte Beschäftigung nicht mehr ausüben bzw. müsse sich aufgrund gesundheitlicher Gründe einschränken und sei nach einer ärztlichen Begutachtung bereit, sich im Rahmen des festgestellten Leistungsvermögens für die Vermittlung zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte veranlasste daraufhin eine amtsärztliche Begutachtung der Klägerin. In ihrem Gutachten vom 20.04.2015 kam Frau Dr. D. zu dem Ergebnis, bei der Klägerin würden gravierende Gesundheitsstörungen vorliegen, die eine Leistungsfähigkeit zur Ausübung einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würden. Im Gutachten heißt es abschließend": "Aktuell ist nicht mit einer Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit innerhalb der nächsten 6 Monate zu rechnen.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin daraufhin durch Bescheid vom 28.5.2015 Alg nach Maßgabe des § 145 SGB III ab 03.06.2015 für eine Anspruchsdauer von 360 Tagen, also bis längstens 02.06.2016 mit einem täglichen Leistungssatz in Höhe von 60,55 EUR. Im Bescheid war hinsichtlich der Übernahme der Beiträge zur Rentenversicherung auf die Befreiung der Klägerin von der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und den von der Klägerin gestellten Antrag auf Übernahme der Beiträge nach Maßgabe des § 173 SGB III hingewiesen worden.

Der Aufforderung der Beklagten folgend beantragte die Klägerin - über die Beklagte - bei der bei dem für sie dafür zuständigen Träger, dem Versorgungswerk der Landesärztekammer Hessen, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.

Die Beklagte wandte sich mit Schreiben vom 15.06.2015 an die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) und forderte diese auf zu prüfen, ob im Falle der Klägerin Leistungen zur Rehabilitation in Betracht kommen könnten oder ob eine dauerhafte Erwerbsminderung vorliege. Die DRV Bund teilte der Beklagten mit Schreiben vom 29.6.2015 mit, der Antrag sei zuständigkeitshalber an die BKK weitergeleitet worden.

Die Klägerin reichte bei der Beklagten am 26.07.2015 den Fragebogen "Zusatzblatt Sozialversicherung" ein, dem ein Bescheid der DRV Bund vom 16.04.2013 beigefügt war, wonach die Klägerin seit 01.01.2013 von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch - SGB VI - befreit war; als Versorgungseinrichtung war im Bescheid das Versorgungswerk der Landesärztekammer Hessen genannt worden. Beigefügt war ferner ein Schreiben des Versorgungswerks von Juni 2015 über die bislang erworbenen Rentenanwartschaften der Klägerin sowie die Höhe einer voraussichtlichen Altersrente.

Mit Schreiben vom 07.09.2015 teilte die Beklagte gegenüber der DRV Bund mit, nach § 145 Absatz 1 Satz 2 SGB III sei für die Feststellung - ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine dauerhafte Erwerbsminderung vorliege - die DRV Bund zuständig. Dies gelte unabhängig davon, ob die Versicherte zuletzt in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert bzw. von der Rentenversicherungspflicht befreit gewesen sei. Abschließend heißt es im Schreiben wörtlich: "Daher bitte ich, das Verwaltungsverfahren bezüglich der Feststellung nach § 145 Abs. 1 S. 2 SGB III einzuleiten und mir Ihre Entscheidung mitzuteilen."

Durch Änderungsbescheid vom 16.09.2015 bewilligte die Beklagte der Klägerin – unter Beibehaltung der sonstigen Daten – auch die Beiträge für die Altersvorsorge, die an das Versorgungswerk zu entrichten waren.

Mit Schreiben vom 12.10.2015 teilte die DRV Bund schließlich der Beklagten mit, nach den dort getroffenen Feststellungen liege bei der Klägerin ab dem 03.12.2013 bis 31.12.2017 ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor.

Durch den hier angefochtenen Bescheid vom 27.10.2015 hob die Beklagte sodann die Entscheidung über die Bewilligung von Alg ab 01.11.2015 mit der Begründung auf, die Klägerin könne nach den Feststellungen der DRV Bund nicht mindestens 15 Stunden wöchentlich arbeiten. Infolge dieser Feststellung sei eine Gewährung von Alg nach § 145 SGB III nicht mehr möglich.

