L 9 B 8/04 KR ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 72 KR 1600/03 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 B 8/04 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 05. November 2003 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Versorgung mit einem den Wirkstoff Methylphenidat enthaltenden Medikament im Rahmen des so genannten Off-Label-Use sowie die Gewährung von Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren.

Die 1947 geborene, von Sozialhilfe lebende Antragstellerin leidet nach den Feststellungen des Facharztes für Psychiatrie - Psychotherapie - Dr. G T an chronischen Depressionen, einer Panikstörung mit Agoraphobie und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die im Jahre 2000 bei ihr diagnostiziert wurde. Zuvor war sie wegen ihrer Depressionen und Angst-/Panikstörungen wiederholt auch stationär psychiatrisch behandelt worden. Nachdem die Diagnose ADHS gestellt worden war, erhielt die Antragstellerin im Rahmen vertragsärztlicher Versorgung ein den Wirkstoff Methylphenidat enthaltendes Medikament. Arzneimittel mit diesem Wirkstoff (u.a. "Ritalin", "Medikinet" und "Equasym") sind arzneimittelrechtlich lediglich zur Therapie des ADHS bei Kindern sowie zur Therapie von Narkolepsie bei Erwachsenen zugelassen.

Am 24. Februar 2003 ging bei der Antragsgegnerin ein Schreiben des die Antragstellerin behandelnden Arztes ein, in dem die Antragsgegnerin aufgefordert wurde, einen Verzicht auf Regressansprüche für den Fall der Behandlung der Antragstellerin mit einem Medikament, welches den Wirkstoff Methylphenidat, Fenetyllin, Amfetaminsulfat oder Amfetaminil enthält, zu erklären. Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e.V. (MDK) lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 19. März 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. August 2003 die Übernahme der Kosten für ein methylphenidathaltiges Arzneimittel ab. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei eine Kostenübernahme für die im Rahmen des Off-Label-Use erfolgende medikamentöse Behandlung hier nicht möglich.

Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die Antragstellerin, die zugleich Klage gegen die genannten Bescheide erhoben hat, die Verpflichtung der Antragsgegnerin erstrebt, sie mit einem Medikament zu versorgen, das den Wirkstoff Methylphenidat, Fenetyllin, Amfetaminsulfat, dl-Amphetamin oder Amfetaminil enthält. Ferner hat sie beantragt, ihr für das Verfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin H beizuordnen. Zur Begründung hat sie angeführt, dass sie vor ihrer Behandlung mit der Stimulanz Methylphenidat mangels Konzentration nicht mehr in der Lage gewesen sei, ihren Haushalt allein zu bewältigen bzw. soziale Kontakte zu pflegen. Auch habe die fehlende Konzentration dauernd zu kleineren Unfällen geführt. Weiter sei sie nicht kommunikationsfähig gewesen, da sie einerseits nicht habe zuhören können, andererseits aber unter dauerndem Rededruck gestanden habe. Ferner habe sie unter Antriebslosigkeit und chronischer Tagesmüdigkeit gelitten. Seit der Behandlung mit Methylphenidat habe sich ihr gesundheitlicher Zustand erheblich verbessert. Sie könne sich wesentlich besser konzentrieren, was ein erhöhtes Maß an Selbständigkeit zur Folge habe. Sie sei wieder in der Lage, Dinge des Alltags wie Einkäufe und Terminabstimmungen selbständig in die Hand zu nehmen.

Mit Beschluss vom 05. November 2003 hat das Sozialgericht Berlin die Anträge zurückgewiesen. Es könne offen bleiben, ob ein vorläufiges Regelungsbedürfnis überhaupt bestehe, weil nach dem Attest des behandelnden Arztes nicht ersichtlich sei, dass die Antragstellerin nicht einstweilen mit anderen Mitteln behandelt werden könne, um schwere lebensbedrohliche oder die Lebensqualität erheblich beeinträchtigende Zustände zu vermeiden. Auf jeden Fall komme eine einstweilige Anordnung schon deshalb nicht in Betracht, weil bei summarischer Prüfung eine Klage in der Hauptsache keine Aussicht auf Erfolg haben könne. Hinsichtlich der Wirkstoffe Fenetyllin, Amfetaminsulfat, dl-Amphetamin oder Amfetaminil sei die Klage unzulässig, weil die Antragsgegnerin insoweit noch keine ablehnende Entscheidung getroffen habe. Im Übrigen folge die Kammer der Argumentation der Antragsgegnerin. Die Voraussetzungen für die begehrte medikamentöse Versorgung lägen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht vor. Unabhängig davon, dass die zwingende Notwendigkeit des Einsatzes eines methylphenidathaltigen Mittels bisher nicht ausreichend belegt sei, könne das gewünschte Arzneimittel schon deshalb nicht zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden, weil dessen Wirksamkeit bisher nicht in dem erforderlichen Umfang nachgewiesen worden sei. Auch der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe sei unbegründet. Die Rechtsverfolgung biete aus den vorgenannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Mit ihrer am 05. Januar 2004 eingelegten Beschwerde hat sich die Antragstellerin gegen den ihr am 08. Dezember 2003 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts gewandt, soweit sich dieser auf die Versorgung mit einem Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat und den Prozesskostenhilfeantrag bezieht. Sie sei nicht einstweilen mit anderen Mitteln behandelbar, weil für die Therapie des ADHS bei Erwachsenen in Deutschland kein einziges Medikament zugelassen sei, das gegen die zu Grunde liegende neurobiologische Störung wirke. Psychotherapien oder die Gabe von Antidepressiva genügten dem Behandlungsziel nicht, da sie die Krankheitsursache nicht beeinflussten. Weiter gehe sie davon aus, dass sowohl die Notwendigkeit des Einsatzes von Methylphenidat als auch seine Wirksamkeit in dem erforderlichen Umfang nachgewiesen worden seien. Dass die Arzneimittelhersteller keine Erweiterung der Zulassung beantragt hätten, könne ihr nicht vorgehalten werden. Im Übrigen sei ein anhängiges Zulassungsverfahren auch nicht zwingend erforderlich für die Versorgung mit einem Medikament im Wege des Off-Label-Use.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 05. November 2003 aufzuheben, die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie mit einem den Wirkstoff Methylphenidat enthaltenden Medikament zu versorgen, und ihr unter Beiordnung von Rechtsanwältin H Prozesskostenhilfe für das einstweilige Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht Berlin zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den angegriffenen Beschluss für zutreffend. Ergänzend weist sie darauf hin, dass ihre Leistungspflicht schon deshalb ausscheide, weil der die Antragstellerin behandelnde Arzt kein Medikament auf Kassenrezept verordnet habe, die Antragstellerin vielmehr eine Blanko-Kostenübernahmeverpflichtung für ein ganzes Sortiment von Medikamenten mit unterschiedlichen Wirkstoffen begehre. Vorliegend wolle sich der behandelnde Arzt seine Verordnungspraxis im Vorhinein von der Antragsgegnerin absegnen lassen. Die Verordnung von Arzneimitteln liege jedoch allein in der Verantwortung des Vertragsarztes; die Genehmigung von Arzneimittelverordnungen durch die Kassen sei unzulässig.

Das Gericht hat die Aufsätze von Martin Winkler "ADD bei Erwachsenen", von J. Fritze und M. Schmauß für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): "Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat" (erschienen in: Nervenarzt 73 (2002) 1210 ff.) sowie von D. Ebert, J. Krause und C. Roth-Sackenheim: "ADHS im Erwachsenenalter - Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN" (erschienen in: Der Nervenarzt 10/2003, 939 ff.), das Eckpunktepapier vom 28. und 29. Oktober 2002 des Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie das Schreiben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 03. September 2002 an das Sozialgericht Berlin im Verfahren S KR seiner Entscheidung zur Grunde gelegt.

II.