Die Klägerin erhob dagegen Wiederspruch (Schreiben - ohne Datum sowie persönliche Vorsprache der Klägerin am 02.11.2015) und führte zur Begründung aus, die DRV Bund sei für sie als Sozialversicherungsträger nicht zuständig. Sie habe bereits Nachweise über die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht vorgelegt und mehrfach darauf hingewiesen, dass die DRV Bund in Ihrem Falle nicht zuständig sei, da sie von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreit sei. Zuständig sei für sie das Versorgungswerk der Landesärztekammer Hessen. Dort habe sie einen Antrag auf Feststellung der Berufsunfähigkeit gestellt, über den bislang noch nicht entscheiden sei.

Der Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 05.11.2015 u. a. mit der Begründung zurückgewiesen, Anspruch auf Alg nach Maßgabe des § 145 Abs. 1 SGB III habe aber auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos sei, weil sie wegen einer mehr als 6-monatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit keine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende versicherungspflichtige Beschäftigung unter den Bedingungen ausüben könne, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt üblich seien. Alg könne aber auch dann nur gezahlt werden, solange der Rentenversicherungsträger noch keine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung festgestellt habe. Nach der Mitteilung der DRV Bund könne die Klägerin wegen der Minderung ihrer Leistungsfähigkeit nur noch Beschäftigungen in einem Umfang von weniger als 15 Stunden wöchentlich ausüben. Auch in den Fällen, in denen der Arbeitslose vor Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert gewesen sei, weil er - wie die Klägerin - einer berufsständigen Versorgungseinrichtung angehöre – sei nach § 145 Absatz 1 Satz 2 SGB III der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zur Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit verpflichtet und das Feststellungsersuchen sei an diesen Träger zu richten. Dies könne wie vorliegend geschehen - durch eine gesonderte Mitteilung des Rentenversicherungsträgers geschehen. Der zuständige Rentenversicherungsträger - die DRV Bund - habe mit Schreiben vom 12.10.2015 eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung festgestellt. Aufgrund dieser Entscheidung habe die Klägerin keinen Anspruch mehr darauf, dass ihr trotz ihres eingeschränkten Leistungsvermögens Leistungen nach § 145 Abs. 1 SGB III gezahlt würden. Aus diesem Grund habe der Verwaltungsakt über die Bewilligung von Alg nach § 48 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden müssen, weil in den tatsächlichen bzw. rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen hätten, eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Mit der Feststellung der vollen Erwerbsminderung durch die DRV Bund sei eine Voraussetzung für die Gewährung von Alg weggefallen. Die Frage, ob oder ab wann tatsächlich eine Rente gezahlt werde, habe darauf keinen Einfluss.

Dagegen hat die Klägerin am 19.11.2015 Klage bei dem Sozialgericht in Darmstadt erhoben. Mit ihr begehrt sie weiterhin Alg über den 31.10.2015 hinaus und hat sich zur Begründung im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren bezogen. Ergänzend hat sie ausgeführt, das für Sie zuständige Versorgungswerk der Landesärztekammer Hessen habe bislang noch keine Entscheidung über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit getroffen. Die DRV Bund sei Ihrem Falle nicht zuständig, weshalb deren Feststellungen insoweit auch keine Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach Maßgabe des § 145 SGB III haben könnten.

Die Klägerin beantragt
den Bescheid der Beklagten vom 27.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld über den 31.10.2015 hinaus nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt
die Klage abzuweisen.