Die Beschwerde der Antragstellerin ist gemäß §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, jedoch nicht begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin bewertet die Sach- und Rechtslage zutreffend. Die Antragstellerin hat weder einen Anspruch auf vorläufige Versorgung mit einem den Wirkstoff Methylphenidat enthaltenden Medikament noch steht ihr für das einstweilige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe zu.

1. Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht werden. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheitert bereits daran, dass mangels ärztlicher Verordnung nicht hinreichend konkretisiert ist, welches Medikament die Antragstellerin überhaupt begehrt, das Gericht mithin nicht in der Lage ist, eine hinreichend konkrete, durch die Antragsgegnerin erfüllbare oder gegebenenfalls im Wege der Vollstreckung gegen sie durchsetzbare Anordnung auszusprechen. Zwar ist dann, wenn es in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren um die Versorgung eines Versicherten mit einem Medikament im Rahmen des Off-Label-Use geht, entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht unbedingt eine kassenärztliche Verordnung erforderlich (vgl. BSGE 89, 184 ff.). Auch in diesem Bereich setzt jedoch die Versorgung mit einem Medikament im Hinblick auf die vertragsärztliche Verantwortung für die Versorgung der Versicherten nach §§ 15, 72, 73, 76 und 106 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) und die erforderliche Konkretisierung des Leistungsanspruchs des Versicherten aus § 27 SGB V durch den Arzt die Vorlage einer zeitnah zum vorläufigen Rechtsschutzverfahren ausgestellten, vom Antragsteller in diesem Verfahren vorgelegten und noch nicht zur Beschaffung des streitbefangenen Medikaments benutzten (privatärztlichen) Verordnung durch einen Vertragsarzt voraus. Dabei muss immer dann, wenn der behandelnde Arzt das einzusetzende Arzneimittel nur unter seiner Wirkstoffbezeichnung verordnet oder ein anderer Fall des § 129 SGB V vorliegt, neben der Wirkstoffbezeichnung auch die Dosis bezogen auf eine bestimmte Zeiteinheit, in der Regel pro Tag, und die Dauer der Anwendung bestimmt werden. Dies gilt in besonderem Maße in Fällen wie dem vorliegenden, in dem es sich um die Versorgung eines Versicherten mit einem dem Betäubungsmittelgesetz unterliegenden Wirkstoff handelt. Die Antragstellerin hat vorliegend jedoch - auch auf Nachfrage des Gerichts - keine Verordnung vorgelegt. Soweit ihr Arzt in dem im Februar 2003 bei der Antragsgegnerin eingereichten Schreiben um Verzicht auf Regressansprüche im Falle der Verordnung von Medikamenten mit verschiedenen Wirkstoffen gebeten hat, wird dies den dargelegten Anforderungen nicht ansatzweise gerecht, so dass es bereits vor diesem Hintergrund an einem Anordnungsanspruch fehlt. Auch im Übrigen lassen sich jedoch weder durch eine Folgenabwägung noch durch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG feststellen.