Sie hält die verwaltungsseits getroffene Entscheidung für rechtmäßig und sieht sich durch die Mitteilung der DRV Bund gegenüber dem Sozialgericht vom 05.01.2018 in ihrer Auffassung bestätigt.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundunterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzte (Dres. E. und F.) sowie durch Einholung der Entlassungsberichte der Kliniken, in denen die Klägerin in den letzten vier Jahren behandelt worden ist. Das Gericht hat ferner Beweis erhoben durch Anfrage bei der DRV Bund zu der Frage, woraus sich deren Zuständigkeit für Personen ergibt, die von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung bereit sind. Mit Schreiben vom 05.01.2018 hat die DRV Bund mitgeteilt, eine spezielle gesetzliche Regelung hierfür existiere nicht. Es handele sich insoweit aber um ein zwischen den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit abgestimmtes Verfahren. Nach dem Wortlaut des § 145 Abs. 1 Satz 2 SGB III seien nur die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung befugt, die Entscheidung über das Vorliegen von Erwerbsminderung zu treffen. Sie hätten die Entscheidung auch in den Fällen zu treffen, bei denen die sonstigen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente nicht vorliegen würden, z.B. weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien. Maßgebend für die Rechtsfolgen sei nämlich allein die Frage, ob eine vollständige Erwerbsminderung vorliege. Würden die Rentenversicherungsträger in den Fällen, in denen keine Verbindung der arbeitslosen Person zur gesetzlichen Rentenversicherung bestehe, das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit nicht prüfen, würde die Intention des § 145 SGB III nämlich ins Leere laufen. Die Bundesagentur für Arbeit müsste – da sie nicht befugt sei, eine verminderte Erwerbsfähigkeit verbindlich festzustellen – dann für die Personen, die nicht pflichtversichert in der gesetzlichen Rentenversicherung seien, andernfalls das Alg regelmäßig bis zum Ende der Anspruchsdauer zahlen. Beigefügt war dem Schreiben der DRV Bund ein Auszug aus dem Protokoll der Gremiensitzung "Arbeitsgruppe Erwerbsminderungsrente" der Träger der Rentenversicherung von Oktober 2017 sowie die ärztlichen Unterlagen, die seitens der DRV Bund zur Prüfung der Frage, ob bei der Klägerin eine Erwerbsminderung vorliegt, herangezogen worden waren.

Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird verwiesen den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der über die Klägerin bei der Beklagten geführten Leistungsarten (Kunden Nr. xxx1), die dem Gericht vorgelegen haben und auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung der Beratung gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere form-und fristgerecht bei dem örtlichen zuständigen Sozialgericht erhoben worden, §§ 57 Abs. 1, 78, 87 Abs. 2, 90 SGG - SGG –

Die Klage ist indes nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27.10.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2015 ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat darin zu Recht die Entscheidung über die Bewilligung von Alg ab 01.11.2015 aufgehoben. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Alg über den 31.10.2015 hinaus.

Entscheidungsgrundlage für die Gewährung von Alg war im Falle der Klägerin § 145 SGB III, denn die Leistungsfähigkeit der Klägerin war im Zeitpunkt der Antragstellung auf Alg prognostisch für einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten derart gemindert, dass sie versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt nicht auszuüben in der Lage gewesen ist. Auch war im Zeitpunkt der Antragstellung auf Alg eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung noch nicht festgestellt.

Nach § 145 Abs. 1 SGB III hat Anspruch auf Alg auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer mehr als 6-monatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung (noch) nicht festgestellt worden ist.

Die Feststellung, ob eine verminderte Erwerbsfähigkeit vorliegt, trifft nach dem Wortlaut des § 145 Abs. 1 SGB III der zuständige Träger der gesetzlichen Rentenversicherung. Nach § 145 Abs. 2 SGB III hat die Agentur für Arbeit die leistungsgeminderte Person unverzüglich aufzufordern, innerhalb eines Monats einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen.

Obwohl die Klägerin seit dem 01.01.2013 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit ist (Bescheid der DRV Bund vom 16.4.2013), ist gleichwohl für die Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit im Sinne des §§ 145 Abs. 1 SGB III allein die DRV Bund zuständig. Dies folgt zur Überzeugung des Gerichts nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch aus Sinn und Zweck der Vorschrift des § 145 SGB III, wie dies in dem Schreiben der DRV Bund vom 05.01.2018 an das Gericht dargelegt wurde sowie unter Berufung auf das Ergebnis der Gremiensitzung der Arbeitsgruppe "Erwerbsminderungsrenten" von Oktober 2017.