Die Sozialgerichte dürfen sich bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Vielmehr verlangt Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache immer dann, wenn Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile drohen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet {vgl. BVerfGE 79, 69 ff. (74); 94, 166 ff. (216), BVerfG NJW 2003,1236 f.}. Sind die Sozialgerichte jedoch durch eine Vielzahl anhängiger entscheidungsreifer Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236 f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 Rdnr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. NZS 2000, 510 ff.). Hierbei ist insbesondere die in Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen {vgl. BVerfGE 56, 54 ff. (73)}. Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, dabei aber die ebenfalls der Sicherung des Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung {vgl. BVerfGE 68, 193 ff. (218)} nicht aus den Augen verlieren dürfen. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgenabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtsschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz sowie dem sich aus Artikel 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht der Antragstellerin - selbst wenn sie eine entsprechende ärztliche Verordnung vorlegen sollte - bei einer Folgenabwägung kein Anordnungsanspruch auf sofortige Bewilligung des von ihr begehrten methylphenidathaltigen Medikaments zu. Auch wenn man davon ausgeht, dass das ADHS überhaupt eine so schwerwiegende Erkrankung darstellt, dass eine einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten zur Beschaffung eines methylphenidathaltigen Arzneimittels im Rahmen einer Folgenabwägung möglich wäre, obwohl zur Behandlung der Erkrankung abhängig vom Ausprägungsgrad, von den psychischen und sozialen Beeinträchtigungen sowie der Relevanz der Symp-tome im Kontext vorhandener Ressourcen unter Umständen keine oder eine andere Behandlung (durch Psychotherapien oder andere Medikamente) in Betracht käme (vgl. ADHS im Erwachsenenalter-Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN, Der Nervenarzt 2003, 939 ff.), führt die Versagung des genannten Medikamentes für die Antragstellerin nicht zu so schwerwiegenden und unzumutbaren Folgen, dass nur die vorläufige Kostenübernahme in Betracht käme. Die Antragstellerin ist unstreitig nicht lebensbedrohlich erkrankt. Weiter leidet sie nicht an einer bei ihr plötzlich aufgetretenen Erkrankung, sondern bereits seit ihrer Kindheit an ADHS. Sie hat bisher den Großteil ihres Lebens ohne Versorgung mit einem Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat verbracht. Die von ihr geschilderten Symptome beeinträchtigen sie zweifelsohne in ihrer Lebensführung, stellen jedoch keine schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigung dar. Es ist nach ihren Angaben zwar zu befürchten, dass sich ohne eine Behandlung mit einem Methylphenidat enthaltenden Medikament insbesondere ihre Konzentration und ihre Kommunikationsfähigkeit verschlechtern, ihre Antriebslosigkeit und ihre Tagesmüdigkeit mit negativen Konsequenzen für ihre Selbständigkeit verstärken werden. Dass diese Folgen ihrer gesundheitlichen Störung aber ein Ausmaß annehmen könnten, das es rechtfertigen würde, sie mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, wie sie das Bundesverfassungsgericht gefordert hat, auf eine Stufe zu stellen, ist nicht ersichtlich. Weiter soll die Einnahme eines Methylphenidat enthaltenden Medikaments nach den Angaben der Antragstellerin eine Besserung des Beschwerdebildes bewirkt haben. Es ist vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich, warum bei vorübergehender Nichtgewährung und möglicherweise erst infolge des Hauptsacheverfahrens wieder erfolgender Versorgung mit einem entsprechenden Medikament nicht ein vergleichbarer Effekt erreicht werden sollte. Dass der Antragstellerin damit schwere, ihr unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, vermag der Senat nicht zu erkennen. Da die Antragstellerin offenbar allein lebt und ihren Lebensunterhalt aus Mitteln der Sozialhilfe bestreitet, drohen ihr durch die Vorenthaltung des begehrten Medikamentes auch keine schwerwiegenden Beeinträchtigungen im familiären Bereich oder der Verlust des Arbeitsplatzes, die im Rahmen der Folgenabwägung für sie ins Gewicht fallen könnten.

Dass die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit obsiegen, ihr mithin voraussichtlich ein Anspruch auf Versorgung mit einem Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat zugesprochen werden wird, vermag der Senat auch nach einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten ihrer Klage derzeit nicht festzustellen. Im Gegenteil erscheint ein Obsiegen eher unwahrscheinlich. Unstreitig begehrt die Antragstellerin eine Therapie mit einem für die bei ihr diagnostizierte Erkrankung - ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom im Erwachsenenalter - arzneimittelrechtlich nicht zugelassenen Wirkstoff. Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 19. März 2002 (B 1 KR 37/00 R - BSGE 89, 184 ff.) die Voraussetzungen, unter denen die Krankenkassen zur Versorgung der Versicherten mit Medikamenten im Rahmen des Off-Label-Use verpflichtet sind, klargestellt. Danach kommt die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet nur in Betracht, wenn es 1.) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3.) auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann.

Nach dem zur Zeit vorliegenden Prozessstoff ist zur Überzeugung des Senats jedenfalls die dritte der genannten Voraussetzungen nicht gegeben. Nach der Datenlage besteht nicht die begründete Aussicht, dass mit einem Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat der gewünschte Behandlungserfolg erzielt werden kann. Da die Erweiterung der Zulassung unstreitig nicht beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III nicht veröffentlicht sind, wäre dies nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur anzunehmen, wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht. Dies aber ist entgegen der Ansicht der Antragstellerin - wie die vom Senat in das Verfahren eingeführten Unterlagen zeigen - gerade nicht der Fall. Der Aufsatz von J. Fritze & M. Schmauß von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Nervenarzt 73 (2002) 1210-1212) ist zwar deutlich von dem Bestreben gekennzeichnet, die Vergabe von Methylphenidat enthaltenden Medikamenten an Erwachsene, die an ADHS leiden, zu rechtfertigen. Zugleich verweisen die Autoren jedoch ausdrücklich darauf, dass nur wenige Studien zur Anwendung dieser Mittel bei Erwachsenen vorliegen und diese durchweg an methodischen Mängeln leiden. Daran hat sich in der Folgezeit offenbar nichts entscheidend geändert. Denn auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte führt in seinem Schreiben vom 03. September 2003 an den Vorsitzenden der. Kammer des Sozialgerichts Berlin im Verfahren S KR ausdrücklich aus, dass für Methylphenidat zwar klinische Erfahrungen und auch diverse veröffentliche Berichte von klinischen Studien vorliegen, diese aber den regulatorischen Anforderungen nicht voll genügen. Weiter ist zu berücksichtigen, dass bislang vor allem keine publizierten Daten zu Effekten und Nebenwirkungen einer medikamentösen Langzeittherapie existieren (ADHS im Erwachsenenalter, Der Nervenarzt 2003, 939, 943). Vor diesem Hintergrund stellte sich die Behandlung der Antragstellerin mit einem den Wirkstoff Methylphenidat enthaltenden Arzneimittel im jetzigen Stadium als individueller Heilversuch dar. Für diesen aber lässt das geltende Recht weder bei gänzlich fehlender arzneimittelrechtlicher Zulassung des Medikaments (vgl. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 7, BVerfG NJW 1997, 3085) noch im Bereich der zwar grundsätzlichen, sich jedoch nicht auf das konkrete Krankheitsbild erstreckenden Zulassung, also im Bereich des Off-Label-Use die Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenkasse zu (vgl. BSGE 89, 184 ff., 191).

Mangels Anordnungsanspruchs besteht vorliegend auch kein Anordnungsgrund. Der Antragstellerin kann zugemutet werden, ihren Anspruch im Klageverfahren geltend zu machen. Das Absehen von vorläufigem Rechtsschutz führt nicht zu wesentlichen Nachteilen in Bezug auf den Anspruch oder gar zu irreparablen Schäden. Wie bereits oben ausgeführt ist die gesundheitliche Situation der Antragstellerin nicht dergestalt, dass ihr vorläufiger Rechtsschutz nur bei sicherer Aussichtslosigkeit ihrer Klage verwehrt werden kann bzw. unabhängig von den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu gewähren ist. Vielmehr ist der Grad der Erfolgsaussicht für die Interessenabwägung gerade von wesentlicher Bedeutung. Diese kann mangels günstiger Erfolgsprognose in Bezug auf das Hauptsacheverfahren jedoch nicht zu Gunsten der Antragstellerin ausgehen. Dass die wirtschaftlichen Folgen für die Antragsgegnerin auch im Falle eines späteren endgültigen Unterliegens der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren angesichts der verhältnismäßig geringen Kosten der methylphenidathaltigen Medikamente eher gering wären, ist vor diesem Hintergrund irrelevant.

2. Nach alledem hat das Sozialgericht Berlin auch die Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin H mangels hinreichender Erfolgsaussicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu Recht abgelehnt (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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