Während die Gewährung von Alg nach dem SGB III grundsätzlich sowohl objektive als auch subjektive Verfügbarkeit des Arbeitslosen voraussetzt (§ 138 SGB III), fingiert § 145 SGB III dann, wenn ein Arbeitsloser auf nicht absehbare Zeit in seiner Leistungsfähigkeit gemindert ist und er deswegen im zeitlichen Umfang nur noch geringfügige oder aber überhaupt keine arbeitsmarktüblichen Beschäftigungen mehr ausüben kann, die "objektive Verfügbarkeit", wenn der zuständige Träger der gesetzlichen Rentenversicherung (noch) keine Erwerbsminderung festgestellt hat. Zweck dieser auch als Nahtlosigkeitregelung bezeichneten Vorschrift ist es, zu verhindern, dass widersprüchliche Beurteilungen der Leistungsfähigkeit durch die Bundesagentur für Arbeit einerseits und den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung andererseits "auf dem Rücken des Versicherten ausgetragen werden" (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 09.09.1999 – B 11 AL 13/ 99 R -). Diese Wirkung der sog. "Nahtlosigkeitsregelung" begründet gegenüber der Bundesagentur eine Sperrwirkung, die es der Bundesagentur verbietet, die objektive Verfügbarkeit von Arbeitslosen wegen andauernder, nicht nur vorübergehender, Einschränkungen der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit zu verneinen, bevor der zuständige Träger der gesetzlichen Rentenversicherung Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch - SGB VI (§ 43 SGB VI) festgestellt hat.

Aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtordnung muss - solange und soweit es für die Personen, die von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sind, keine anderweitige spezielle gesetzliche Regelung gibt - auch zur Überzeugung des erkennenden Gerichts der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung auch bei diesen Personen, die – wie die Klägerin - von der Versicherungspflicht befreit sind, für die Prüfung zuständig sein, ob die für die Erwerbsminderungsrenten im Sinne des SGB VI notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind. Eine andere Sichtweise würde zu unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben bei der Prüfung, ob volle oder teilweise Erwerbsminderung vorliegt, führen, je nachdem ob die arbeitslose Person pflichtversichert oder – wie die Klägerin - von der Versicherungspflicht befreit ist. Würde die Prüfungskompetenz für die Frage, ob verminderte Erwerbsfähigkeit vorliegt, verschiedenen Versorgungswerken überlassen, wäre eine einheitliche Beurteilung der Frage, ob verminderter Erwerbsfähigkeit im Sinne des SGB VI vorliegt und damit eine einheitliche Klärung der Geltung der fiktiven Fortwirkung von objektiver Verfügbarkeit nicht gewährleistet. Dies würde der Intention des § 145 SGB III widersprechen, durch die gerade gewährleistet sein soll, dass Entscheidungen im System der allgemeinen Sozialversicherung auch einheitlich ergehen. Dieser Auffassung haben sich - wie durch das Schreiben der DRV Bund an das Gericht vom 05.01.2018 sowie durch das Ergebnis der Gremiensitzung der Arbeitsgruppe "Erwerbsminderungsrenten" in der Sitzung 3/17 vom 16. – 18. Oktober 2017 erkennbar – im Ergebnis die Träger der Sozialversicherung und die Beklagte angeschlossen und kann insoweit auch vom erkennenden Gericht zugrunde gelegt werden. Die DRV Bund hat darin zutreffend mitgeteilt, eine spezielle gesetzliche Regelung, aus der sich die Zuständigkeit der gesetzlichen Rentenversichersicherungsträger zur Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit auch bei nicht gesetzlich rentenversicherten Personen ergebe, nicht existiere. Möglich sei daher ein zwischen den Rentenversicherungsträgern und der Bundesagentur für Arbeit abgestimmtes Verfahren. Nach § 145 SGB III seien ausdrücklich nur die Rentenversicherungsträger befugt, die Entscheidung über das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit zu treffen und sie müssten und würden diese Entscheidung auch dann treffen, wenn z. B. die sonstigen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente nicht vorliegen würden, etwa weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Die Mitteilung des Argumentes, es spräche für eine Prüfpflicht der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung weil ansonsten die Intention des §§ 145 SGB III ins Leere laufen würde, wenn die Rentenversicherungsträger nicht befugt wären, das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit bei nicht rentenversicherten Personen zu prüfen, teilt das Gericht. Der Bundesagentur wäre es in diesen Fällen andernfalls verwehrt, eine verminderte Erwerbsfähigkeit verbindlich festzustellen und sie müsste das Alg zum Ende der Anspruchsdauer zahlen. Die Arbeitsgruppe "Erwerbsminderungsrenten" hat zu dieser Problematik – unter Hinweis auf die Kommentarliteratur - ausgeführt, § 145 Absatz 1 Satz 2 SGB III sei eine reine Zuständigkeitsnorm, in der allein die Zuständigkeiten zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit hinsichtlich der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit geregelt würde. Wenngleich allein aus dem Wortlaut nicht abgeleitet werden könne, dass die Rentenversicherungsträger auch bei nicht rentenversicherten Personen die Erwerbsfähigkeit prüfen müssten, so müsse doch aus Sinn und Zweck der Vorschrift folgen, dass die Kompetenz für die Feststellung, dass eine Person vermindert erwerbsfähig sei, allein bei den Rentenversicherungsträgern liege. Nur diese könnten verbindlich gegenüber der Bundesagentur entscheiden, ob die Voraussetzungen nach § 43 Absatz 1 S. 2 oder Abs. 2 Satz 2 SGB VI vorliegen würden. Die Bundesagentur sei insoweit nicht entscheidungsberechtigt, sondern ihrerseits im Rahmen des §§ 145 SGB III an die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über das Vorliegen bzw. das Fehlen von verminderter Erwerbsfähigkeit gebunden. Weiter heißt es in dem Schreiben der Arbeitsgruppe vom Oktober 2017 wörtlich: "In der Rechtsprechung und Literatur wird einhellig vertreten, dass selbst dann, wenn von vornherein feststeht, dass kein Anspruch auf Zahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit besteht, etwa weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, der Rentenversicherungsträger verpflichtet ist, die Leistungsfähigkeit der betreffenden Person zu prüfen.Entscheidend für die Rechtsfolgen des §§ 145 Abs. 1 SGB III ist nämlich nicht, ob die für die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit notwendigen Voraussetzungen vorliegen, sondern, ob Erwerbsminderung vorliegt. Im Ergebnis ist es daher unerheblich, weshalb ein Rentenanspruch nicht gegeben ist. Für eine Prüfpflicht der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung spricht auch, dass ansonsten die Intention des §§ 145 SGB III ins Leere liefe, wenn die Rentenversicherungsträger die Erwerbsfähigkeit bei nicht rentenversicherten Personen nicht prüfen. Denn die Bundesagentur kann eine verminderte Erwerbsfähigkeit nicht verbindlich feststellen und müsste das Arbeitslosengeld bis zum Ende der Anspruchsdauer zahlen." Abschließend wurde als Beratungsergebnis festgestellt: "Die Rentenversicherungsträger haben die Erwerbsminderung nach § 145 SGB III auch dann zu prüfen, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente nicht erfüllt sind oder die arbeitslose Person nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist".

Dieser Auffassung schließt sich das erkennende Gericht nach eigener Prüfung an. Klar ist der Wortlaut des § 145 SGB III insoweit, dass die Beklagte nicht verbindlich über das Vorliegen (dauerhafter) Erwerbsminderung entscheiden darf. Demnach kann dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Vorschrift nur genügt werden, wenn insoweit die letzte Entscheidungsmacht - auch in Fällen wie dem vorliegenden - bei den Trägern der Rentenversicherung liegt.

Nachdem die DRV Bund festgestellt hatte (Schreiben an die Beklagte vom 12.10.2014), dass die Klägerin voraussichtlich bis 2017 nicht in der Lage war und sein wird, eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben, ist eine Feststellung im Sinne des § 145 SGB III getroffen worden und die Sperrwirkung des § 145 SGB III (Fiktion der objektiven Verfügbarkeit) entfallen. Die Beklagte musste daher die Entscheidung über die Bewilligung von Alg mit Wirkung für die Zukunft ab 01.11.2015 aufheben.

Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf Gewährung von Alg über den 31.10.2015 hinaus, weshalb die Klage abzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gemäß §§ 143, 144 SGG ist die Berufung zulässig.
Rechtskraft
Aus
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